Zum Liederabend am 11. März 1985 in Frankfurt


    

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. März 1985     

Liedmeister

Fischer-Dieskau singt Brahms

     

Auf die Frage nach dem ihm liebsten Gedicht erwähnt Thomas Mann auch Daumers "Nicht mehr zu dir zu gehen", mit dem Hinweis, Brahms habe es zwar vertont, hätte dies aber besser nicht getan. Ob Thomas Mann mit seiner Meinung über Gedicht wie Lied im Recht war, bleibe dahingestellt. Dennoch schwebt sie als eine Art Menetekel über dem Werk und jeder Interpretation. In seiner depressiven Kargheit enthält Daumers Text fast den Einspruch gegen lyrische Sublimierung; und Brahms’ Deklamation in schleppenden Linien und Seufzern unterstreicht – immerhin suggestiv – diesen Ausdruck des unüberhörbar Dumpfen. Dietrich Fischer-Dieskau, der nun zusammen mit Hartmut Höll einen reinen Brahms-Abend in der Frankfurter Alten Oper gab, hat diese Herausforderung angenommen und mit expressiver Nachdrücklichkeit den desperaten Monolog zur Sprache gebracht. Denn immer noch ist Fischer-Dieskau, der am 28. Mai tatsächlich schon sechzig wird, ein meisterlicher Liederinterpret; wobei ja in Begriffen wie Meister und Interpret das Moment des Auslegenden und des Vorbildlichen, ja mitunter sogar ein wenig Dozierenden mitschwingt.

Wenn Fischer-Dieskau nun also "Nicht mehr zu dir zu gehen" beschließt, dann wird dies zur imponierenden Demonstration seines unverwechselbaren, in seinen besten Momenten unvergleichlichen Liedstils der in hohem Maße textbezogenen vokalen Exegese – literarisch gesprochen eine "Ausgabe letzter Hand". Wie da die Textlinie durchgezogen wird, die Einzelsilbe mit Ausdruck aufgeladen – dies fesselt immer noch als Dokumentation eines mit großer Souveränität verfochtenen, oft messerscharf formulierten ästhetischen Konzepts. Die Reibungsflächen zwischen (nicht unumstrittenem) Ideal und Wirklichkeit allerdings werden deutlicher spürbar. Daß er nicht mehr aus der Fülle des stimmlichen Glanzes zu schöpfen vermag, liegt nahe. Sein einst so leuchtender Bariton hat an Farbpracht und Strahlkraft verloren, die Tiefe klingt manchmal leicht grummelig, und manche herausgestoßenen Forte-Einzeltöne wirken rauh.

Doch fast unverändert ist sein seit jeher virtuoser Umgang mit der Kopfstimme, der es ihm gestattet, in der Höhe und im Piano so flexibel wie markant zu singen – einschließlich der bei ihm obligaten kleinen Anschleifmanierismen. Zu seinen so gepriesenen wie gescholtenen Eigentümlichkeiten gehörte – in Wellenbewegungen stärker oder schwächer – das Aufspalten der Gesangslinie in die deklamatorisch zergliederten Einzelsilben. Nun, mit dem Schwinden manchen Schmelzes tritt deutlicher zutage, daß das Auffällige daran sogar weniger die Wortbetonung war und vielmehr das quasi Herausregistrieren einzelner Sinnträger innerhalb eines Gefüges gleichwertiger Spracheinheiten.

Daß er ein reines Brahms-Programm wählte, war nicht unbedingt erstaunlich. Eher schon, daß er meist Gesänge der ernsten Art bevorzugte und zugleich chronologisch anordnete (von op. 19 bis op. 107), die effektvolleren ("Wie bist du, meine Königin", "Ständchen", "Feldeinsamkeit", "Wir wandelten") sich dagegen als Zugaben aufsparte. Vielleicht nicht völlig überraschend, aber immerhin wieder lehrreich war, wie homogen Brahms’ Lied-Oeuvre wirkt.

