Zum Konzert am 26. Juni 1982 in Kiel


     

     Die Welt, 1. Juli 1982     

     

Zwei Uraufführungen zur Kieler Woche: Aribert Reimanns "Requiem" ...

Hiobs Not mit Gott und der Welt

      

Zum 100. Geburtstag der Kieler Woche eine Totenmesse? Natürlich hätten die Kieler Kulturoberen lieber zur Windjammerparade eine neue Oper angestimmt, aber Aribert Reimann wollte nach dem verpflichtenden Erfolg seiner Shakespeare-Oper "Lear" nun einmal keine Oper liefern, sondern sich einen langgehegten Wunsch erfüllen: ein Requiem zu schreiben - aber keines für die Toten, sondern eines für die Lebenden.

So sagt er es ausdrücklich, und so meint er es musikalisch: Wenn das "Dies irae" ausgetobt hat, wenn Gott in seiner Unerforschlichkeit Herr über irdische Gewässer und kosmische Nebel geblieben ist, dann sackt alle Wut und Verzweiflung zusammen. Übrig bleibt zuletzt - abweichend vom liturgischen Vorbild - die Bitte: "Dona nobis pacem".

Ähnlich wie Benjamin Britten, der zur Wieder-Einweihung der Kathedrale zu Coventry (Kiels Patenstadt) ein mit Antikriegs-Lyrik durchsetztes "War Requiem" schuf, unterminiert Reimann den altehrwürdigen Requiemtext mit einer gegenläufigen Textschicht. Der Berliner Komponist suchte sie nicht in Wort und Zeilensprung moderner Literaten, sondern in den Schächten des Bibelworts, in denen auch die Schrecken und Hoffnungen der Gegenwart immer noch Platz haben. Im Buche Hiob grub Reimann nach Spiegeln des Jetzt, Hier und Heute - und fand sie reichlich. Hiobs Not mit Gott und der Welt, prüfungshalber dem Gottesknecht auferlegt, legt der Komponist drei Gesangssolisten mehrsprachig in den Mund, voran Dietrich Fischer-Dieskau, für den Reimann - er weiß es selber nicht mehr ganz genau - das sechste oder siebte Mal eigens komponierte.

Julia Varady und Helga Dernesch (Sopran und Alt) nehmen sich nach dem Willen des Komponisten, der sich beim Schreiben immer bestimmte Sänger vorstellt, mehr der überzeitlich unverbrüchlichen Einsichten Hiobs an, während Fischer-Dieskau das ganze Seelendrama der Menschheit herauswürgt, die mit Hiobsbotschaften überschüttet wird. Dem Aufbäumen des ersten Teils folgt das Ruhigwerden des zweiten, in dem sich zunehmend ein "Laß fahren dahin" ausbreitet, welches am Ende in der immer tiefer absteigenden Tontreppe der tiefen Streicher sinnfällig wird, während Chor und Solisten in blockweisem Wechsel ihr "Dona nobis pacem" vorbringen.

Eine Friedensdemonstration im Hochland kultisch aufgearbeiteter Ästhetik? Die Zuhörer im Kieler Schloß zeigten sich spontan ergriffen. Und es war herauszuhören, daß sie auch begriffen hatten, was der Komponist ihnen in virtuoser Dramaturgie chorischer, solistischer und orchestraler Mittel als Botschaft nahebrachte. Eigentlich zogen an diesem denkwürdigen Abend alle an einem Strang: Komponist, Interpreten und Zuhörer. Dazu tat auch der RIAS-Kammerchor das Seine: in der Unerschütterlichkeit der Intonation und Deklamation des "roten Fadens", den Reimann sein läßt, was er seit tausend Jahren ist - Leitplanke in den Wirren der Zeiten.

Walter Gillessen, ehemaliger Kieler GMD und Ziehvater des Requiems, mußte mit erbärmlich wenig Proben auskommen. Trotzdem hätte man den Abend ruhig im NDR landesweit verbreiten sollen und können. Immerhin kamen die Berliner am Wochenende in den Genuß, "ihren" neuen Reimann im Radio zu hören.

