Zum Liederabend am 20. März 1984 in Mannheim


Mannheimer Morgen, 22. März 1984

Kein herber, aber ein herbstlicher Brahms

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll im Mannheimer Rosengarten

Die Liederabende Dietrich Fischer-Dieskaus sind immer auch Seelenporträts der Komponisten, denen er sich widmet. Er bedient sich der Texte, die sie vertonten, als Wegweiser in das Innere des Künstlers. Doch die Lieder von Johannes Brahms, die Fischer-Dieskau zu einem Sonderkonzert von Pro Arte in den Musensaal des Mannheimer Rosengartens führten, verweigern sich dieser Innenschau weitgehend. Zum einen weil es kaum Äußerungen von Brahms gibt, die einen Bezug zwischen seinen Lebensstationen und seinen Liedern herstellen; zum anderen weil er hauptsächlich zu dichterischen Vorlagen griff, die ihn melodisch inspirierten. Der Inhalt spielte eine untergeordnete Rolle.

Darum gruppiert Fischer-Dieskau die Lieder wohl auch nicht nach Thematik und Stimmung, sondern er stellt sie – mit einer unbedeutenden Ausnahme – in eine chronologische Reihenfolge. Daß er dennoch ein Bild des Komponisten und Menschen Johannes Brahms zu zeichnen versteht, bestätigt den Analytiker Fischer-Dieskau ein weiteres Mal.

Die meisten der ausgewählten Lieder sprechen zwar von Trostlosigkeit, Reue,. unerwiderter Liebe und Tod. Aber wenn Fischer-Dieskau sich ganz ihrer Musik überläßt, wenn er die Strophen verhalten und schlicht, wie aus einem Guß singt, dann kann man miterleben, wie die Gesetzmäßigkeiten der Brahms-Melodien den romantischen Hang zur verzweiflungsvollen Gebärde, zur Hingabe an den Schmerz bezwingen. Die kompositorische Form leistet dem Ausufern, der Auflösung Widerstand; der Komponist entzieht sich der Untergangsstimmung.

So ergeben sich hin und wieder erhebliche Diskrepanzen zwischen Text und Vertonung, die Fischer-Dieskau so nicht dulden will. Von ihm, der mal mehr mal weniger dazu neigt, das Wort über die Melodie zu stellen, und die Ausdeutung nicht allein dem Komponisten überläßt, erwartet man geradezu, daß er diese Passagen zu erkennen gibt. Er weist allerdings zu heftig darauf hin, indem er seinen hellen Bariton über die Grenzen hinaus fordert oder die Färbung der Worte so ausgesucht bedeutungsvoll vornimmt, daß der Gesangsfluß, die Einheit der Melodielinie unterbrochen wird.

Da bekommt dann etwa im Lied "Wie rafft’ ich mich auf" die Pracht der sacht funkelnden Sterne auf dem musikalischen Höhepunkt keinen überwältigten Ausdruck, sondern einen bedrohlichen, störrischen Unterton. Und die volksliedhafte Vertonung "Therese" wird durch die weltweise Ernsthaftigkeit des Vortrags unangemessen überhöht.

Doch Fischer-Dieskau beweist auch wieder, daß er um den Zauber des Einfachen weiß. Der "Abendregen", "Auf dem Kirchhofe" und die letzte der vier Zugaben, die "Feldeinsamkeit", erhalten durch zartfühlende Nuancierung und durch ungemein ruhigen Piano-Gesang eine ergreifende Wehmut, eine melancholische Schönheit, die in Fischer-Dieskaus Psychogramm offenbar bezeugen soll, daß der alternde Johannes Brahms in Frieden mit sich lebte. Hier ist überhaupt nichts von dem herben Brahms zu spüren. Hier zeigt sich viel eher ein herbstlicher Brahms, der ohne Erregung ans Abschiednehmen denkt.

Seit Jahren hat es sich Dietrich Fischer-Dieskau zur Pflicht gemacht, seine Begleiter zu wechseln, um immer neue Anregungen aus der Zusammenarbeit zu beziehen. Der junge Hartmut Höll, mit dem der Sänger jetzt durch Europa reist, ist noch keineswegs ein Nachfolger von Svjatoslav Richter, Günther Weißenborn oder Jörg Demus – Pianisten, die der Sänger als Partner mitbrachte. Hartmut Höll kann noch nichts Wesentliches zur Brahms-Interpretation beitragen. Er konzentriert sich zwar sehr auf die tonmalerischen Details, doch der Musik, vor allem des herbstlichen Brahms, kommt er nicht auf den Grund.

ML


  

     Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg, 23. März 1984  

Auf einsamer Höhe

Dietrich Fischer-Dieskaus Brahms-Liederabend im Mannheimer Rosengarten

   

Nach "Feldeinsamkeit", der vierten (und letzten) Zugabe, herrschte zehn Sekunden lang völliges Schweigen, ehe der Schlußapplaus einsetzte: Das sind die kostbaren Momente, in denen der Liedsänger das Innerste seiner Hörer berührt, sie betroffen, mitfühlend gemacht hat. "Mir ist, als ob ich längst gestorben bin" – dieser für Brahms’ Einsamkeitston und für die die Resignation überwindende Abklärung so zentrale Satz besagt das Ende der Emotion, der Unrast, der Wünsche. Dies war der Punkt der Übereinstimmung von Fischer-Dieskaus Interpretation mit Brahms’ Aussage. Seine Gesamtaufnahme aller Lieder Brahms’ mit ihren von Studiokälte durchwehten Aufnahmen rühren weniger als seine Live-Interpretation.

