Zur konzertanten Oper am 28. Juli 1980 im München


Süddeutsche Zeitung, 30. Juli 1980

Das Opernmuseum lädt zum Lokaltermin

Konzertante Aufführung von Hugo Wolfs "Der Corregidor" im Nationaltheater

Mancher Seelenwunde hilft nur eine Schocktherapie. Wer unter Schuldgefühlen litt, die böse Theaterwelt vernachlässige Hugo Wolfs einzige Oper "Der Corregidor", konnte nach dem konzertanten Lokaltermin im Nationaltheater aufatmen und in den Beifallsjubel einfallen: Die Ansammlung herrlicher Einzelheiten ist nachweisbar nicht zu retten, nicht einmal im Zustand der lediglich musikalischen Demonstration. Beklemmend deutlich wurde die Lage der musikalischen Komödie nach dem Siegeszug der "Meistersinger" und vor dem Erscheinen relativ robuster Naturen wie Strauss, Humperdinck und sogar Siegfried Wagner. Die orthodoxe Nachfolge samt Deklamationsprinzip war in eine ästhetizistische Sackgasse gelangt, die überwachsen ist von heillos überinstrumentierten Stimmungsschönheiten, von bezaubernden, mitunter allzu feingliedrigen Melodien der Schumann-Cornelius-Richtung und von psychologisierendem Aufwand, dessen Verhängnis es bleibt, schematischen Gestalten, spanisch benannten Marionetten übergestülpt worden zu sein. Was die tüchtige Wiener Schriftstellerin Rosa Mayreder-Obermayer im Tonfall Geibels und Heyses abhandelte, ist eine Dorf- oder Kleinstadtgeschichte, der man den satirischen Kern genommen hat, eine im Atelier sterilisierte Ehe-, Eifersuchts- und Verwechslungsstory, wie man sie um die Jahrhundertwende zu Dutzenden und in zweckfrei poetisierender Absicht schrieb. Feinsinnigkeit im luftleeren Raum. Literarisch verschnörkeltes Libretto, in dem die Arien durch Lieder ersetzt werden. Hugo Wolfs "Spanisches Liederbuch", dem wohl ein szenischer Nachtrag zugedacht werden sollte, enthält in jedem Klaviernachspiel mehr Realismus als die ganze Pseudowirklichkeit des "Corregidor".

Alexander Berrsche, dessen vierzigster Todestag in diesen Juli fällt, machte einen wunderlichen Umstand für das szenische Schicksal des "Corregidor" verantwortlich: Von vier Akten spielen drei bei Nacht, und das halte kein Auge aus. Berrsche konnte nicht ahnen, wieviel künstliche Dunkelheit inzwischen unser Kulturbewußtsein zu ertragen gelernt hat. An die Stelle szenischer Finsternis trat bei der konzertanten Festspielaufführung der Mangel an federnder, sensibler und deutlicher Wortbehandlung. So blieb der Corregidor des angenehm, doch unpersönlich singenden Tenors Horst Laubenthal ohne Profil; so bewegte sich die Frasquita der mutig einspringenden Ute Trekel-Burckhardt mit gepflegten Tönen im Vorfeld von Wolfs deklamatorischem Prinzip; so kam es dazu, daß die Nebenrollen dank luxuriöser Besetzung an Gewicht und Witz gewannen, was vornehmlich der erstaunlichen Altistin Cornelia Wulkopf, dem aggressiven Tenorbuffo Norbert Orth, dem freundlichen Friedrich Lenz, dem volltönenden Nikolaus Hillebrand und der dezent charakterisierenden Gudrun Wewezow zu verdanken war. Die kleinen Ensembles, etwa der köstliche Kanon, in dem sich Wolf höchst reaktionär gibt, verdunkelten zuweilen die Lieder und die großen Aufschwünge. Erst im letzten Akt - o unselig-feinsinnige Dramaturgie! - durfte Helen Donath (Donna Mercedes) dartun, wie eine Spanierin von Hugo Wolfs Gnaden die Pointen setzt und mit der Stimme agiert. Der kurze Fandango im ersten Akt, eines der wenigen Zugeständnisse Wolfs an das Kolorit, wirkte nicht halb so spanisch wie Frau Donaths Auftritt.

Im Zentrum stand der kundigste Wolf-Interpret unserer Tage: Dietrich Fischer-Dieskau. Der Monolog des Müllers Tio Lukas - ein Psychodrama bei Nacht, eine Eifersuchtsvariante von Schuberts "Doppelgänger" - hatte den bohrenden, selbstzerstörerischen Ernst Hugo Wolfs und charakterisierenden Witz dazu: Seelenqual in Anführungszeichen, tragikomischer Tiefsinn, gekleidet in eine Musik, die Konflikte und Zusammenhänge hinter den Textworten aufspürt. Wolfs Verfahren, den Dingen auf den letzten Grund zu gehen, fand in Fischer-Dieskaus deklamatorischen Einzelheiten, in der Dramaturgie der Dynamik, in den Färbungen des Stimmklangs und in der charakterkomischen Ernsthaftigkeit die stärkste interpretatorische Entsprechung. Der Monolog zeigte sich als eines der großen Nachtstücke der Musikliteratur. Und die Erinnerung an den etwas langen "Corregidor"-Abend wird vorwiegend aus dem Nachhall dieses sängerischen Einvernehmens mit der Einsamkeit Wolfs bestehen.

