Zum Konzert am 1. April 1981 in Düsseldorf


Rheinische Post, Düsseldorf, 3. April 1981 

"Faust"-Szenen in der Düsseldorfer Tonhalle

Wenn Schumann Engländer wäre

Mit der Aufführung von Robert Schumanns Szenen aus Goethes "Faust" im neunten Symphoniekonzert wurde das Düsseldorfer Schumannfest im Juni aus Anlaß des 125. Todestages vorbereitet. Der Grund für diese Vorwegnahme war typisch für die Zeit und für die Zwänge ihres Musik-"Betriebs". Die vielen teuren Solisten waren für die gleichzeitig stattfindende Schallplatten-Einspielung leichter zusammenzubringen als im Juni, an der Schwelle zum Festspielsommer.

Muß das sein, ein Schumann-Fest? Die Frage darf mit Nachdruck bejaht werden. Denn mit kaum einem anderen Komponisten ist die Nachwelt härter und unduldsamer verfahren. Was ist von dem großen Werk-Katalog ins Repertoire gekommen? Nur das Erlesenste. Die Symphonien, ein paar "junge" Klavierwerke, zwei Dutzend Lieder, das schönste romantische Klavierkonzert, die Manfred-Ouvertüre. Basta. Alles andre trägt halt mehr oder minder starke Spuren der bedauerlichen Geisterkrankheit.

Dieses bequeme Vorurteil von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ist wichtiger, als die Archive nach noch mehr barocker Konfektionsware zu durchkramen. Wäre Schumann nicht als Deutscher – inmitten dieses verwirrenden Gedränges von musikalischen Genies – geboren, wäre er als Franzose oder (gar) als Engländer auf die Welt gekommen: seine "Faust"-Szenen und vieles andre mehr gehörten zu den Nationaldenkmälern.

Die zweieinhalbstündige Aufführung in der restlos ausverkauften Tonhalle endete mit einer Begeisterungskundgebung. Sie galt nicht nur den Star-Solisten. Auch das schwer als Ganzes zu begreifende Werk, an dem Schumann vom 34. Lebensjahr bis kurz vor seinem geistigen Ende im Jahre 1853 gearbeitet hat, machte einen starken Eindruck.

Wer "seinen" Faust kennt, begreift, daß es bei diesen Szenen nicht um den Versuch einer musikalischen Transformation der Idee oder der dramatischen Handlung geht, daß Schumann vielmehr, von dem übermächtigen Komplex der Dichtung hingerissen, diese und jene Szene je nach dem augenblicklichen Ausdrucksbedürfnis in Klang umgesetzt hat. Lediglich das Finale, die "Bergschluchten"-Hymne, läßt programmatische Absicht und zusammenfassende Tendenz erkennen. Sonst aber: Annäherungen an "Faust". Umkreisungen.

Die Musik ist in all ihren Qualitätsabstufungen echter Schumann. Das heißt, man findet nicht eine geschmacklose, seichte, sentimentale Sequenz. Was besteht denn neben dieser "Faust"-Musik? Doch wohl nur Schuberts grandioses Lied "Meine Ruh’ ist hin..." und Mahlers Beschwörung der Schluß-Szene in der "Achten".

Unmöglich, hier die Schönheit, die Tiefe, die Plastik, das Hintergründige, die atmosphärischen Valeurs von Einzelheiten zu beschreiben. Daß die Szene im Dom mit den drohenden Dies-irae-Einschüben, daß die Szene der "Vier grauen Weiber" und die mit den Lemuren von unmittelbarer, bedrängender Wirkung sind, daß sie dramatische Schlagkraft besitzen, wurde in der hervorragenden Aufführung klar. Dagegen fehlt dem Hilfeschrei von Gretchen, "Ach neige..." die melodische und formale Gewalt von Schuberts verwandtem "Meine Ruh’ ist hin". Und als wirklicher Fehlgriff wirkte der angestrengt und widersinnig bis zur Ekstase gesteigerte Schlußchor. Auf die Worte "Das ewig Weibliche zieht uns hinan" läßt sich nun einmal musikalisch nichts Heroisches reimen.

Generalmusikdirektor Bernhard Klee bot eine sorgfältig vorbereitete Aufführung mit den gewandt und elastisch spielenden Düsseldorfer Symphonikern, mit dem von Hartmut Schmidt präzise geschulten Städtischen Musikverein und mit dem Tölzer Knabenchor, dessen kleine Solisten mit glockenhellen Stimmen einer winzigen Passage ergreifend innigen Ausdruck gaben.

Von den zehn Solisten (!) hatte Dietrich Fischer-Dieskau die in Umfang und Charakter wichtigste Aufgabe. Er sang den Faust und im Finale den Pater Seraphicus und den Doctor Marianus. Das Problematische an seiner Vortragsweise drängte sich in der Faust-Partie so stark auf, daß der Stil der ganzen Aufführung davon beeinflußt wurde. Fischer-Dieskau deklamierte durchweg mit einem Pathos, das erstens nicht zu Schumann paßt, zweitens die Gebrochenheit der Faust-Gestalt mit positivistischer Unbekümmertheit verleugnet. Faust als Supermann.

Der Textverständlichkeit opferte der berühmte Sänger diesmal besonders radikal die gebundene musikalische Linie. Kaum eine Phrase wird ruhig, gleichmäßig durchgesungen, unzählige heftige Crescendi und Sforzati erzeugen eine Unruhe, die durch den Text nicht gerechtfertigt ist. Die unmäßigen dynamischen Kontraste bezeugen zwar virtuose Stimmbeherrschung, aber nicht interpretatorische Sinnfälligkeit. Über diese Manier Fischer-Dieskaus ist die Musikwelt nun schon einige Jahrzehnte zerstritten. Sie scheint aber so populär und wirksam, daß man bei ihrer Ablehnung auf verlorenem Posten steht.

Dabei demonstrierten sowohl die wundervoll lyrisch singende Edith Mathis (Gretchen) wie der scharf charakterisierende Tenor Nicolai Gedda denkbar eindrucksvoll, wie man gesteigerten Ausdruck, höchste seelische Erregtheit mit einem kultivierten Legato-Singen verbinden kann. Daß auf einem Podium derart krasse Gegensätze möglich sind, ist nicht zu begreifen.

Walter Berry (Mephisto), als völlig indisponiert angekündigt, hatte vor, seine Partie nur zu markieren, anzudeuten. Er sang dann aber erstaunlicherweise doch voll aus, und zwar mit bemerkenswerter Kultur. Die übrigen Solisten: Norma Sharp, Barbara Daniels, Kari Lövaas, Ilse Gramatzki, Hanna Schwarz und Harald Stamm wären allesamt wert gewesen, als Hauptfiguren im Vordergrund zu stehen.

An der von EMI-Electrola besorgten Schallplatten-Einspielung, die den mit Düsseldorf vereinbarten Schumann-Zyklus wesentlich ergänzt, wird man einmal die Aufführung und ihr Echo überprüfen können.

Alfons Neukirchen

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