Zum Konzert am 12. Januar 1987 in München


Süddeutsche Zeitung, 14. Januar 1987

Sanfter Hinweis auf Hindemith

Das Walt-Whitman-Requiem im 4. Münchner Akademie-Konzert

Im öffentlichen Bewußtsein existiert diese Komposition nicht. Weil manche Arbeiten des späten Hindemith zu einer gewissen Redseligkeit tendieren, weil ihr Temperament von einer gewissen Querfeldein-Naivität angekränkelt scheint und ihre Lyrik von Harmlosigkeit - man könnte ebenso "Die vier Temperamente" anführen wie "Die Harmonie der Welt" -, blieb das umfängliche, anspruchsvolle Requiem zwar nicht ungespielt, aber doch im eigentlichen Sinne unentdeckt.

Darum schulden wir Wolfgang Sawallisch nicht nur höflichen, sondern herzlichen Dank für ein Konzert, das bewußtseinsverändernd wirken müßte, wenn das Gesetz der Erhaltung der Energie auch im Kulturbetrieb funktionierte. Denn Sawallisch hat mit kompetenten Solisten - die Mezzosopranistin Marjana Lipovsek gehört mittlerweile zu den großen Sängerinnen unserer Gegenwart, ihre Technik ist makellos, ihr Timbre wunderschön, der Ausdruck innig; Dietrich Fischer-Dieskau imponierte mit kräftiger Tiefe, auch der Höhe war keinerlei Überspannung oder Flackern anzumerken - demonstriert, daß es eben nicht nur die mit Recht immer wieder aufgeführten großen Requiem-Vertonungen des 18. oder 19. Jahrhunderts gibt, sondern auch ein sanft berührendes, unmittelbar zugängliches, im Ansatz und Ausdruck originelles Meisterwerk Hindemiths.

Wenn unter Musikern gelegentlich Zweifel geäußert werden an Hindemiths Qualität (da er ein Vielschreiber war, unterlief ihm manches Harmlose, Matte), dann steht Hindemiths Bewunderern das Gegenargument zur Verfügung, es gäbe ein unwiderlegliches Indiz für die Genialität dieser Jahrhundert-Figur: Hindemiths Fähigkeit, langsame, tiefsinnige, melodische und persönliche Sätze zu schreiben. Eben dieser zarte, nie klebrige oder eklektisch-brucknerhafte Andante-Gestus verleiht Hindemiths Whitman-Requiem "Für die, die wir lieben" eine linde Bewegtheit, Erregtheit, Betroffenheit.

Das Werk mit dem gewiß nicht gerade attraktiven Titel "Als Flieder jüngst mir im Garten blüht" bezieht sich auf Dichtungen, die Whitman nach schweren Erschütterungen im amerikanischen Bürgerkrieg publizierte. Auffällig an diesem vielteiligen, von Hindemith etwas gekürzten Zyklus ist die Verwobenheit von drei Symbolen, welche auf den ersten Blick mit der Bitterkeit des Sterbens und des Schreckens des Jüngsten Gerichts wenig zu tun zu haben scheinen. Whitman läßt in eindringlich meditativen Gesängen den Flieder darstellen als Motiv des Trauerns, der trauernden Liebe; den Vogel als Inbegriff des Singens und Lebens; und den West-Stern als Ausdruck zeitloser Größe. Äußerungen des Schmerzes wechseln mit gleichsam bitterem Trost: "Ich sah Tausende von Toten einer Schlacht... Doch waren sie nicht so, wie ich dacht’! Voller Ruhe schienen sie mir - sie litten nicht. Wer lebt, bleibt zurück und leidet!"

Unmöglich, hier umfangreiche, auf naturphilosophische Weise von optimistischem Evolutionismus geprägte Texte präzise zu interpretieren. Auch wenn es den Gedichten an Kriegsvisionen oder Bekundungen des Erschreckens nicht fehlt: Die Musik jedenfalls polarisiert sich gerade nicht in "Trauer" und "Trost". Sondern, und darin klingt noch etwas von Neuer Sachlichkeit der zwanziger Jahre nach, sie objektiviert einen schwermütigen, aber nie schwerfälligen Ton. Hindemith komponiert sinnfällig, oft gleichsam seriös-musicalhaft. Trotz ein paar beeindruckender polyphoner Demonstrationen bleibt er dienend textnah. Da es sich aber bei den Texten um Lyrik von Rang handelt, gelang ein Meisterwerk. Europas Chöre und Chordirigenten sollten sich lebhafter und entschiedener dafür interessieren.

Oder ist es eine unübersteigbare Grenze, daß diese Musik einem schwierigen englischen Text gilt? Ist es wirklich eine Grenze, daß die Komposition harmonische Eingängigkeit nicht verschmäht - gelegentlich etwa an Benjamin Britten erinnert, dem sie aber doch überlegen ist.

Man wünschte sehr, dem Werk bald wieder zu begegnen - und zwar so sorgfältig, nachdrücklich und engagiert dargeboten, wie es im 4. Konzert des Bayerischen Staatsorchesters der Fall war.

Es glänzten nicht nur die vorzüglichen Solisten. Auch der sichere Chor der Bayerischen Staatsoper schien dieses Requiem sorgfältiger einstudiert zu haben (Udo Mehrpohl) als das "Schicksalslied" von Brahms, das nach der "Tragischen Ouvertüre" im ersten Teil des Konzertes vorgetragen wurde. Offenbar war Sawallisch im Geist schon beim Hindemith, als er das Brahmssche "Schicksalslied" um eine Andante-Spur zu bewegt dirigierte. Zudem fehlte es dem Chor da an Klarheit und Tiefe. Man hörte zu sehr den Sopran, zu verwaschen die Mittelstimmen. Und zu Beginn des Konzerts kam leider auch nicht mit gebotener Deutlichkeit heraus, daß Brahms’ "Tragische Ouvertüre" ein Meisterwerk ist und kein Nebenprodukt. Vielleicht lag es an der heiklen Nationaltheater-Akustik: aber im Vergleich zum eher rüstigen Piano beispielsweise der Klarinetten war das Fortissimo der Streicher kein hinreichend großer Gegensatz! Diese Ouvertüre muß von Mahlerscher Erhitztheit und Wildheit vibrieren, wenn ihr tragischer Charakter herauskommen soll.

Joachim Kaiser

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