Oder lag dieser Eindruck nicht doch auch ein wenig an den Interpreten? Etwa an dem womöglich leicht eingeengten Tonarten-Radius? Oder an einer zumindest latenten Gleichförmigkeit, ja gelegentlich auch Glättung? Ist Brahms’ Klavierpart denn wirklich meist so kultiviert edel, spannungs- und bruchlos, so arm an Dissonanzen, Synkopen und Stimmverwicklungen, wie er bei Hartmut Höll, auf pianistisch gewiß herausragendem Niveau, erklang. Selbst bei Fischer-Dieskau hatte man ab und zu den Eindruck, daß er zwischen den immer noch (zumal gestisch-mimisch) wirkungsvoll servierten Gegensätzen des Grimmig-Düsteren ("Wehe, so willst du mich wieder"), der entrückten Naturstimmung ("Abenddämmerung") und des juvenil Lächelnden, gar Übermütigen ("Tambourliedchen") die zerklüfteten Charaktere ein klein wenig einebnet.

Problematisch als Effekt-Dramaturgie wirkte es, zum Abschluß des Programms das mazurkenartige "Maienkätzchen" unmittelbar an die übrigens so freundlich-reibungslos nun wieder auch nicht gemeinte Choralsphäre von "Auf dem Kirchhof" anschließen zu lassen. So einfach-selbstgewiß wird da zwischen extremen Ausdruckswelten hin- und hergeschaltet. Von Sänger wie Pianist vielleicht am eindrucksvollsten war das zugegebene "Ruhe, Süßliebchen" aus dem "Magelone"-Zyklus.

Die Einwände sollen beileibe nicht vergessen lassen, daß dies ein ungemein imponierender Abend war: packend in der programmatischen Konstellation, in der Kunst des Sängers, der ungebrochenen Lektionen in Sachen Brahms-, ja Lied-Interpretation zu geben vermag. Daß keinen Augenblick das Interesse nachließ, spricht für Fischer-Dieskaus immens souveräne Gestaltungskraft und äußerste musikalisch-gesangliche Beherrschung wie Beherrschtheit bis hin zum bewegend vibratolosen Pianissimo der "Feldeinsamkeit". Aber im nachhinein haben die Spannung des Konzertes und die Plastizität der Einzeleindrücke seltsam nachgelassen. Das Magistrale ist eben nicht immer auch das Inspirierendste. Vielleicht hat er manche dieser Brahms-Lieder doch schon allzuoft gesungen, vielleicht ist er ihrer doch ein klein wenig zu sicher geworden. Bei seiner Tschaikowsky-Platte zusammen mit Aribert Reimann (auch des Russischen wegen für ihn ungewohntes Terrain) glaubte man, wieder mehr Spontaneität vernehmen zu können. Vor Fischer-Dieskau, gewiß einer der überragenden Sänger der Epoche, dürfte ein schwieriger Weg liegen: der zu einem bündigen, Schwierigkeiten nicht kaschierenden Altersstil.

Gerhard R. Koch

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     Frankfurter Rundschau, 13. März 1985     

Gesang eines Musikers

Dietrich Fischer-Dieskau in der Alten Oper

    

Ein großer Abend, ohne Zweifel. Sechzig Jahre ist Dietrich Fischer-Dieskau alt, und man darf immer noch sagen, er steht auf der Höhe seines Könnens. Da ist nichts von Ermüdung in der Stimme, nichts von Nachlassen der Spannkraft oder der Fähigkeit, sich zwei volle Stunden lang äußerste Konzentration abzuverlangen, die doch nie in Angestrengtheit mündet, sondern wie selbstverständlich aus der intensiven Gestaltung der Musik herauswächst.

Es war ein reiner Brahms-Liederabend, den der berühmte Sänger zusammen mit dem Pianisten Hartmut Höll im Mozart-Saal der Alten Oper als Sonderkonzert der "Pro Arte"-Reihe gab. Höll, eine Generation jünger als Dieskau und gegenwärtig als Leiter einer Liedklasse an der Frankfurter Musikhochschule tätig, war ein Begleiter, der sich diszipliniert im Schatten des großen Meisters hielt.

