Zum Liederabend am 10. Dezember 1984 in Berlin


    

     Berliner Morgenpost, 12. Dezember 1984     

Fischer-Dieskau in der Deutschen Oper

Der Tragiker unter den Liedsängern zielt aufs Ganze

     

Drei Schumann-Lieder als Vorspann, darauf die großen Zyklen: der "Liederkreis" op. 24 und die "Dichterliebe". Dietrich Fischer-Dieskau macht es sich in seinem Heine und Schumann gewidmeten Liederabend in der Deutschen Oper nicht leicht.

Aber wann hätte er das überhaupt je getan? Sein Vortrag ist exemplarisch wie eh und je. Sein Singen besitzt die alte Intensität, die alte Phantasie und Sorgfalt: die Kraft der Erleuchtung. Das ist es: Fischer-Dieskau illuminiert singend die Lieder. Er macht sie poetisch wie musikalisch transparent im selben Atemzug. Er weiß immer mehr, als ihre Verse und ihre Melodie: worauf Liedkunst hinaus läuft - und das ist die Aussöhnung von Wort und Ton, selbst noch in der dramatisch wirkkräftigen Kontradiktion beider Komponenten.

Hinzu kommt etwas anderes: Fischer-Dieskau, der einzigartige Komödiant der Oper, ist der Tragiker unter den Liedersängern. Er versteht, warum sich Schumann gerade diesen (oder jenen) Text wählte und in welche musikalische Reihenfolge er ihn zwangsläufig einrücken ließ.

Fischer-Dieskaus Interpretationen zielen eben immer aufs Ganze. Das macht seine Programme auf die anregendste Art exemplarisch.

Fischer-Dieskau-Fans mögen darüber streiten, ob er dieses oder jenes Lied einst betörender sang, schmelzender in der Tongebung, lockerer in der Stimmführung. Doch das alles ist gleichgültig. Im Aufbau der Zyklen und ihrer Auslegung ist Fischer-Dieskau frisch und neu wie eh und je, und darauf allein kommt es an.

Jeder Liederabend ist ihm immer erneut eine Premiere: eine Herausforderung seiner eminenten musikalischen Darstellungskraft.

Mitunter scheint es, als sei Fischer-Dieskau in seiner Auslegung konzilianter geworden, nachsichtiger. Natürlich nicht mit sich selbst, sondern mit den Liedern. Er züchtigt sie nicht mehr mit interpretatorischem Übereifer. Er genießt sie. Daraus wiederum resultiert der neue Spaß, sie zu singen. Die selbst auferlegte Verpflichtung, dem Abendland wie dem Morgenland im Vortrag des deutschen Liedes Vorbild zu sein, scheint dem Künstler von den Schultern genommen.

Was bleibt, ist das nie endende interpretatorische Verwundern über die unausschöpfbare Köstlichkeit der Verbindung von Wort und Ton im Lied und ganz besonders bei Schumanns musikalischer Pirsch auf die wetterwendischen Gedichte von Heinrich Heine.

Gab es je gegensätzlichere Naturen als diesen Komponisten und diesen Dichter? Vielleicht zünden überhaupt erst Mißverständnisse die höchste Kunst. Immerhin – ein prachtvolles Einverständnis ist noch zu bezeugen: Hartmut Höll, der glänzend mitgestaltende Musiker am Klavier, verstand sich auf Fischer-Dieskau ebenso wie auf Schumann. Haushoher Beifall für beide.

Klaus Geitel

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     Tagespiegel, Berlin, 12. Dezember 1984     

"Die alten, bösen Lieder"

Dietrich Fischer-Dieskau in der Deutschen Oper

    

"... verdorben, gestorben": mit diesen Worten verklang ein Robert-Schumann-Liederabend, den Dietrich Fischer-Dieskau zusammen mit dem Pianisten Hartmut Höll in der Deutschen Oper Berlin gab. Der kompromißlose Schluß bleibt charakteristisch im Ohr, bedeutete er doch in der Folge der Zugaben nach der "munteren" Goethe-Vertonung "Sitz ich allein" die endliche Rückkehr zum romantischen Bewußtseinsgrad Heinrich Heines, dem das ganze Konzert gewidmet war. "Dieses ist ein wirkliches Volkslied, welches ich am Rheine gehört", schreibt der Dichter über "Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht" – und Fischer-Dieskaus leise Interpretation läßt, scheinbar einfach wie die Musik, spüren, daß der Volkston sein Zwielichtiges hat.