Der erste Teil erzählte zunächst von einem, der aus einem unbefriedigenden Lebensverhältnis ausbrechen will (op. 32, Nr. 1, 2, 4 und 5), der nach dem Trennungsschmerz Frieden findet im Gedenken an dahingegangene Jugendfreunde und –freuden und der schließlich einem neuen Liebchen ergeben ist, das "blaugrau, blaue Äuglein" besitzt (op. 69,5) – da hätte auch op. 59,8 "Dein blaues Auge" hineingepaßt. Sollte der zweite Teil des Abends ebenfalls eine Geschichte erzählen? Geschehen ließ sich nicht erkennen, wohl aber ergaben die Stücke zusammengezählt eine Liebeserklärung, in der nur op. 72,5, der Dialog mit der kräftezehrenden Flaschendroge, herausfiel und am Ende das resignative "Maienkätzchen" op. 107,4 stand. Doch in den Zugaben wurde diese Linie fortgesetzt: Die Liebeserklärung an die Domina: "Wie bist du, meine Königin" gehört zwar zum leidenserfüllten op. 32, kann aber isoliert auch positiv verstanden werden. Sie wurde gefolgt von "Wir wandelten" (op. 96,2), "Der Mond steht über den Bergen" (op. 106,1) und, wie erwähnt, "Feldeinsamkeit" (op. 86,2).

Fischer-Dieskau wird bewundert, und nach wie vor sind seine Hörer völlig zu recht hingerissen von seiner Stimme, von seiner Fähigkeit, mit dieser Stimme eine Vielfalt farbiger Valeurs zum Klingen zu bringen. Rühren, ergreifen will er nicht, darin ein Kind der antiromantischen Nachkriegsjahrzehnte, die jeder Verführung über das Gefühl, damit auch der Expressivität, jeder Emphase mißtrauten, denn Verfall und Mißbrauch romantischer Ausdrucksmittel waren noch frisch im Gedächtnis. Fischer-Dieskaus Linie, sein Stil besteht darin, daß er seine Hörer sich aufs Wort besinnen läßt, das er deutlich wie kaum ein anderer Liedsänger vor ihm vorträgt. In der Präzision und Geschlossenheit seines Interpretationsstils liegt wohl auch ein Geheimnis seines Erfolgs durch die Jahrzehnte. Daß dieser antiromantische, sehr persönliche und doch zeittypische Interpretationsstil zustandekommt durch viele kleine Verstöße gegen den Notentext, gegen die Vortragsbezeichnungen und gegen die zu Brahms’ Zeit üblichen und daher vom Komponisten mitgedachten Aufführungsgewohnheiten, hat an seinem Erfolg bisher nichts mindern können.

So fing beispielsweise der Abend wenig vorbildlich damit an, daß Fischer-Dieskau das Rezitativ, welches "An eine Äolsharfe" eröffnet, nicht im Charakter eines Rezitativs, sondern "a tempo", mit gemessenen Notenwerten, und die von Brahms notierten Appeggiaturen wie normale Töne sang, daß er innerhalb des Piano in der Mitte der letzten Strophe eine Steigerung bis zum Forte anbringt und dadurch die zarte Schlußemphase versäumt. Doch Detailkritik zielt vorbei, denn solche Details der Aufführung, die heute jeder Student anders lösen würde, ja muß, resultieren aus dem Stilwollen, aus dem Bestreben, jene Emphase und jenen das Herz der Zuhörer rührenden Ausdruck sorgfältig zu meiden, der für Brahms unveräußerlicher Bestandteil seiner kompositorischen Absicht gewesen ist. Gegen einen Liedsänger von so überragendem Format mit einem neuen Stilbewußtsein anzutreten, in welchem die authentische Aufführung wieder angestrebt wird, bedeutet daher, erst einmal den überragenden stimmlichen, technischen Fähigkeiten sich zu nähern, mit denen er sich trotz einer Stimme, deren Schwächen ihm mitunter hörbar zu schaffen machen, in diese einsame Höhe emporgearbeitet hat.

Vom zweiten Künstler des Abends, von Hartmut Höll, kann hier wenig gesagt werden: Sein überragendes Können wurde wohl in jedem Augenblick deutlich, doch war seine Rolle genau definiert. Die leisen Töne überwogen, auch wo Brahms im Klavier Forte notiert, und wenn Höll sich, wie zum Beispiel in op. 32,1 im Zwischenspiel ausdrucksvoll hervortat, kam gewiß der folgende Einsatz Fischer-Dieskaus ungeduldig eine Nuance zu früh. Aber viel mehr als unglaublich feinsinnige Zwischenspiele bekamen wir von Hartmut Höll nicht zu hören.

H. H.

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