Zum Liederabend am 8. August 1985 in Salzburg


    

     Salzburger Nachrichten,  10. August 1985     

Dem geliebten "Zeitlosen" nahegerückt

Alban Berg und Arnold Schbönberg in einem Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus – Am Flügel Hartmut Höll

     

Ein Liederabend dieses Sängers im Kleinen Festspielhaus: er war in jeder Sicht der Betrachtung weit entfernt von der vertrauten Gangart des "Musensohns". Wohl schaute Schubert einmal, zweimal durch die Brille des Fin de siècle in die verwandelte musikalische Szene herein: bei Schönberg, "Im Morgengrauen schritt die Nacht fort", da ist eine Spur des Verlassenen von der Winterreise, aber sie ist im Zorn zerstampft und weist der Traurigkeit keinen Weg; oder in Alban Bergs Goethe-Vertonung "Ach, wer bringt die schönen Tage", wo noch Atem von romantischer Bewegtheit sich aus dem fahl verfärbten Lyrismus des Gesangs und dem Anschlag der Saiten löst. Aber im ganzen mußte das Ohr, schon durch die Auswahl der Stücke, dem Anruf einer Thematik gehorchen, die auf Eros/Thanatos, auf Trennung, Abschied, Tod gerichtet war und mit kaum einer Ausnahme, nur zuletzt in den begehrten Zugaben einen Lichtspalt von Bergschem Humor, von beglückter Naturerfahrung auftat. Dennoch, selbst mit dieser beklemmenden Faszination der Begegnung: ein Abend, den man im Gedächtnis nicht wird missen wollen, weil – wie so oft in Fischer-Dieskaus Programmen – gerade der zwingende dramaturgische Zug des Ganzen die Teile eingeprägt hat.

Der Sänger, von dem jungen, gleich sensitiven und musikalischen Pianisten Hartmut Höll begleitet, widmete den Festspielabend dem Gedenken Alban Bergs, dessen Geburts- und dessen Sterbejahr (1885/1935) heuer säkular sich abzeichnen. Zugleich galt es, Arnold Schönberg mit ins Bild zu bringen. Er war Bergs Lehrer und Freund und erster Exponent des gemeinsamen Begriffs "Wiener Schule" gewesen. Von beiden Musikern hat Fischer-Dieskau ausschließlich frühe und früheste Kompositionen ihres Liedwerks ausgewählt. Man hörte zwanzig Stücke, in vier Gruppen einander zugeordnet, wobei Schönbergs Anteil aus op. 2, 3 und 6 sich auf vier Titel beschränkte, entstanden zwischen 1899 und 1905; also lange vor dessen ersten "Vorversuchen" mit dem Zwölfton-System, die er selbst mit 1914/15 angibt.

Hier ist zu Alban Berg eine höchst bemerkenswerte, weit vorausweisende Eigenheit seines strukturellen Formwillens zu verzeichnen: Er hat in seinem op. 2, in dem letzten der "Vier Lieder", 1910 geschrieben (Jahre vor seinem Lehrer Schönberg selbst), eine Komposition ohne tonale Vorzeichen geschaffen. Fischer-Dieskau stellte das Opus zeichenhaft an den Schluß des Programms und setzte damit ein doppelt signifikantes Beispiel von souveräner Entfaltung des Jüngeren.

Die eigentliche Besonderheit des Programmaufbaus aber lag in der Auswahl von 16 bisher im Konzertsaal nie vorgetragenen, in Handschrift überlieferten Liedern Alban Bergs (vier davon unter den Zugaben). Um deren Freigabe hatte sich der Sänger zu Lebzeiten der so "verschlossenen" Siegelbewahrerin, Frau Helene Berg, über ein Jahrzehnt vergeblich bemüht. Man vernahm diese ebenso eindrucksvollen wie vom Hörenden spontan als eingängig aufgenommenen Schöpfungen, nachdem Fischer-Dieskau sie zur 100. Wiederkehr des Geburtstages im Februar schon beim Westdeutschen Rundfunk gesungen hatte.

[...]

