Zu den Liederabenden am 29. September, 6., 8., 12. Oktober 1985 in Frankfurt


    

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Oktober 1985     

Dietrich Fischer-Dieskaus Frankfurter Liederabende

Der Wind weht stark und macht dem Atem viel zu schaffen

     

Weder Schubert, Schumann, Mahler und Wolf noch ihr Interpret Dietrich Fischer-Dieskau müssen vorgestellt werden. Womöglich aber wären die vier Komponisten als Liederfinder unvorstellbare Größen geblieben, hätte sich nicht Fischer-Dieskau fast vierzig Jahre lang für sie, für das Lied überhaupt, eingesetzt. Er wurde so zum Bahnbrecher für eine esoterische Kunstform, die es in der modernen Massenkultur außerhalb des bürgerlichen Salons ihrer Entstehungszeit nicht zuletzt deshalb so schwer hat, weil sie "das Gedicht mit seinen kleinsten Zügen im feineren, musikalischen Stoff nachzuwirken" trachtet (Schumann) und sich so dem eilfertig-oberflächlichen Musikkonsum widersetzt.

In diesem Sommer und Herbst hat Fischer-Dieskau Lieder von Schubert, Schumann, Mahler und Wolf zu Anthologien bei der Schubertiade Hohenems, in Berlin, München und Frankfurt gebündelt: nicht allein als persönliche Lebensherbst-Ernte, sondern auch als Kurzprotokoll musikgeschichtlicher Entwicklungen. Für beides ist die Zusammenschau als Summe des Gewußten und Erfahrenen unerläßlich. Aber gerade für den Sänger, der als Inbegriff seines Metiers gilt, heißt Summieren nicht Bilanzabschluß und ruhmgekröntes Sichbescheiden im Erreichten (was leider für viele Karrieren ausreicht); er setzt sich vielmehr immer neu aus – seiner Stimme wie neu entdeckten Liedern und neu Gefundenem im einzelnen Lied.

Inspirationsquelle ist ihm dabei gewiß Hartmut Höll, seit 1982 sein Klavierpartner. Die gegenseitige Anregung war in den vier Frankfurter Liederabenden in der Alten Oper unverkennbar. Sie zielte zunächst auf eine nicht neue, aber ungewöhnlich eindringliche Deutung der Vokal-Instrumental-Beziehung, die jeder der vier Komponisten im Lied für sich, seine Zeit und über sie hinaus gefunden hat. Schubert hat die umrahmende, stützende, Atmosphäre schaffende Funktion des Klaviers über die bis dahin übliche Begleitfunktion hinaus harmonisch und klanggestisch verfeinert und intensiviert – parallel zur vokalen Aussageverdichtung. Schumann bettet die Singstimme in den Klaviersatz ein, formt beide ineinander zum lyrischen Klavier-Gesangsstück im Sinn der von ihm geforderten "tief-combinatorischen", poetischen Innenwelt, die sich zum rational unfaßbaren Gesamtkunstwerk zu kristallisieren habe. Der Klaviersatz von Mahlers Wunderhorn-Liedern strebt in Fülle und Farbe dem Orchester entgegen; umgekehrt ist Mahlers sinfonische Themenerfindung oft sprachähnlich. Bei Wolf stehen Gesangs- und Klavierpart in einem dialektischen Verhältnis zueinander – wie zwei unterschiedliche Klangschichten, die komplementär zueinander, zuweilen einander widersprechend, dennoch zu einem Continuum verschmelzen.