Lutz Lesle


  

     Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Hamburg, 11. Juli 1982     

   

Reimanns "Requiem"

Das Wunder von Kiel

    

In einer Zeit, da sich die Künstler nicht mehr von Fürstens Gnaden nähren, sind die Musen mehr denn je auf die materiellen Schutzmächte Staat, Kommunen und elektronische Medien angewiesen. Aus ihrer potentiellen Macht, den Künstlern Auftrittsgelegenheiten zu verschaffen, dürften sie allerdings nicht das Recht herleiten, diese inhaltlich und formal an die Leine zu legen. Andernfalls stünde es schlecht um die Kunst, die sich nicht darauf einlassen kann, das vorgeblich Unabänderliche abzusegnen. Freiheit der Kunst heißt vielmehr, die Grenzen des Vorstellbaren im Prozeß der Hervorbringung "ins jeweils Äußerste vorzuschieben", auf eher unspektakuläre Art ins Werk zu setzen und im Werk zu sichern.

Das haben die Kulturoberen der Stadt Kiel letzthin zu spüren bekommen. Als der scheidende Generalmusikdirektor der Förde-Stadt, Walter Gillessen, seinen Brotherrn nahelegte, sich zum hundertsten Geburtstag der Kieler Woche mit einem Kompositionsauftrag an einen der hoffnungsvollsten (und Kiel bereits verbundenen) Tonsetzer der bundesrepublikanischen Gegenwart zu wenden, malten sich diese die Chance aus, ihr Geburtstagskind mit einer neuen Oper zu schmücken. Aber der Betraute wollte nicht - sei’s, daß er fürchtete, hinter seinen letzten, ruhmbedeckten Opernsproß zurückzufallen, sei’s (und dies ist gewißlich wahr), daß er seit Jahr und Tag mit dem selbsterteilten Auftrag schwanger ging, sich ein Requiem vom Herzen zu schreiben.

Ein Requiem zum hundertsten Geburtstag der weißen Segel? Aribert Reimann, Sohn eines Berliner Kirchenmusikers und einer Gesangspädagogin, wußte Beziehungsfäden zu knüpfen, unter denen der Kieler Operntraum rasch zerrann. Diese Fäden sind durchaus immateriell, aber sie zwingen: sie führen in Kiels Partnerstadt, ins englische Coventry, das von den Bomben der Luftwaffe anfangs des Zweiten Weltkriegs schändlich verheerte. Für die Weihe der wiederaufgebauten Kathedrale zu Coventry komponierte Benjamin Britten 1961/62 sein "War Requiem". Dietrich Fischer-Dieskau sang damals mit Peter Pears den Solopart.

Zwanzig Jahre danach wollte Aribert Reimann für seinen Sängerfreund Fischer-Dieskau wiederum eine Partie schreiben, die den ehrwürdig zeitentrückten Messetext in die Mangel nimmt, indem er ihm die Nöte der Menschen jetzt, hier und heute entgegenschleudert - um zu prüfen, ob die Missa pro defunctis der Verzweiflung des Daseins in einer wahngeschüttelten Welt standhielte. Da die Kirche sich Aufriß und Lösungsversuche existentieller Probleme auf ästhetischer Ebene nicht mehr leisten kann oder mag, fanden die Stadt Kiel und der Sender RIAS Berlin zueinander, wobei der Sender der Förde-Stadt seinen Kammerchor und drei außerordentliche Gesangssolisten "lieh": Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton), Julia Varady (Sopran) und Helga Dernesch (Mezzosopran). Kiel stellte sein Philharmonisches Orchester und den Dirigenten (Walter Gillessen).

Bei seiner Suche nach einem geeigneten "Kontratext" war Reimann auf das Buch Hiob gestoßen. Hier fand er, in Martin Luthers markiger Sprache holzschnitthaft und hautnah ausgestanzt, was er in Musik überführen wollte: den Urschrei des Gottsuchers, der Gewalt tausendfach erleidet, dem Gott den Weg vermauert und die Hoffnungen ausreißt.

Britten ließ in seinem "War Requiem" Antikriegslyrik gegen den Messetext anbranden. Reimann attackiert ihn mit mehrsprachigen Hiobsbotschaften: dabei findet er, jahrhundertealte Kirchenmusik reflektierend, zwischen mönchischem Cantus planus und bis zur Zwölfstimmigkeit aufwallender Polyphonie ein neues persönliches Idiom.

Der gläubige Protestant Reimann läßt das Wunder geschehen: Die Liturgie besänftigt den Aufruhr der Seele, spaltet am Ende das vorgegebene "libera me" ab, mündet statt dessen in ein großes, eindringlich wiederholtes Dona nobis pacem, während die tiefen Streicher, stufenweise immer tiefer absteigend, ein "Laß fahren dahin" andeuten.

