Zum Liederabend am 10. Oktober 1985 in Berlin


    

     Spandauer Volksblatt, Berlin-West, Oktober 1985     

496. Musikalisches Tagebuch

Aufschließender Gesang

     

Ähnliches darf, sollte, soll, muß er wieder machen! Dietrich Fischer-Dieskaus vier Abende umfassender Liederzyklus in der Deutschen Oper war ein Ereignis und ein Höhepunkt dieses Musik-Herbsts, ein Geschenk, auf das man hoffen, das man aber trotzdem keineswegs erwarten durfte.

Ausschließlich Hugo Wolf, und zwar ausschließlich dessen Mörike-Liedern, war der letzte Abend gewidmet. Vielleicht kommt Fischer-Dieskau im gegenwärtigen Spätstadium seiner Laufbahn auch weniges so entgegen wie die Kunst Hugo Wolfs. Denn der wollte ja seinerseits nichts als eine aufschließende Deutung Mörikes (weshalb er der Druckausgabe der Lieder ein Bildnis des Dichters, nicht etwa sein eigenes, voranstellte).

So wie die Musik – komplex, wie sie ist – sich nirgends vordrängt, so stellt sich der Sänger ganz in den Dienst des Liedgebildes, das hier zuerst und zuletzt die Dichtung meint. Freilich, um den Bogen vom Zuerst einer bloßen Textgrundlage zum Zuletzt des leuchtenden, schimmernden Dichterworts zu schlagen, muß man schon Hugo Wolf singen: und Fischer-Dieskau tut das mit all seiner Expressivität und nach wie vor in allen Lagen bemerkenswertem baritonalen Wohlklang.

Auf geistige Erschließung, aufs Eindringen in Sinnzusammenhänge kommt es ihm vor allem anderen an. Wie er die Stimme wechselnd einfärbt, mit langem Atem Crescendi strömen, Decrescendi verhauchen läßt, wie er von ehernen Tiefen ins schwärmerische Falsett "umschaltet" oder zurück: Das sind technische, sinnliche Mittel die die Sache, um die es geht, unter einem Aspekt zeigen (und ohne die sie auch kaum zu vermitteln wäre) – aber sie sind noch nicht die Sache selbst.

Von der versteht mehr, wer Fischer-Dieskau hört – und das lohnt sich bei Mörike ganz besonders. "Alte unnennbare Tage": Klingt das nicht schon ganz wie Gottfried Benn? Für die Kunst der Wortverdeutlichung nur ein Beispiel: In der letzten Zeile des zweiten "Peregrina"-Liedes macht der Sänger vor dem "wir" eine kleine Pause, die die Gemeinsamkeit in der Trennung hervorhebt.

Neben tragisch umflorter Idyllik standen Lieder von kräftiger Komik, bei denen Fischer-Dieskau sein Falstaff- oder Beckmesser-Talent ausspielte. Hugo Wolfs Vertonung des Rezensenten-Schmähs "Abschied" hätte übrigens in einer Frühgechichte des deutschen Kabaretts keinen unangemessenen Platz. Wie Hartmut Höll zuhörend sekundiert oder jäh und expressiv die Führung übernahm, überhaupt sich als Partner mit dem Sänger solidarisierte, wäre eine eigene Studie wert.

Hans-Jörg von Jena

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     Tagesspiegel, Berlin, 12. Oktober 1985     

Vergleichslose Liedkunst

Dietrich Fischer-Dieskau sang Hugo Wolf in der Deutschen Oper

   

Das deutsch-romantische Lied, eine heute zeitfremd erscheinende Kunstgattung, wird zum aktuellen Ereignis, wenn Dietrich Fischer-Dieskau aus seinem unerschöpflichen Repertoire vier Abende mit Werken Schuberts, Schumanns, Mahlers und Wolfs gestaltet. Zwei Gruppen aus je zehn Mörike-Liedern Hugo Wolfs versetzten am letzten Abend des Zyklus das aufmerksame, hingebungsbereite Auditorium der ausverkauften Deutschen Oper in einen glücklichen Rauschzustand, den der Interpret erst mit heiteren Stücken von weniger poetischer Realität auflöste.