Wer Fischer-Dieskau nur von Plattenaufnahmen her kennt, ahnt kaum etwas von dieser Fähigkeit bei einem live-Auftritt. Was er – um nur ein Beispiel zu nennen – bei dem Lied "Der Strom" am Ende der ersten Strophe an dynamischer Steigerung in einem einzigen Atemzug zuwege bringt, macht ihm so leicht keiner nach.

Ich erinnere mich an seinen allerersten Auftritt Ende der fünfziger Jahre, als der Name noch nicht Weltgeltung hatte und bei Schuberts "Winterreise" im Volksbildungsheim noch der halbe Saal leer blieb. Da war sie bereits spürbar, die Faszination der besonderen Mischung von verinnerlichter Gestaltung und souveräner Handhabung der stimmlichen Mittel. Nichts davon ist weniger geworden in all den Jahren: Das traumhaft weiche "mezza voce", die bebende Intensität lyrischer Passagen, die nirgends weichlich werden, das volle Einsteigen in dramatische Entwicklungen bei Vermeidung aller Härten, und der vollendete Registerausgleich zwischen den verschiedenen Höhenlagen, ein Problem, das bei anderen Sängern besonders das zunehmende Alter verschärft.

Früher wie heute gleichgeblieben ist die Fähigkeit, diese stimmtechnischen Tatsachen vergessen zu machen durch Geschmack, Musikalität und Intelligenz.

Hier singt nicht ein Sänger allein. Hier singt ein Musiker im vollen Bewußtsein dessen, was der Komponist ausdrücken wollte.

Justus Mahr

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     Frankfurter Neue Presse, 14. März 1985     

Zungenschlag einer Äolsharfe

Stimme einer Legende: Dietrich Fischer-Dieskau singt Brahms-Lieder in der Alten Oper

    

Über Dietrich Fischer-Dieskau ist mit Sicherheit schon alles gesagt, geschrieben und berichtet worden, was es über Gesangskunst, ihren Vortrag und ihr unmittelbares Erleben zu äußern gibt. Seit bald 40 Jahren konzertiert dieser "Intellektuelle" unter den Sängern in aller Welt. Sein Name ist Legende. Sein Wirken hat Maßstäbe gesetzt und die Auseinandersetzung mit Musik, das Musizieren selbst der vielen ihm Nachfolgenden entscheidend beeinflußt.

Anläßlich seines Liederabends im Mozart-Saal war noch einmal in beeindruckender Weise zu erleben, was den Nimbus dieses Künstlers ausmacht; worin die Faszination besteht, die seinen Vortrag umgibt. Atmosphäre und Spannung entstehen bereits, wenn Fischer-Dieskau den Saal betritt: Er beginnt, scheinbar unvorbereitet, aus dem großen Schatz seines Repertoires zu schöpfen, "fange wieder an deine melodische Klage" aus Mörikes "Äolsharfe", alles immer noch mühelos, mit zwingender Natürlichkeit, als ginge das Singen "so und nicht anders".

Daß die Stimme gegenüber früheren Jahren sich verändert hat, ist natürlich, gemessen an dem Verschleiß aber, dem sich andere Sänger ausgesetzt sehen, immer noch bewundernswert in ihrer disziplinierten Führung und den schönen, farbreichen leiseren Tönen. Das Programm bot Lieder und Gesänge von Johannes Brahms, weitgehend in chronologischer Folge ihres Entstehens, vor der Pause von Natur und Abendstimmung, danach eher von Liebe und neuem Aufbruch handelnd – hat Fischer-Dieskau hier eigene biographische Akzente gesetzt?

Sein Partner am Klavier, Hartmut Höll, verkörpert jedenfalls den neuen Aufbruch, die neue Generation; er geht wohl ideal auf die Intentionen des Sängers ein, erfaßt die Atmosphäre eines Liedes bereits bei der optischen Kontaktaufnahme von Sänger und Pianist zu Beginn; die harmonische Geschlossenheit des Vortrags verweist aber auf ein hohes Maß an Harmonisierung der Intentionen beider Künstler. Die Beobachtung, daß das fabelhafte Klavierspiel Hartmut Hölls Fischer-Dieskau enorm zu beflügeln schien, ist sicher nicht übertrieben. Ovationen, fünf Zugaben, ein musikalisches Erlebnis.

Andreas Bomba

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