Kaum ein Zuhörer, der nicht betroffen nach Hause ging. Dies festzustellen heißt: ein Ereignis melden. Denn Reimann schreibt keine Musik, die sich herkömmlichen Hörerwartungen anbequemt. Aber er verschmäht es auch, das jeweils aktuelle Hüh und Hott avantgardistischer Modedressuren nachzuschnalzen. Wer sucht, wie er, der findet eigene Wege.

Es kann und darf nicht genügen, das "Requiem" einmal im Saale aufzuführen und einmal über den Heimatsender des Komponisten, des RIAS Berlin, laufen zu lassen. Die Rundfunkanstalten (und übrigens auch die Schallplatten-Verlage) sollten sich um das Band reißen, also auch der NDR (in dessen Sendebereich Kiel liegt), der einen Kontakt zum Komponisten gar nicht erst herstellte, obwohl ein gestandener Kirchenmusiker die Musik dort hauptverwaltet. Es ist wohl so: Die Weltkinder müssen die rechten Töne ansingen, damit die Kirche sie womöglich auch entdeckt.

Lutz Lesle


    

     Kieler Nachrichten, 28. Juni 1982     

    

Die Botschaften Hiobs

Aribert Reimanns "Requiem" mit starker Resonanz in Kiel uraufgeführt

   

Betroffen und begeistert reagierte das Publikum beim 9. Symphoniekonzert im Schloß auf das herausragende kulturelle Ereignis der 100. Kieler Woche, die Uraufführung des "Requiem" von Aribert Reimann. Während noch der Ernst des Friedensgebets nachklang, wurden Komponist und Mitwirkende mit Ovationen gefeiert. Es kann sein, daß die Stadt Kiel, die 1978 durch ihren damaligen Generalmusikdirektor Walter Gillessen den Auftrag zu dem Werk gab, Musikgeschichte mitgeschrieben hat; denn Reimanns "Requiem" braucht den Vergleich mit großen historischen Totenmessen nicht zu scheuen. Es hat Zukunft.

Reimann hielt sich wie Brahms nicht an die Regeln der Liturgie. Daß sein Text, den er zu allererst verfaßte, nicht ins "libera me" (befreie mich), sondern ins "dona nobis pacem" (gib uns Frieden) mündet, ist die kleinste Abweichung. Ganz entschieden setzt der Autor Reimann dem Kirchenlatein sechs lebende Sprachen entgegen: eine Art Pfingstwunder. Freilich spricht nicht der heilige Geist, sondern es spricht Hiob durch die Menschen. Hiob: selbst ein Mensch. Und was für einer! "Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt!" So kommentiert er die fromme Bitte um ewige Ruhe. Es klingt wie ein bitterer Fluch. Der Kirchenfrömmigkeit konfrontiert Aribert Reimann die Botschaften Hiobs. Wer mit Schmerz und Tod ringt, der ist nicht leicht zu trösten, der klagt und klagt an, ringt und hofft, bevor er sich ergibt.

Der liturgische Text wird von einem gemischten Chor gesungen. In "Introitus", "Kyrie" und "Dies irae" gewinnt dieser die dramatische Wucht einer Volksmenge. Wie aufgeregtes Flüstern jäh in Aufschrei umschlägt, wie Schrecknis sich in expressive Klanggeste verwandelt, das hat - wie Reimann es sich dachte - musikdramatische Qualität. Doch der Chor kehrt immer wieder zurück zu melodisch verschlungenen polyphonen Sätzen, denen grundierende oder eigenständige Instrumentalstimmen beigesellt sind. Vom "Offertorium" an verschwindet jeder Bezug zur Oper. Der Chor erinnert durch ruhig-lineares Unisono an gregorianischen Mönchsgesang, durch antiphones Wechselspiel mit den Bläsern an Renaissance-Formen. In der Partitur sieht das wie Pfeiler und Maßwerk einer Kathedrale aus: strenge ästhetische Ordnung. Spiegelt sich darin Welt als geordnete Welt? Wenn ja, dann wäre das, was uns in der Musik und auch sonst chaotisch erscheint, nur Irritation des Bewußtseins.

