Zum Konzert am 8. September 1982 in Berlin


     

     Der Tagesspiegel, Berlin, 10. September 1982     

     

Die unerhörte Steigerung

Mahlers achte Symphonie mit den Berliner Philharmonikern

      

Das tönende Universum - so sah Gustav Mahler selbst seine achte Symphonie, und "Symphonie der Tausend" hat man das Werk genannt, das in der Neuen Musikfesthalle auf dem Münchner Ausstellungsgelände 1910 unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt wurde. Leopold Stokowski verglich den Eindruck imaginär mit dem "Anblick der Niagarafälle für den ersten Weißen" und war einer von vielen der in den Konzerten anwesenden Künstler, die überwältigt waren, darunter Arthur Schnitzler und Thomas Mann. Kein Zweifel, daß der Dirigent Gustav Mahler als Anwalt seines kompositorischen Anliegens, diesem untrennbar verbunden, ein unerhörtes Faszinosum darstellte: "Und die Leute erbebten unter seiner knappen, pantherhaft-heftigen Gebietergeste", beschreibt der Kritiker Berrsche, der im übrigen von dem Komponisten Mahler nichts gehalten hat, diesen Konzerteindruck, und er charakterisiert: "Das war die Ekstase eines Fanatikers... ein Savonarola-Temperament."

Den eisernen Organisationswillen, der damals nötig war, um zusätzlich zu Münchner Chören je 250 Choristen aus Leipzig und Wien heranzuholen und außerdem die Verkehrsbetriebe der Stadt erfolgreich zu veranlassen, daß die vorüberfahrenden Straßenbahnen während der Aufführung das Klingeln unterließen, ersetzt in Berlin 1982 die Organisation der Berliner Festwochen in der für das Werk sehr geeigneten Philharmonie. Und da Klaus Tennstedt, der vorgesehene Dirigent, ausfiel, boten sich andere zum Ersatz an, so Moshe Atzmon, der die Aufführung kurzfristig übernahm. Wenn es Atzmon auch nicht immer gelang, unter diesen Umständen mehr zu sein als ein leidlich souveräner Koordinator des Riesenensembles, das außer dem Podium und dem Chorraum die Blöcke E und H vereinnahmte sowie mit "isoliert postierten" Trompeten und Posaunen die Empore knapp unter der Decke - so hatte die Wiedergabe doch dokumentarischen Grund und einiges mehr.

Im Zeitalter der Elektronik ist die Potenzierung der Mittel ins quasi Unendliche, wie Mahlers akustische Besetzung sie intendiert, nicht gealtert. Wenn im Hymnus des ersten Teils ("Veni creator spiritus") das Plenum "Accende lumen sensibus" im Scharoun-Bau aufrauscht, zeugt diese Musik von der Sehnsucht des Menschen zum Überfliegen der irdischen Möglichkeiten, zur Steigerung schlechthin. Zur gewaltigen Architektur scheint sie im Gloria zu gerinnen: vom Fundament der Pauke zum Solosopran in der klingenden Kuppel.

Die beiden wohl wesentlichsten Protagonisten des Abends sind damit angesprochen: Julia Varady als überglänzender Sopran, in ihrer interpretatorischen Unbedingtheit immer hinreißend dem Sehnen der Musik auf der Spur, und das Berliner Philharmonische Orchester mit Konzertmeister Michel Schwalbé an der Solo-Violine, Zoeller an der Flöte, Thärichen an der Pauke (Orgel: Wolfgang Meyer). Wenn es in kompakteren Sätzen unter den weiteren Vokalsolisten einzig Dietrich Fischer-Dieskau gelang, seine Linien angemessen zu verteidigen, so bezeugte das eine Artikulationskunst, die allen Mängeln der Differenzierung Widerpart bietet. Im zweiten Teil der Schlußszene aus Goethes "Faust", II. Teil, war Esther Hinds (Europa-Debüt) als Gretchen zu hören mit der musikalischen Enthobenheit des "Neige, neige, du Ohnegleichen" - Gesang, der sich identifizierte, technisch aber seltsam unstet wirkte. Keine hervorstehenden Eigenschaften bei den restlichen Solo-Stimmen: Maria Venuti, Ortrun Wenkel, Ruthild Engert, Horst Laubenthal, Thomas Thomaschke.

Es gehört sich indes, auch die übrigen Mitwirkenden hier zu notieren: den Chor des Norddeutschen Rundfunks, Kölner Rundfunkchor, Südfunk-Chor Stuttgart, RIAS-Kammerchor, Danmarks Radiokor und die Knaben des Staats- und Domchors. Denn die Chöre, deren Leiter Werner Hagen, Herbert Schernus, Heinz Mende, Uwe Gronostay, Svend S. Schultz und Christian Grube am Ende mit dem Dirigenten gefeiert wurden, verbanden sich zu großartigen Ensemble-Leistungen - zumal auch in den zurückgenommenen Partien des zweiten Teils, wo die Musik etwa bei den "Jüngeren Engeln" Schubertsche Naturidylle anklingen läßt. Gerade die Gefilde des im typischen Mahler-Ton Erhabenen ("Jungfrau rein..." und folgendes), die Klangfelder vor dem syllabischen Piano des "Chorus mysticus", auch Details im solistischen Bereich erbrachten innerhalb der heterogenen Aufführung anrührende Identifizierung der Interpreten mit musikalischen Schönheiten.

Sybill Mahlke

     


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