Dietrich Fischer-Dieskaus deklamatorische Kraft und Dichte ließ der gefesselten Erwartung, die ihm in dem vollen Hause von Lied zu Lied folgte, eine weithin völlig unbekannte Musik zum Erlebnis werden. Was soll man im einzelnen nennen? – "Geliebte Schöne" (Heinrich Heine), die Eichendorff-Vertonung vom Leiden, vom Tod in allem Leben ("Es wandelt, was wir schauen") oder die Resignation einer "Grabschrift" (Jakobowski), das Altenberg-Lied von der "Traurigkeit", die ganze Schlußgruppe dann mit Bergs Opus 2; bei Schönberg etwa "Traumleben" (Julius Hart), mit dem großen Bogen einer Kantilene, vom Saiteninstrument im claire-obscure dialektisch geschärft und durchlichtet, nicht weniger berührend das unheimliche lyrische Jugendstil-Dramolett von "dem meergrünen Teiche neben der roten Villa" ("Erwartung", nach Richard Dehmel).

Und die Stimme des Sängers? O ja, man darf fragen nach dem berühmten Bariton, dem alles Sangbare wie spielend zu Gebote stand von Anfang an. Und da ist bis heute so gewiß wie je der ruhende Atem eines legatissimo über lange Strophenzeilen hin, der eingesponnene, verhüllte Klang "sanfter Klage", und dann das sich steigernde Ausbrechen, das in der hohen Lage ein verhauchendes decrescendo als innere Spiegelung wahrmachen kann ... Wäre die Menschenstimme zur Alterslosigkeit geboren wie der Klang des Violoncells, es gäbe nichts, was da in der Fortdauer unerfüllbar schiene. Ich glaube, in der Erinnerung wird sich dieses edle Organ erhalten, eben wie ein großes Instrument mit dem Cellonamen eines Amati, eines Guarneri, eines Sanctus Seraphim.

Wurde nicht hier der "Wiener Schule" mit dem Sänger und seinem idealen pianistischen Begleiter ein Beifall zuteil, als wäre der Gegenstand "moderner" Musik fast so modern wie das geliebte Zeitlose in der Musik?

Max Kaindl-Hönig


    

     Kronen-Zeitung, Wien, 11. August 1985     

In Salzburg: Liederabend Fischer-Dieskau

Die vielseitige Stimme

     

Ein Liederabend, ausschließlich mit Werken von Alban Berg und Arnold Schönberg, und trotzdem ein vollbesetzter Saal (Kleines Festspielhaus), das bedeutet, daß der Sänger des Abends, Dietrich Fischer-Dieskau, ein Publikumsmagnet ist, auch dann, wenn er in seinem Programm von den eingefahrenen Geleisen abweicht.

Viele halten ihn für den besten Liedersänger, was er wahrscheinlich auch ist, sicher aber ist er der vielseitigste. Bei ihm verbinden sich hohe Intelligenz mit einer einzigartigen Gesangskultur und einer schönen Stimme, die an Glanz kaum etwas verloren, an Charakter aber zugenommen hat, so daß der heute Sechzigjährige das Publikum wie eh und je zu Begeisterungsstürmen hinreißt.

Bei den Sängern steht Fischer-Dieskau mit an der Spitze derer, die sich für die Komponisten des 20. Jahrhunderts, auch der zeitgenössischen, einsetzen, obwohl die Liederfürsten des 19. Jahrhunderts, Schubert, Schumann und Wolf, in ihm ihren großartigsten Interpreten haben. Auf Grund seiner Offenheit für alle Strömungen mag es nichts Außergewöhnliches sein, daß er einen Abend nur Lieder von Berg und Schönberg singt. Das Außergewöhnliche ist, daß er es bei den Salzburger Festspielen tut.

Die Lieder der beiden Komponisten sind Frühwerke und bleiben im Bereich der Tonalität. Wie die vertonten Gedichte, verbreitet auch die Musik Düsterkeit und Nachtstimmung. Gefühlsintensität, romantischer Überschwang und leidenschaftliche Ausbrüche sind weitere Merkmale der Kompositionen, ebenso wie die starke Unabhängigkeit des Klavierparts, den Hartmut Höll hervorragend betreute.

Was an Fischer-Dieskaus Vortrag so faszinierte, war die Schlichtheit, das tiefe gefühlsmäßige Eindringen in die Liedschöpfung, ohne daß dabei die geistige Kontrolle verlorenging. Zweifellos bedeutet dieser Liederabend einen künstlerischen Markstein der Salzburger Festspiele.

Viktor Reimann

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