Die Worte Hiobs sind drei Sängern anvertraut: Sopran, Mezzosopran, Bariton. Wie gewisse Merkmale der Satztechnik - zum Beispiel übereinandergeschichtete Dreiklänge - insgeheim auf den christlichen Trinitätsgedanken verweisen, so diese Solisten-Trias. Hineingewoben in die Symbolik ist, wie der Komponist im Gespräch verriet, aber auch die irdische Dreiheit von Frau, Mutter und Mann. Die Gesangslinien sind im ersten Teil außerordentlich spannungsreich, im zweiten Teil eher lyrisch, von einem Gefühl erfüllt, das den Tod als zum Leben gehörend annimmt. "Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt": ein wahrhaft dreieiniges Terzett.

Die Klangkombinatorik des Orchesters steht in enger Beziehung zum Text. Da wechseln Klangflächen mit verwickeltem Lineament, große Ballungen mit lichtem Satz, die Schrille des Jüngsten Gerichts mit der Sanftheit des "Agnus dei". Die Instrumentation wirkt herb. Reimann hat die hohen Streicher weggelassen, um mit Bratschen, Celli und Kontrabässen verschattete Farben zu erzielen. Bläser - Holz und Blech meist voneinander getrennt - bestimmen den Klang. Schlagzeug, später Harfen, greifen mit starken Akzenten ein. Auch hier wieder herrscht in der Partitur luzide Ordnung. Die Flächenakkorde sind penibel ausgeschrieben. Die Orchestergruppen, in Zeit-Klang-Symmetrien einander zugeordnet, bauen gleichsam an den Säulen und Streben eines imaginären akustischen Doms.

Mit der Interpretation seines Werks darf Aribert Reimann hochzufrieden sein. Walter Gillessen, der nun endgültig Abschied von Kiel nimmt, gelang eine bewundernswerte Koordination des rhythmisch wahrlich nicht immer einfachen Geschehens. Darüberhinaus spürte man, daß er sich in die besondere geistige Welt der Partitur eingelebt hatte, daß er Symmetrien, Spiegelungen, Umkehrungen, Verweisungszusammenhänge durchschaute und folglich auch mitzuteilen wußte, dies auf der Grundlage eines überwältigend guten Ensembles.

Keiner, der nicht den RIAS-Kammerchor wie ein Mirakel bestaunte. Die Sänger - wie die Solisten ein "Geschenk" der Stadt Berlin an die Landeshauptstadt Kiel zur 100. Kieler Woche - waren von Uwe Gronostay hervorragend instruiert, und sie sangen ihren schwierigen Part mit nie getrübter Klangreinheit und verblüffender Sicherheit. Gleichwohl wirkte das nicht routiniert, sondern interessiert. Das Werk fordert ganz sicher auch einen so perfekten und selbstbewußten Chor zu höchster Anstrengung heraus.

Die drei umjubelten Solisten setzten sich nicht minder engagiert für das "Requiem" ein. Die differenzierteste Partie lieferte Julia Varady, so energisch und so zart, so rein in der Geste und so tief im Ausdruck, daß sie sogleich und für alle künftigen Aufführungen einen Maßstab setzte. Helga Dernesch entfaltete gewaltige Stimmkraft über Chor und Orchester hinweg und bleibt vor allem als dramatische Gestalterin in Erinnerung. Dietrich Fischer-Dieskau versah Hiobs-Botschaften in einem durchgestalteten und durchdachten Espressivo mit vielen Valeurs und Nuancen, auch er natürlich im Vollbesitz dramatischer Kunst.

Für Kiel, kein Zweifel, war dies ein Ergebnis, von dem die Chronisten noch lange zehren werden.

Rolf Gaska


    

     Hamburger Abendblatt, 28. Juni 1982     

    

Eine flehentliche Bitte um Frieden

Aribert Reimanns "Requiem" auf der Kieler Woche uraufgeführt

    

Grandioser, bewegender Ausklang der 100. Kieler Woche 1982: die Uraufführung des "Requiem", das die Stadt bei dem Berliner Komponisten Aribert Reimann in Auftrag gegeben hatte. Reimann, der heute 46jährige, war schon früh, 1965, mit der Strindberg-Oper "Ein Traumspiel", in Kiel erfolgreich gewesen. Mit dem "Requiem" kehrt ein gereifter, seiner künstlerischen Ausdrucksmittel selbstgewisser Künstler zurück. Die Aufführung im Konzertsaal des Kieler Schlosses wurde zum aufrüttelnden, mit Ovationen beschlossenen Ereignis.

