Zum Konzert am 14. September 1980 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 16. September 1980

Neuer Klang - neue Welt

RSO mit Gerd Albrecht - Philharmoniker mit Karl Böhm

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"Wir haben Euch hierher befohlen....", so leitete Dietrich Fischer-Dieskau a cappella und überraschend - denn die Partitur der Konzertfassung verzeichnet diesen Anfang nicht - die Fragmente aus "Lear" von Aribert Reimann ein. Es handelt sich um Auszüge aus der Oper nach Shakespeare, die bei den Münchner Festspielen 1978 mit Fischer-Dieskau in der Titelpartie herausgekommen ist. Darauffolgend hat Günter Reich in Düsseldorf bewiesen, daß auch ein Gegentyp geeignet sein kann, die für Fischer-Dieskau geschriebene Rolle des traurigen Königs zu tragen. Mit Reich hat dann die Uraufführung der "Fragmente" in Zürich stattgefunden.

Die Konzertsuite besteht aus Monologen für Bariton (Lear) und Zwischenspielen, und ich gestehe, daß mich die lapidare Unmittelbarkeit des "Gearbeiteten" bei dieser Begegnung noch mehr beeindruckt, wirklich betroffen gemacht hat, als im Fall der damaligen Opernpremiere. Es will viel bedeuten, wenn einem Komponisten heute eine Partitur gelingt, die zu gewinnen scheint, je öfter man sich mit ihr einläßt. Die "Fragmente" transportieren Substanz und Aura der ganzen Oper. Und mir fiel noch mehr als damals auf, wie sensibel selbst in der differenzierten Massivität der Sturmszene - bei allein 48fach geteilten Streichern - die Singstimme geführt ist, weil ihr immer wieder Freiräume zur Entfaltung gelassen sind. Andererseits: wieviel Lyrik die Partitur enthält, deren Hochexpressivität zuerst hervortritt, welche Regionen des Leisen, der Abgeschiedenheit sie aufsucht - im Gesangspart (als Lears Geist sich zu verwirren beginnt), im Zwischenspiel Nr. III mit großem Solo der Baßflöte; im unisonen Streicher-Melos, das die Klage um Cordelia mit gleichsam spätmahlerschem Gestus umkleidet, aus dem "neuer Klang" wächst. Reimann versteht dieses letzte Klangfeld aus wiederum vielfach geteilten Streicherflageoletts und Harfen tatsächlich als sich öffnende neue Welt; also doch eine eindeutige Interpretation des Tragödien-Schlusses durch den Komponisten. (Begreiflicher als früher erscheint mir jetzt auch, daß Reimann im Anschluß an diese Arbeit eine so intime Musik wie sein "Nachtstück II" komponieren konnte.)

Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelpartie: eine Interpretation, die unter die Haut geht. Seine Leistung sowie die des Orchesters unter Gerd Albrecht, der auch die Uraufführung dirigiert hat, verhalfen der Partitur nun auch in Berlin zu einem Sieg, wie er Komponisten neuer Musik heute höchst selten zuteil wird.

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Sybill Mahlke


     

     FAZ, 24. Oktober 1980   

Konzerte der Berliner Festwochen

Bukolische Trauer aus Geräusch und Ton

    

Der Gedanke, während der Berliner Festwochen einmal besonders Igor Strawinsky zu berücksichtigen, stammt von ihrem 1978 verstorbenen Leiter, dem Komponisten Nicolas Nabokov. Sein Nachfolger Ulrich Eckhardt hat die Idee mit großer Energie aufgenommen. [...]

Den Beginn der Veranstaltungen machte ein Abendkonzert "Festakademie opus Strawinsky" in der dicht gefüllten Philharmonie. Strawinsky und Nabokov waren durch Lieder repräsentiert. Dietrich Fischer-Dieskau begann mit zwei von Strawinsky vertonten Gedichten Paul Verlaines, darunter das berühmte "Un grand sommeil noir". Julia Varady ließ sechs lyrische Gesänge von Nabokov aus dem "Requiem"-Zyklus folgen, die sie russisch mit intensivem Ausdruck sang, und gestaltete dann prägnant zwei frühere Melodien opus 6 von Strawinsky auf Texte Serge Gorodetzkys; Fischer-Dieskau machte den Abschluß mit Nabokovs vier Liedern aus Boris Pasternaks "Doktor Schiwago".

Überhaupt war Fischer-Dieskau der fleißigste Mitarbeiter der Festwochen. Fünfmal stand er auf dem Podium als Interpret sehr verschiedenartiger Gesänge. In der Parade ausländischer Orchester kamen zuerst die New Yorker Philharmoniker mit zwei Konzerten unter Zubin Mehta. Am zweiten Abend gab es Anton Weberns Sechs Stücke opus 6, von Mehta überakzentuiert, von den amerikanischen Blechbläsern und Schlagzeugern phänomenal gespielt, und nach der Pause Gustav Mahlers erste Symphonie. Dazwischen sang Fischer-Dieskau auf seine besondere Weise, stimmlich und geistig auf einsamer Höhe, sechs Mahler-Lieder nach "Des Knaben Wunderhorn". Das "Lied des Verfolgten im Turm", als Dialog zweier Stimmen vorgetragen, mit Tönen schmerzlicher Heiterkeit, habe ich nie ergreifender gehört.

