Zum Liederabend am 14. April 1986 in Frankfurt/Main


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April 1986

Ungebrochene Verzweiflung

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schuberts "Winterreise"

Für viele Sänger wird das sechzigste Lebensjahr zur magischen Schwelle, die in wirklich guter vokaler Verfassung nur wenige überschreiten. Dietrich Fischer-Dieskau nahm diese Altershürde im vergangenen Jahr bei unverdrossenen Konzertaktivitäten scheinbar nebenbei. Trotz aller Skepsis war man nun gespannt auf seine jüngste Deutschlandtournee. Dabei steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, ob es nun auch bei Fischer-Dieskau so weit ist, daß man ihm einen wohlwollenden und wohlverdienten Altersbonus einräumt und Einwände sogleich entschuldigend relativiert, indem man auf sein 1987 bevorstehendes vierzigjähriges Bühnenjubiläum verweist. Um es vorwegzunehmen: Es ist nicht soweit, nicht im geringsten. Größer scheint die Gefahr, durch die bloße Kenntnis seines Alters Einbußen so lange zu suggerieren, bis man sie irgendwann tatsächlich festzustellen glaubt. Das Frankfurter Konzert in der Alten Oper zumindest hielt höchsten Erwartungen fast ausnahmslos stand.

Schuberts "Winterreise" ist mit Fischer-Dieskau seit Jahrzehnten in mehreren Schallplatteneinspielungen und zahllosen Konzertabenden verschmolzen bis zur völligen Identifikation. Vielen Musikliebhabern gilt Fischer-Dieskau für die "Winterreise" als das autorisierte Sprachrohr des Wahren. Der Wahrheitsgehalt solcher Klischees ist dabei weniger interessant als deren Ursache.

Ausgerechnet Fischer-Dieskaus Stärken; also gestalterisch-interpretatorische Detailfreudigkeit und seine vielgerühmte intellektuell geschärfte Artikulationsgenauigkeit werden in diesem technisch - auch rhythmisch - vertrackten "Kreis schauerlicher Lieder" (Schubert zu Freunden) gefordert wie in kaum einem anderen Zyklus. Die düstere, elegisch-resignative Grundstimmung vor allem bereitet so enorme Schwierigkeiten, wenn sie Trauer, nicht Larmoyanz entwickeln, wenn sie spannend, nicht reißerisch geraten soll.

Mit einer Konzentration, die von Routine keine Spur zeigt, gestaltet Fischer-Dieskau einen großen Entwicklungsbogen, der sich von einem verdüsterten "Gute Nacht" zu furiosen, bald hoffnungsschimmernden, bald völlig verzweifelten Höhepunkten ("Auf dem Flusse", "Frühlingstraum") steigert, um schließlich in der melancholischen Mutlosigkeit des fast zum Sprechgesang ausgedünnten "Leiermann" zu münden. Aber auch feinste Binnenspannungen gelingen packend.

Abgesehen von solchen Details fällt insgesamt auf, daß Dietrich Fischer-Dieskau die "Winterreise" keineswegs vorsichtiger, moderater singt als früher. Im Gegenteil: risikobereit stürzt er sich in eine auffallend dramatischere Lesart, mit viel Lust an der lauten Deklamation. Und eben darin liegt eine Gefahr: Der Mut zum Forte wird gelegentlich zum Übermut. In Stücken wie "Auf dem Flusse" oder "Die Wetterfahne" neigt er zu einer Forcierung, die die Stimme mitunter eng und unscharf werden läßt. Fast hat man das Gefühl, als wolle er so die ungebrochene Größe seines Baritons vorführen. Eine Beweisnot, die nicht im geringsten existiert, zumal das Hauptkapital dieses Sängers ohnehin von jeher in den gedeckten Farben liegt.

Eindrucksvoll machte die "Winterreise" die Vorzüge seines Timbres deutlich, das bei eingehender Betrachtung der Artikulations- und Phrasierungskunststücke meist zu kurz kommt. Ideal wirkt gerade in diesem Zyklus der alles Nasale vermeidende, mit einem unauffälligen Vibrato gefärbte Klang seiner extrem weit vorne sitzenden Stimme. Frei von jeder Kehligkeit, nähert sich das klare, warme Timbre so fast dem Duktus einer Naturstimme. Ein Eindruck, der durch Fischer-Dieskaus gestalterische Orientierung am natürlichen Sprachstil noch zusätzlich unterstützt wird. Daß die erstaunliche Kondition seines Baritons jedoch kein Naturgeschenk, sondern vor allem das Resultat grundsolider Technik ist, machen besonders die völlig bruchlosen, elegant gleitenden Registerwechsel deutlich.

Dietrich Fischer-Dieskau weiß, warum er seit 1982 mit Hartmut Höll als Klavierbegleiter zusammenarbeitet. Der Pianist ist nicht nur technisch zuverlässig, sondern vor allem gestalterisch engagiert. Hochgespannt reagiert er auf rhythmische und dynamische Nuancen des Sängers, ohne dabei zu exzessivem Rubato zu verleiten. Mal anspornend, mal beschwichtigend, schwingt er sich auf den musikalischen Atem ein. Also kein passiver Begleiter, sondern ein höchst aktiver Partner, dem Dietrich Fischer-Dieskau mehr verdankt als nur adrettes Klavierspiel.

moc.

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