Da es sich bei diesem Kunststück um die siebente Zugabe handelte, sei zunächst unter dem Eindruck der großen Zustimmung des Publikums angezeigt, daß der Stimme Fischer-Dieskaus an diesem Abend alles zu sagen möglich war, was der Sänger ausdrücken wollte. Und vielleicht ein bißchen mehr: denn es scheint in den Zwischenstufen des Ausdrucks etwas zuletzt Unberechenbares während des Singens in die Gestaltung einzutreten, das sie bei allem Festgelegten der Dynamik und Artikulation in tatsächlichem Wortsinn einmalig macht. Darin liegt und bleibt das Abenteuer dieser gespannt-spannenden Interpretationen, dem als Absicherung die penible Kontrolle des Musikers Fischer-Dieskau auf Punkt und Komma dient.

Natürlich hat es mit der physischen Disposition zu tun. Wenn aber Fischer-Dieskau heute einmal in dem "Dichterliebe"-Lied "Ich grolle nicht" bei der Stelle "Und sah die Schlang’, die dir am Herzen frißt" mit vollem Risiko an die stimmlichen Grenzen geht, so wird die existenzielle Gefährlichkeit einer solchen Lyrik-Zeile stärker als je betont. So unterwerfen sich die Interpretationen immer wieder der Frage, ob es bei den "alten, bösen Liedern" noch neue Ausdrucksbereiche gibt. Sie finden sich.

Es war schön und eindringlich, einem reinen Heine-Schumann-Programm zuzuhören, sich einzuhören, weil eben das Unfaßbare, Transzendente, welches das Zeichen dieser Lieder ist, dem Timbre des Sängers sehr entspricht. Er hatte den Zyklen Opus 24 und Opus 48 drei Einzelstücke ("Mein Wagen rollet langsam", "Es leuchtet meine Liebe" und "Abends am Strand") vorangestellt und die Stimmungseinheit der Trauer, die von glücklichen Inseln träumt, in der Vielfalt gewahrt: selbst ein so feuilletonistisches Lied Heines wie "Ein Jüngling liebt ein Mädchen" kehrt zu diesem Bewußtseinsstand zurück, und das Lied "Im wunderschönen Monat Mai" nimmt ihn voraus als Vergangenheitsbild eines Schönen, das einmal war.

Die Beziehung zur "Dichterliebe" knüpfte das letzte Lied des Liederkreises Opus 24 "Mit Myrten und Rosen", wo nach dem Heineschen "Buch der Lieder" ebenfalls das Motiv des Einsargens von Liedern angesprochen wird. Und auch hier die Utopie als Hoffnungsschimmer, die Fischer-Dieskau mit einer geheimnisvollen Veränderung der Tongebung belegt :"Doch aufs neu’ die alte Glut sie belebt .... Und es wird mir im Herzen viel Ahnung laut", bevor das Lied ins Adagio von "Wehmut und Liebeshauch" sinkt. Es ist ein Abend der Brechungen, vom Virtuosenstück "Die Rose, die Lilie", in dem Fischer-Dieskau die Anweisung "Munter" mit artifiziellem Glanz realisiert, bis in die vielen Nuancen der Desillusionierung, des schattenhaften "Zerfließens" aller Träume. Dazwischen gibt es unter anderem eine Ebene, die der interpretierende Künstler mit Staunen zu registrieren scheint: daß das Bildnis unserer Lieben Frau im Dom des "großen heiligen Cöln" der Liebsten "genau" gleicht – dies "genau" klingt so undefinierbar irritiert, als wisse der Sänger selbst in diesem Augenblick nicht, was er davon zu halten hat.

Hier wie in anderen Nachspielen, etwa bei dem von beiden Künstlern ganz aus der rhythmischen Bewegung gestalteten "Das ist ein Flöten und Geigen" und besonders beim Fortsingen des ganzen Zyklus in der Begleitung des letzten Liedes, steigerte sich Hartmut Höll zum gleichberechtigten Klavierpartner. Fischer-Dieskaus rein musikalische Mittel sind imstande, den individuellen Trauerton in seiner Pianissimo-Kultur gleichsam zu neutralisieren, wenn der Dichter in der Sprache der Blumen spricht "Sei unsrer Schwester nicht böse" (und Hartmut Höll gewinnt dem stillen Nachspiel etwas Energie zurück), indes beruht die Anschaulichkeit des "großen Sarges" auf deutlich ausmusizierter Melodie mit schön gesungenen Sexten- und Septimen-Intervallen..

Fischer-Dieskau nimmt die Texte heute womöglich noch ein wenig schwerer als früher, von der Ironie mehr in Richtung auf Identifikation. Aber gerade ein solcher konzentrierter Abend erweist, daß auch sie der Interpretation standhalten, daß sie sich auf deren Goldwaage legen lassen, weil ihre Poesie ohne Larmoyanz ist und klar und rational. Dies sonderbarerweise auch in einem Lied wie "Dein Angesicht" (eine der Zugaben), das in der Schwebe läßt, ob das Schöne, das sterben muß, nicht längst gestorben ist.

Sybill Mahlke

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