Berlins Radio-Symphonie-Orchester trug unter Gerd Albrecht ein bedeutendes Programm zu den Festwochen bei. [...] Abschließend sang Fischer-Dieskau drei Fragmente aus Aribert Reimanns "Lear"-Oper, deren Titelpartie er schon 1978 bei der Münchener Uraufführung übernommen hatte. Eine grandiose Leistung in Stimme und beim Todesmonolog.

Ebenfalls zwei Abende gehörten dem Orchestre de Paris unter Leitung von Daniel Barenboim, der sich an immer größeren Dirigieraufgaben bewährt. [...]

Hierauf sang Fischer-Dieskau dieselben beiden Verlaine-Lieder, die man schon bei der eröffnenden "Festakademie" von ihm gehört hatte, doch nun in der Orchesterfassung von 1953. Sie kommt an die viel spontanere klavierbegleitete trotz mancher instrumentaler Finessen nicht heran; interessant aber war, wie sich Fischer-Dieskaus Stimme den verschiedenen akkompagnierenden Klängen sinngemäß anpaßte. Die dann folgende geistliche Ballade "Abraham und Isaac" reflektiert Strawinskys Begegnung mit Land und Volk Israel bei seiner Tournee 1962. Dem knapp viertelstündigen Werk liegt die Reihe von zwölf Tönen zugrunde. [...]

Als "europäische Erstaufführung" sang schließlich Fischer-Dieskau einen Monolog für Bariton und Kammerorchester opus 229 von Ernst Krenek. Der kürzlich achtzig Jahre alt gewordene Komponist nennt das Stück "The Dissembler", in einer eigenen Übersetzung "Der Versteller". Der Text des Monologs setzt sich mit dem Wesen der Wahrheit auseinander. Zitate aus Goethes "Faust II", Euripides’ "Hekabe", der Bibel und Kreneks eigener "Sestina" umrahmen das Kernstück: ein Gespräch mit dem Advokaten des Teufels. Das Werk wird von einer inspirierten Musik getragen, deren Mittel überwiegend die Singstimme ist. Stellen wie die zerstreuten Klangwechsel zum einleitenden Kommentar "Ich bin ein Versteller", die Glissandi beim Sondieren von Raum und Zeit, die Melodien bei Lynkeus des Türmers "Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" oder das gewaltige Fortissimo des "Nemo est qui semper vivat" sind so erfüllt von musikalischer Vision wie viele der besten Werke Kreneks.

Fischer-Dieskau übertraf sich in der schweren Aufgabe selbst. Seine Deutung des advocatus diaboli, die Kopftöne der hoch verstellten Stimme bei der Nennung des Kartenspiels, sein makelloses Englisch und Latein, das abschließende "Gute Nacht" sind Höhepunkte schöpferischer Interpretation. Zusammen mit dem anwesenden Krenek wurde er enthusiastisch gefeiert. Lothar Zagrosek dirigierte das auf philharmonischem Niveau spielende Kammerorchester.

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H. H. Stuckenschmidt


    

     Neue Zürcher Zeitung, 24. September 1980    

"Lustige Sinfonietta"

Eine Hindemith-Uraufführung an den Berliner Festwochen

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Den Abschluß des gut aufgebauten Programms machten als deutsche Erstaufführung Fragmente aus Aribert Reimanns "Lear" für Bariton und Orchester. Wie bei der Münchner Uraufführung der ganzen Oper 1978 sang Dietrich Fischer-Dieskau die drei Monologe, grandios und erschütternd vor allem die Todesszene. Und wie in München stand am Pult Gerd Albrecht.

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H. H. Stuckenschmidt


    

     Zeitung unbekannt, 18. September 1980     

Hindemiths Sinfonietta

Eine Uraufführung und Reimanns "Lear"-Fragmente in Berlin

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"Musik, die schwitzt", Musik, die man - ganz gegen die Intentionen Strawinskys und des französischen Neoklassizismus - "mit dem Kopf in den Händen anhört", sind Reimanns "Fragmente aus Lear", 1979 vom Züricher Tonhalle-Orchester unter Gerd Albrecht uraufgeführt: hier als deutsche Erstaufführung mit Dietrich Fischer-Dieskau, Träger der Titelpartie schon bei der Münchner Uraufführung der Oper. Fischer-Dieskau bringt die Bühne aufs Konzertpodium - Wahrheit und Schönheit, dramatische Expressivität und musikalische Perfektion bilden bei ihm eine Einheit. Reimann zieht in den "Fragmenten" die symphonische Summe seines Musikdramas, ohne dabei, abgesehen von der Streichung einiger Dialogpartner, den Satz zu verändern: Zwischenspiel I, Monolog I (Lears Verfluchung Gonerils), Zwischenspiel V, II mit Lears Sturmmonolog, Zwischenspiel III, IV und Lears Schlußmonolog.

Die Spannweite des dynamischen Pegels, die clusternahe Komplexität der Klangschichtung beeindrucken gerade bei einer konzertanten Aufführung. Reimanns unökonomischer häufiger Einsatz aller Farben tendiert freilich zum Umschlag in ein Grau in Grau. Gefährdet ist seine Musiksprache auch durch einen gewissen Mangel an kontrastierenden Charakteren und die puristische Ausscheidung alles Heterogenen, was ihn manchmal in die Nähe von Sterilität auf hohem artifiziellem Niveau führt. Gegen einige Buhrufe setzte sich in der Philharmonie rasch großer Beifall durch, auch für das Radio-Symphonie-Orchester unter dem präzisen Gerd Albrecht.

Hanns-Werner Heister

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