Reimanns "Requiem" mit seinem breit ausgeführten "Dona nobis pacem" am Ende, einer flehentlichen, von Trauer gezeichneten Bitte um Frieden, ist im Blick auf unsere von Kriegslärm und Zerstörung erfüllte Gegenwart entstanden. Es ist auch ein Gegenstück zu Brittens "War Requiem" auf die im letzten Krieg verwüstete Kieler Partnerstadt Coventry.

Wie Britten erweitert Reimann den lateinischen Text der Totenmesse um einen zweiten, mit ihm korrespondierenden. Hier sind es Passagen aus dem alttestamentlichen Buch Hiob in verschiedenen Sprachen, darunter auch Ungarisch: eine Verbeugung gegen die Sopranistin Julia Varady, eine der drei Solisten neben ihrem Mann Dietrich Fischer-Dieskau und Helga Dernesch.

"...aber wird einer nicht die Hand ausstrecken unter Trümmern und nicht schreien vor seinem Verderben", heißt es einmal, unüberhörbar aktuell, im "Dies Irae", dem "Tag des göttlichen Zorns".

In der äußerst dichten, hochexpressiven Vertonung, in der Reimann, weitgehend jede virtuose Ausschmückung der Texte meidet, spürt man ein anderes, großes Vorbild: die Strenge und Bitterkeit der "Ernsten Gesänge" von Brahms. Reimanns Musik freilich spricht die Sprache unserer Zeit. Sie ist in den Klangballungen, vor allem von Bläsern und Pauken, voller Härte und schriller Töne, treibt die Gesangsstimmen wiederholt in extreme Höhen – wechselt aber dann schnell in eine fast gregorianisch schlichte Ein- und Zweistimmigkeit hinüber. Reimann erreicht hier eine neue, breite und spannungsvolle Melodik, die ihresgleichen sucht.

Das Werk stellt an alle Interpreten hohe Ansprüche. Unter Walter Gillessens Leitung gelang eine bezwingende, geschlossene Wiedergabe, an der neben den drei Solisten der RIAS-Kammerchor und die Kieler Philharmoniker gleichen Anteil hatten.

Carl-Heinz Mann


 

     Zeitung unbekannt, Juli 1982     

   

Ovationen bei Reimanns "Requiem"

   

Mit anhaltendem Beifall und Bravo-Rufen wurde die Uraufführung des "Requiems" von Aribert Reimann im Kieler Schloß gefeiert. Die Ovationen des Publikums galten gleichermaßen dem 46jährigen Komponisten aus Berlin, den drei Gesangssolisten, dem RIAS-Kammerchor und dem um Violinen und Hörner reduzierten Philharmonischen Orchester der Stadt Kiel unter seinem früheren Chefdirigenten Walter Gillessen, dem die Initiative zur Vergabe dieses Auftragswerks aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der Kieler Woche mit zu verdanken ist.

Das Werk, eine Parallele zu Brittens "War Requiem", das für Kiels Partnerstadt Coventry komponiert wurde und inhaltlich einen Kontrapunkt zum allgemeinen Festwochenjubel bedeutet, kann für sich den Anspruch erheben, auch unabhängig von der aktuellen Friedensbewegung Ausdruck der Friedenssehnsucht unserer Zeit zu sein. Reimann gelingt durch die Einbeziehung von alttestamentlichen, in sieben Sprachen wiedergegebenen Texten des Buchs Hiob ein von starken Spannungen durchsetztes geistliches Werk der Klage und Anklage von weltweiter Dimension.

Der vier- bis zwölfstimmige Chor bewältigte die schwierige, manchmal fast gregorianisch anmutende, manchmal polytonale Materie konzentriert und mit hoher Könnerschaft. Dietrich Fischer-Dieskau beeindruckte mit stimm- und ausdrucksgewaltiger Gestaltung der aufbegehrenden männlichen Hauptgestalt. Deren "objektivierende" Partnerinnen, Helga Dernesch als kraftvoll flexible Mezzosopranistin und die Sopranistin Julia Varady mit einer bis in höchste Lagen hinein unerhört reinen, geschmeidigen und sensiblen Stimme, hatten große Momente.

Autor unbekannt


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