Zum Liederabend am 21. April 1987 in Hamburg  


     Die Welt, Hamburg,  23. April 1987     

Ovationen für Dietrich Fischer-Dieskau bei seinem Schumann-Liederabend

Auf der Höhe seiner Meisterschaft

     

Die große Gemeinde Dietrich Fischer-Dieskaus hatte keinen Grund zur Betrübnis. Auch nach der vor Wochen kurzfristig nötig gewordenen Absage brauchte das Projekt der Staatsoper nicht begraben zu werden, den großen Liedsänger noch in dieser Saison für mehr als nur ein Konzert nach Hamburg zu holen. Nur das Hugo-Wolf-Programm mußte aus Termingründen der neuen Planung zum Opfer fallen.

Im ersten, allein Robert Schumann gewidmeten Musikhallen-Konzert (der Gustav-Mahler-Abend mit Liedern aus "Des Knaben Wunderhorn" folgt in der kommenden Woche) schienen die Zugaben als geradezu unverzichtbarer Bestandteil des Ganzen fast ins Programm "einkomponiert". Nach der Naturpoesie, dem Leise-Verwunschenen des Eichendorff-Liederkreises op. 39, nach dem "Volkston", der Trauer und Entsagung der verinnerlichten Justinus-Kerner-Lieder tat sich hier in einigen Heinrich-Heine-Vertonungen eine weitere Ausdruckswelt auf.

Spöttische, grimassenschneidende Spukgestalten – der parodistische Unterton ist unüberhörbar – mischen sich in den Traum von der Liebsten ("Mein Wagen rollet langsam"). Hier, nicht zuletzt auch in der Heine-Vertonung "Wir saßen am Fischerhause", durfte sich Fischer-Dieskau, mit Ovationen wahrhaftig überschüttet, freier, gelöster geben als in den meisten Liedern des ausgedruckten Programms.

Doch zunächst Schumanns einzigartiger Eichendorff-Liederkreis, dessen Magie des Leisen, Traumhaft-Irrealen mit einem unwahrscheinlichen Reichtum an Pianissimo-Zwischenfarben zum Klingen gebracht war. Jedes Lied des Zyklus, durchweg eine kleine Welt für sich, war hier aufs subtilste ausgeformt: die weithin wie unter einen Bogen gespannte "Mondnacht", das Selbstgespräch der mignonhaften Angelina in seinem leise-beseligten Scherzando-Charakter ("Es weiß und rät es doch keiner"), die Ballade von der Hexe Lorelei oder das verwunschene Stimmungsbild "Auf einer Burg", bei dem die bewußt "schwarze" Einfärbung tiefer Töne das Ihre dazutat, die Vision des seit vielen hundert Jahren auf seiner Burg schlafenden Ritters klangsuggestiv einzufangen.

Nach der Pause dann als zweite große Liedgruppe die zwölf Lieder nach Gedichten von Justinus Kerner. In seinem vor Jahren erschienenen Schumann-Buch hatte sich Fischer-Dieskau auch mit der Feder für dieses häufig unterschätzte op. 35 starkgemacht und dabei eine bemerkenswerte Vorahnung der "Walküre"-Todesverkündigung in dem übrigens von Hugo Wolf ganz besonders geschätzten Lied "Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes" aufgespürt.

Nur stellenweise, wie im "Wanderlied", bricht in diesen Kerner-Vertonungen ein hemdsärmelig-frischer Liedton durch. Typischer für den Zyklus scheint da schon ein Stück wie die altertümelnde Ballade von dem "Frommen Mägdelein", das sich als Nonne dem Himmel weiht – ein vielleicht etwas zu stimmungsseliges Lied, dem Fischer-Dieskau durch raffiniert eingesetzte Kopftöne, durch die Imitation einer Kinderstimme ("Zur Nonne weiht mich arme Maid") zusätzlichen Reiz abgewann. Eindrucksvoll dann besonders der Schluß des Zyklus: "Stille Tränen" mit seinen ausschwingenden, hier herrlich strömend gesungenen Kantilenen und dem wieder ins Piano zurück sinkenden Epilog der beiden letzten, übrigens auf dieselbe Melodie komponierten Lieder.

Manchen Unkenrufen zum Trotz zeigte sich Dietrich Fischer-Dieskau an diesem Abend cum grano salis auf der Höhe seiner Meisterschaft. Der überaus herzliche Beifall jedenfalls ging durchaus in Ordnung. Ein Beifall, der natürlich auch Hartmut Höll galt, dem bei allem pianistischen Können, bei aller Anschmiegsamkeit mitunter schon etwas zu unauffälligen Partner am Flügel.

Hans Christoph Worbs

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     Hamburger Abendblatt, 23. April 1987     

Dietrich Fischer-Dieskau in der Musikhalle stürmisch gefeiert

Unvergleichliche Deklamationskunst

    

So ausdauernd gefeiert und mit Bravo-Rufen umjubelt wurde Dietrich Fischer-Dieskau nach seinem Schumann-Abend in der Musikhalle, daß er sich, glücklich und heiter, erst nach der fünften Zugabe verabschiedete. Gerade in Hamburg scheint der berühmteste Liedersänger unseres Jahrhunderts zum Idol der Jugend geworden zu sein, kamen doch (neben den üblichen, Blumen hinaufreichenden Verehrerinnen) viele Mädchen und Jungen aufs Podium, um dem Künstler und seinem Begleiter Hartmut Höll mit Handschlag für das wunderbare Erlebnis zu danken.

Wie oft man auch den Eichendorff-Liederkreis schon von ihm gehört hat: Vieles war wieder wie eine Offenbarung. Die Augenblicke restloser Überwältigung aber häuften sich im zweiten Teil, in den Liedern nach Gedichten von Justinus Kerner. Nach dem emphatischen Fortissimo-Ausbruch in "Lust der Sturmnacht" und der herzzerreißenden Verzweiflung in "Stirb, Lieb und Freud" geriet man völlig in den Bann seiner unvergleichlichen Deklamationskunst: jeder Gedanke ein Bekenntnis, glühend und hymnisch, ernst und verklärt.

Unglaublich, wie sich seine künstlerischen Darstellungsmittel im Laufe der Jahrzehnte noch verfeinert haben und doch irgendwie "natürlicher" geworden sind. Im ersten Liederkreis schien es, als scheue er den dynamisch allzu riskanten Stimmeinsatz; doch gerade mit den gehauchten, überirdisch zarten Pianissimo-Kantilenen intensivierte er die Aufmerksamkeit des Publikums am stärksten. Von Anfang an faszinierte seine unheimliche Gestaltungsbesessenheit. Atemlos hörte man ihm zu, wie er jede Verszeile, im Rhythmus völlig frei, sensibel ausformulierte und glaubte, unmittelbar auf den Grund des Geheimnisses vertonter Lyrik gestoßen zu sein. Das einzig Störende: die vielen Transpositionen, die den Klavierbegleiter oftmals in den nur noch grummelnden Baß-Bereich verwiesen.

Sabine Tomzig

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