Zum Konzert am 1. Januar 1984


Der Tagesspiegel, Berlin, 3. Januar 1984 

Die Messe zum Fest

RIAS-Neujahrskonzert mit Uwe Gronostay in der Philharmonie

Von BBC London bis Montreal, Radio France bis Zimbabwe Broadcasting Corporation übernommen, konnte – beziehungsweise , wo noch nicht gesendet: kann – das RIAS-Neujahrskonzert sich hören und messen lassen in aller Welt. Der bekanntlich finanziell nicht allmächtige Sender hatte in der Philharmonie viele gute Kräfte konzentriert, um eine Aufführung der h-Moll-Messe Johann Sebastian Bachs zu präsentieren, die – vom Publikum herzlich applaudiert – klanglich-virtuosen Festcharakter trug im Sinn der Programmeinführung Hellmut Kühns: "Gesteigerte musikalische Schönheit als Kuppel des Werks bedeutet zugleich Gegenpol gegen die Passionsmusik."

Versteht sich, daß der Grundstock der Ausführenden im hauseigenen RIAS-Kammerchor bestand, der sich in der Tat in Bestform befand und jede Sechzehntel-Koloratur in den schnellen Sätzen, deren Tempi der Dirigent Uwe Gronostay flüssig nahm, mit vitaler Professionalität meisterte: zum Beispiel die Vivace-Fuge "Cum sancto spiritu". Dabei standen die Glanzlichter der Soprane über schlankem Satzbild, so daß die harmonischen Rückungen und Berückungen der Partitur bestätigt wurden.

Aber auch mit dem Radio-Symphonie-Orchester, das in kleiner Besetzung angetreten war, musizierte Gronostay in sachdienlichem Einvernehmen, und die Solisten Martin-Ulrich Senn, Günter Zorn und Hans Maile wurden unter anderen am Ende zu Recht gefeiert. Eine besondere Delikatesse bot die von dem Cellisten René Forest angeführte Continuo-Gruppe, deren Tasteninstrumente von Peter Schwarz (Orgel) beziehungsweise Marcus Creed (Cembalo) gespielt wurden. Mit zwei Celli, einem Kontrabaß und Orgel versehen, war sie imstande, einem Andante-Satz schwingenden Grund zu geben (Duett "Et in unum Dominum"). Aber die Continuo-Besetzung wurde so variabel gehalten, daß etwa aus der Flötenarie "Benedictus" ein – den Vokalsolisten eingeschlossen – Vier-Personen-Stück erlesener Kammermusik entstand.

Der Tenor war Heiner Hopfner, ein Oratorien-Sänger von instrumentaler Stimmführung, dessen Timbre sich mit dem der für die erkrankte Julia Varady eingesprungenen Sopranistin Mitsuko Shirai glücklich verband, um im Duett "Domine Deus" die parallel gesungenen, aber unterschiedlichen Texte "Jesu Christe altissime" / "Deus Pater omnipotens" mit ungewöhnlicher Klarheit zu verteidigen. Ganz introvertierte Linie, fügte sich die Altistin Julia Hamari mit dem "Agnus Dei" in den Orchestersatz aus unisono geführten Violinen und in diesem Fall erweiterter Continuo-Gruppe (mit zwei Kontrabässen), während Dietrich Fischer-Dieskau mit den Baß-Arien seine gespannte wortinterpretierende Subjektivität einbrachte.

Uwe Gronostays Interpretation exzellierte in den aufeinander bezogenen und aus einander entwickelten Tempi (der beiden Credos, im Confiteor des langsamen Teils im Übergang zum "Et expecto") und baute vor allem auf Finessen der Dynamik. So nahm er das "Et homo factus est" ganz ins Geheimnisvolle zurück, dies alles mit feinen Klangwirkungen.

Dabei breitete sich neben den Stücken des Trompetenglanzes eine gewisse einebnende Sanftheit über der Partitur aus, die mir zum Beispiel in einem Satz wie dem "Qui tollis peccata mundi" anfechtbar oder zu leichtgenommen erschien. Denn jene Textinterpretation, die Fischer-Dieskau vertritt in Gestalt einer ereignisreichen Artikulation, verträgt sich durchaus mit der Tatsache des Parodieverfahrens, aus dem große Teile der h-Moll-Messe gewonnen wurden. Hat doch Bach einen Satz ins geistliche "Osanna" übernommen, mit dem die frühere Fassung den weltlichen Herrscher begrüßte, indes dem "Crucifixus" ein geistlicher Satz zugrunde lag, der vom "Weinen" spricht. Solche das Parodieverfahren theologisch, wie Hellmut Kühn anmerkt, zudem musikalisch interessant machenden Beziehungen sind überall zu finden, und der Verdacht der Willkürlichkeit erübrigt sich. Dem "Qui tollis" liegt ein Vorbild "Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei" zugrunde, und die Klage, die auch auf "peccata mundi" zutrifft, ist sehr differenziert auskomponiert und verbindet sich in meiner Vorstellung mit einer geschärfteren Artikulation und Dissonanzbehandlung, als Gronostays Realisation sie anstrebte.

Sybill Mahlke

zurück zur Übersicht 1984
zurück zur Übersicht Kalendarium