Dieser sängerisch wie pianistisch außerordentlich plastisch dargestellte Weg von einer Auswahl unbekannterer und beliebter Schubert-Lieder (F.A.Z. vom 1. Oktober) über Schumanns Zyklen op. 39 (Eichendorff) und op. 35 (Kerner), Mahlers Wunderhorn-Lieder bis zu einer Wolf-Auswahl todeswunder, skurriler und sarkastischer Mörike-Vertonungen (An den Schlaf, Peregrina-Gesänge; Storchenbotschaft; Bei einer Trauung, Zur Warnung, Abschied) gehörte zu den eindrucksvollsten Erfahrungen des Liederabend-Quartetts. Beide Künstler waren in Hochform; lediglich im vielgebrauchten Forte der soldatisch derben Wunderhorn-Gesänge verriet das harsche Sänger-Timbre die nicht mehr ganz junge Stimme. Deklamation und Einzelton-Färbung fügte Fischer-Dieskau ein in melodisch gebundene Linie, das Maßnehmen am Wort drängte sich nie als reflektorische Zergliederungsmethode vor. Oft war in der mimisch abgeschmeckten Wort-Klang-Geste die Szene suggeriert, in der alle Stimmäußerungen vom Sprechen über den Sprechgesang bis zum subtil austarierten Singen ihren sinndeutenden Ort hatten (besonders "anschaulich" in Wolfs "Zur Warnung").

Hugo Wolf, musikkritisch erfahren wie sein Kollege Schumann, aber scharfrandiger formulierend als dieser, hat seine manischen Lied-Eruptionen selbstkritisch und auch für heutige Künstler noch herausfordernd kommentiert. Das Gespür für jede leise Gedankenbiegung, den Wort-Melos-Nebenton, für jede heimliche Nuance komprimierte er in der Forderung, daß jede Note Sinn und Bedeutung haben müsse. Vom Sänger forderte Wolf "die zwingende Wahrheit einer vollkommenen künstlerischen Leistung", in der sich der "Sänger mit dem Deklamator vereinigen" müsse – sogar jenseits der selbstgenügsam schönen Stimme: "Was soll mir eine schöne Stimme? Schöne Stimmen sind kalte Schönheiten, blendender Marmor." Und seine Klavierparts wollte er "unter allen Umständen nur den Händen eines wahrhaft gebildeten Musikers" anvertraut wissen.

Diese ästhetischen Forderungen nicht nur am Wolf-Abend weitgehend und für jeden Komponisten individuell erfüllt zu haben, gehört zu den Meriten der beiden einander gewachsenen Künstler. Schwerer zu fassen ist der Nachvollzug des psychischen Klimas im Stromkreis zwischen Dichter, Vertoner, Deuter. Wolf zumal schleuderte alle seine Lieder in fieberhafter Hochspannung hervor, gewissermaßen "mit Blut ... und solche Töne weiß nur anzuschlagen, wer – leidend – sein innerstes Wesen einer tief wahren Empfindung hinzugeben imstande ist". Jeder der vier Komponisten war – jeder auf seine persönliche Art und nicht nur im romantischen Weltschmerzsinn – gefährdet, und es gelang den Künstlern, in Liedwahl wie –wiedergabe trotz (oder wegen) raffinierter Reflektiertheit diesen Endzeitaspekt von Vergänglichkeit und Tod als strenge, herbe, unerbittliche Wahrheit bloßzulegen.

Eine weitere Endzeit-Wahrheit schwang mit, sogar in der delikaten allerletzten von achtzehn auf vier Abende verteilten Zugaben, Heyse-Wolfs "Nicht länger kann ich singen". Mochte dies am Ende eines umjubelten Zyklus-Endes nicht mehr meinen als den Wunsch, endlich vom Publikum entlassen zu sein, so ließ sich ein beklemmendes "Was dann?" dennoch nicht abwehren. Fischer-Dieskau gilt als Über-Sänger, Jüngere spornend und ängstigend. Er wurde zum Bollwerk wider den gedankenlosen, zunehmenden Analphabetismus im Lesen, Zuhören. Fischer-Dieskau provoziert im sechzigsten Lebensjahrzehnt, im nahezu vierzigsten seines öffentlichen Auftretens, trotz unversehrter Vitalität Begriffe wie Weisheit, Reife, Abklärung – sie paßten nicht recht zur Unruhe des Frankfurter Publikums, klingen in medien- und computergesteuerter Zeit liebenswürdig altmodisch. Heyses Zeile "Der Wind weht stark und macht dem Atem was zu schaffen": das Stenogramm einer kunstindustriellen Betriebsamkeit, die vielen Künstlern zu schaffen macht, sie vor der Reife verschleißt? Vielleicht ist Fischer-Dieskau, indem er selbst Epoche gemacht hat, Zeuge einer schon untergehenden Epoche.

Ellen Kohlhaas

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