Zur Liedermatinee am 1. April 1984 in Berlin


     Berliner Morgenpost, 3. April 1984     

Liedermatinee Fischer-Dieskau

Wenn der Sänger dem Dichter und Komponisten unter die Arme greift ...

     

Obwohl Dietrich Fischer-Dieskau sich, gottlob, keineswegs rar macht im Konzertleben, besitzen seine Auftritte heute Seltenheitswert. Fischer-Dieskaus Kunst des Liedvortrages, dieses nachschöpferische, vielgestaltige Lebendigmachen des Ineinanderwirkens von Musik und Poesie in den unterschiedlichsten Spielarten, diese besondere Kunst der musikalischen Poetik, beherrscht wohl niemand so wie er. Sie galt es in der ausschließlich Brahms gewidmeten Matinee in der Deutschen Oper erneut zu bewundern.

Es ist immer wieder faszinierend zu erleben, wie Fischer-Dieskau ein Lied in eine eigene kleine Welt verwandelt und selbst belanglosen Textstellen noch Glaubwürdigkeit verleiht. Wenn nötig, greift der Sänger dem Dichter und gelegentlich auch einmal dem Komponisten als Interpret unter die Arme. Man muß ihn eigentlich als einen singenden Psychoanalytiker verstehen, der die Seelenzustände seiner Klienten hinter den Worten und Tönen aufzuspüren und sie zu erklären weiß – auch und gerade bei Brahms.

Das "überpersönliche Bild der Natur", wie Fischer-Dieskau in einem Beitrag zum Programmheft schreibt, entsteht in den Liedern von Brahms eben doch aus einer ganz subjektiven Perspektive. In "Wie rafft’ ich mich auf" kam das gleich entschieden zum Ausdruck und zog sich wie ein roter Faden durch das dramaturgisch äußerst geschickt aufgebaute Programm.

Am Flügel saß der junge Hartmut Höll. In ihm hat Fischer-Dieskau einen schlechthin kongenialen Partner gefunden, einen idealen Liedbegleiter, wie es ihn heute unter den Pianisten nur selten gibt.

W. Z.

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     Der Tagesspiegel, Berlin, Datum unbekannt    

Nachtrag zum Brahms-Jahr

Liedermatinee Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll

    

Die bekannten Brahms-Lieder "Wie bist du, meine Königin", "Wir wandelten", "Ruhe, Süßliebchen" aus der "Schönen Magelone", "Ständchen" und schließlich die innig versunkene "Feldeinsamkeit" folgten erst als Zugabe. Mit ihrem eigentlichen Programm, das ursprünglich schon für die Berliner Festwochen 1983 angekündigt war, stellten Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll dagegen den unbekannteren Brahms vor, nicht den Komponisten lockerer Volks- und Liebeslieder, sondern den problematischen Menschen, der Enttäuschungen durch kauzigen Humor verdeckt, der fehlende Liebe durch bürgerliche Ehre, durch "der Ehre Regenbogen", wie es bei Gottfried Keller heißt, zu ersetzen versucht. Wer dieser Liedermatinee in der Deutschen Oper aufmerksam zuhörte und dabei auch die sorgfältige Zusammenstellung der Liedgruppen beachtete, dem mußte schließlich ein plastisches Bild des Menschen Johannes Brahms vor Augen stehen, der nirgends sonst autobiographisch so deutlich wird wie gerade in seinen Liedern.

Als wollte Dietrich Fischer-Dieskau tradierte Vorstellungen vom stets maßvollen Brahms umstoßen, gestaltete er zu Beginn die Gesänge der Liebesqual mit besonders großer Breite des Ausdrucks Beim Mörike-Lied "An eine Äolsharfe", das Hartmut Höll im silbrig glitzernden Klavierdiskant begleitete, verblieb er noch im balladesk erzählenden Tonfall, um dann aber in den folgenden Gesängen nach Platen und Daumer dem aufbrausenden Ton der Verzweiflung mit realistischer Bühnenpräsenz Raum zu geben. Man könnte sich darüber streiten, ob die Dramatik des Ausdrucks nicht schon gelegentlich die Grenzen der Liedgattung überschritt. Unstrittig ist dagegen, daß Dietrich Fischer-Dieskau und mit ihm der kongeniale Hartmut Höll am Klavier alle Nuancen des Textausdrucks mit großer Genauigkeit und suggestiver Intensität wiedergaben.

Bei der nostalgisch tröstenden "Abenddämmerung", dem munter verharmlosenden Volkslied "Der Gang zum Liebchen" und dem Naturbild "Auf dem See", die den lyrischen Gegenpol bildeten, bezauberten Sänger und Pianist durch ihr intensives Piano, das im zweiten Programmteil auch im Lied "Geheimnis" eine ähnlich starke Wirkung hervorrief.

Der Platz reicht nicht aus, um die Interpretation aller zwanzig Lieder und Gesänge eingehend zu würdigen, auch um kleinere kritische Anmerkungen zu dem vielleicht etwas schnellen "Auf dem See" und der etwas zu lauten "Serenate" detaillierter auszuführen. Deshalb soll hier aus dem zweiten Programmteil nur das Lied "Therese" nach Gottfried Keller herausgegriffen werden. Vordergründig könnte es als neckischer Gesang einer reifen Frau an einen "Milchjungenknaben" mißverstanden werden. Die sinnende Zartheit, mit der der Sänger jedoch gerade dieses Lied anstimmte, die darstellerische Feinheit, mit der er noch hinter leichter Ironie das tiefe Leiden versteckte, verriet, wie intensiv er sich mit diesen Liedern auseinandergesetzt hat. Dietrich Fischer-Dieskau ist eben doch mehr als "bloß" ein glänzender Sänger und Darsteller.

Albrecht Dümling

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