Es bleibt immer ein Wunder, wie derselbe Sänger, der den Bühnenwerken Aribert Reimanns oder Benjamin Brittens "War Requiem" das entscheidende Profil gibt, die geheimnisreiche, traumselige Gefühlssphäre dieser 1888 komponierten Gesänge immer wieder mit wärmendem Leben zu erfüllen vermag. Selten wohl hat sich ein Liedersänger so tief in beide Komponenten des diffizilen Worttongebildes vertieft wie Fischer-Dieskau. Er versteht alle Bereiche von Mörikes Lyrik aus dem Grunde: das Volksliedhafte, Phantastische, Bekenntnishafte, Religiöse, wie sie dem unruhevollen Dasein des empfindsamen schwäbischen Pfarrers entsprachen.

Mit der von dunklem Rezitativ zu dithyrambischen Lyrismen sich steigernden Kantate "Der Genesene an die Hoffung" erreichte die Konzentration des Vortragenden bereits hohe Grade der Gefühlsintensität. Trostvolle Morgenglocken, die "Erstlings-Paradieseswonne" des Wanderers in der Frühe, die in dramatischem Monolog bewußt werdende mystische Gemeinschaft mit Gott ("Neue Liebe"), das "Memento mori" in "Denk es, o Seele!" sind religiöse Meditationen, die des Sängers persönliche Affinität in passionierter und ekstatischer Nuancierung bezeugten. Die vergleichslose Kunst Fischer-Dieskaus, dynamische Stufen und Färbungen des Timbres nahtlos zu verbinden, ermöglichte ihm bei glänzender stimmlicher Verfassung ein atemberaubendes dramatisches Virtuosenstück: die Ballade vom "Feuerreiter". Zu den kostbarsten Eingebungen des Dichters wie des Komponisten gehören das Sehnsucht und Erinnerung an "alte, unnennbare Tage" beschwörende "Im Frühling" und die "Auf einer Wanderung" erlebte "Trunkenheit des Herzens" durch den "Liebeshauch der Muse".

Unter den Liebesgesängen wurde das hymnische "An die Geliebte" (Mörikes langjährige Verlobte, die niemals seine Frau wurde) ein tief beeindruckendes Meisterstück des Interpreten. Von den beiden Gesängen an die verlorene Jugendgeliebte "Peregrina" bezwingt der zweite als Bildnis "mitleidschöner Qual" mit chromatischen Tristan-Klängen, die erschöpfend wiedergegeben wurden. Der bedeutende instrumentale Anteil solcher Kompositionen weist uns auf die Leistung des Klavierpartners Hartmut Höll hin, der nicht allein den virtuos-dramatischen Ansprüchen des "Feuerreiters" entsprach, sondern mit äußerster Feinfühligkeit in Tongebung und Dynamik sich dem Sänger und seinem hochdifferenzierten Vortrag in gleichgestimmter Gefühlsintensität anzupassen vermochte.

Wie man weiß und in der Berliner Deutschen Oper und anderen Bühnen oftmals erfahren hat, verfügt Fischer-Dieskau über eine natürliche humoristische Ader, die in mehreren Liedern des gleichfalls zu Späßen und grotesker Komik stets aufgelegten Dichters zur Geltung kam. Stücke wie die "Storchenbotschaft" oder die Pointe der "Warnung" – "im Katzenjammer ruft man keine Götter" – wurden daher als angenehme Kontraste empfunden und heftig bejubelt.

In der ersten von fünf Zugaben setzte sich in dem famosen Lied des "Tambour" ("Wenn meine Mutter hexen könnt’") die heitere Stimmung fort, wurde aber dann in dem von Wehmut und geheimer Wonne erfüllten reinen Melos der "Verborgenheit" ("Laß o Welt, o laß mich sein") abgelöst, um wiederum heiteren Bekenntnissen – "Ich bin meiner Mutter einziges Kind" – Platz zu machen. Zum guten Schluß lang anhaltende Ovationen für den großen Sänger und seinen exzellenten Klavierpartner.

Walther Kaempfer

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