Zur Liedermatinee am 4. Oktober 1981 in Hannover


    

     Hannoversche Allgemeine Zeitung, ??. Oktober 1981     

Weisheit und Vision bei der "Winterreise"

Dietrich Fischer-Dieskaus Schubert-Matinee als Sternstunde im Opernhaus

     

Der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und der Pianist Jörg Demus – von der Niedersächsischen Staatsoper für eine Schubert-Matinee der "Winterreise" im ausverkauften Opernhaus gewonnen – zwangen das Publikum durch ihre suggestive Interpretation zu konzentriertestem Zuhören. Schwer zu sagen, ob es die vollkommene geistige und musikalische Gestaltungskraft des Sängers war, die das Zuhören zu einem Ereignis machte, oder die ungeheure physische Leistung, die 24 Lieder des Zyklus in eineinhalb Stunden als geschlossene Einheit ohne Pause zu singen. Es ist wohl beides zusammen, was das Phänomen dieses genialen Liedinterpreten ausmacht.

Dabei war es Fischer-Dieskau selbst, der in seinem Buch "Auf den Spuren der Schubertlieder" die Frage stellte, ob man "Die Winterreise" überhaupt öffentlich singen, ob man ein so intimes Tagebuch der Seele vor den unterschiedlich interessierten Ohren der Hörer ausbreiten soll. Diese Frage kann durch Fischer-Dieskaus Wiedergabe – vielleicht nur durch ihn allein – hundertprozentig mit "Ja" beantwortet werden. Denn so oft die Fischer-Dieskau-Fans gerade dieses Werk von ihm im Konzert, Rundfunk, Fernsehen oder auf der Schallplatte schon gehört haben mögen, sie erleben es von ihm bei jeder Gelegenheit in neuem Licht. Weil sich der heute 56jährige Künstler so viel von der Frische, Ursprünglichkeit und Spontaneität des ersten Erlebnisses seiner Kunst erhalten hat, wirkt sein Vortrag so unvergleichlich.

Keine Konvention, keine Routine, kein Manierismus schleicht sich in die Klarheit, Treffsicherheit und Weisheit seiner visionären Schubert-Gestaltung. Welch ideale Einheit von herzerfüllter und vergeistigter Auffassung! Welch vorbildliche Durchdringung von Wort und Musik! Man braucht den im Programm abgedruckten Text nicht mitzulesen, man versteht in Fischer-Dieskaus geschliffener Textartikulation jedes Wort. Ausgehend vom Wanderschritt und vom leichten Erzählton des Eröffnungsliedes "Gute Nacht" weiß der Sänger im weitgespannten Helldunkel der Stücke die tragischen Schatten, die tiefe Erregung der Vertonung von Wilhelm Müllers Gedichten auf das vielfältigste zu schattieren. Deshalb bekommt jedes Lied sein ganz eigenes Profil. Deshalb gelingt Fischer-Dieskau und seinem ausgezeichnet auf ihn eingestellten, musikalisch klug und technisch versiert mitgestaltenden Partner Jörg Demus alles klingend zu machen, was der 31jährige Schubert in seinem Todesjahr an Zeichnung und Farbe, an Empfindung und Klangmalerei in den Zyklus hineinkomponiert hat.

Fischer-Dieskaus Differenzierungsvermögen bis hin zum wundervollen Piano und Pianissimo spricht feinstimmig wie eh und je an, und zwar sowohl in der Mittellage wie im schwebenden Höhenregister. Die kernig fundierte Tiefe seiner Stimme ist im dramatischen Auftrumpfen nicht zu überbieten, trotzdem von aufgesetzt tragischer Pose, von opernhaft aufgeladenem Forte total entfernt. Kein Zweifel, Fischer-Dieskau wird als Schubert-Sänger von keinem anderen erreicht, er ist der intelligenteste, kunstvollste Liedinterpret unserer Zeit.

Eine Sternstunde im Opernhaus, eine Matinee, die denkwürdig bleibt, weil jeder von der großen Zuhörergemeinde des Sängers spürte, daß die "Winterreise" nicht eindringlicher gestaltet werden kann. Am Schluß langanhaltende Ovationen für Fischer-Dieskau und Demus. Das äußerst diszipliniert zuhörende und mitgehende Publikum wußte natürlich genau, daß durch noch so begeisterten Applaus keine Zugabe zu erzwingen ist. Was sollte und könnte denn auch nach dem "Leiermann", diesem Schlußpunkt am Rande des Todes noch gesungen werden?

Erich Limmert

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