Soweit es die mitunter skizzenhaft angelegten Rollen ermöglichten, hielten sich einige Sänger in guter Nachbarschaft zu Fischer-Dieskaus sozusagen existentieller Wolf-Interpretation: der von gleicher künstlerischer Intensität beflügelte, mit jedem Wort und jedem Baßton Atmosphäre schaffende Kurt Moll (Alkalde), der eine niesende Knallcharge veredelnde, souveräne Bassist Helmut Berger-Tuna und schließlich Karl Helm, ein Nachtwächterlied singend, das eitel Stimmungslyrik war.

Der Gastdirigent Gerd Albrecht hatte einen Ritt über den Bodensee zu bestehen. Er mußte ein durch und durch lyrisches Werk realisieren, das sich höchst unlyrisch mit dem Panzer des Musikdramas bekleidet hat, von Schall und Schwall der Hörner und der alterierten Akkorde durchzogen ist, instrumentatorisch die "Meistersinger" auf den "Lohengrin" wie den "Ring" türmt und im Eifer der orchestralen Psychologie auf die Grenzen der menschlichen Stimmen vergißt. Gerd Albrecht behandelte die zu prächtigen Soili und weichem Hörnerklang entschlossenen Münchner Philharmoniker wie ein symphonisches Klavier, fast begleitend, doch charaktervoll. Vieles dürfte retuschiert worden sein, zum Vorteil einer Musik, deren lyrischer Wert den dramatischen übertrifft. Für die allerletzte Textstrophe wurde noch der Staatsopernchor aufgeboten. Man bedauerte, daß Wolf, geschmäcklerisch einem Finaleffekt ausweichend, den Chor nicht schon am Ende des ersten Akts auftrumpfen ließ; doch dort schrieb er ein lediglich orchestral gemaltes Straßenbild. So sehr können Skrupel des Geschmacks einem literarisch empfindenden Komponisten zusetzen. Begeisterung allenthalben. Nicht zuletzt, weil man nun weiß, was es mit Hugo Wolfs "Corregidor", dem angeblich Verkannten, auf sich hat.

Karl Schumann

__________________________________

    

     Münchner Merkur, 30. Juli 1980     

Wem die spanische Stunde nicht so recht schlägt

Münchner Festspiele mit einer konzertanten Aufführung von Hugo Wolfs Oper "Der Corregidor"

   

Es ist, als ob man sich von Zeit zu Zeit bestätigen lassen müßte, warum gewisse Werke vergessen sind oder vernachlässigt werden. An Hugo Wolfs einzigem vollendeten Bühnenwerk, der Oper "Der Corregidor" (nach einer Novelle von Alarcón), wurde dieses Verfahren soeben bei den Münchner Opernfestspielen im Nationaltheater exemplifiziert - mit einer weit mehr als nur achtbaren Aufführung, die zu der Erkenntnis führte, daß da nichts wiederzubeleben ist.

Aber eigentlich hat dieses Werk ja nie einem Repertoire angehört, trotz aller guten Worte Regers (und anderer Komponisten) und der Bemühungen Mahlers oder Bruno Walters (1921 in München). Man könnte sagen: das Werk lag schlecht im Rennen seit seiner Uraufführung in Mannheim 1896, die immerhin von einem so guten Praktiker wie Hugo Röhr einstudiert worden war.

Sicher, bei einer konzertanten Aufführung kommt einiges ins Hintertreffen. Das spanische Kolorit, das Wolf in seiner Tonsprache ausspart, hätte sich in Kostüm und Bild positiv bemerkbar gemacht. Das Spiel hätte den etwas antiquierten Humor des Stoffes beleben können.

Wenn ihn nur nicht Hugo Wolf gleich im Ansatz wieder erschlagen würde: mit dem großen Orchester (das am hübschesten in den Holzbläsern instrumentiert ist), mit Kontrapunkt und Chromatik. Da läßt er sich die Möglichkeiten eines Trinkliedes entgehen, da bemüht er einen Chor für lächerliche zwanzig oder dreißig Takte, da verfällt er - in krassem Gegensatz zu seinen genialen Liedinspirationen - in harmonische und melodische Harmlosigkeiten, die selbst noch die Leitmotivtechnik entwerten.

Das Vorbild "Meistersinger" wird in der Diktion oft übermächtig. Man denkt an (nicht viel glücklichere) Vorgänger wie Götz und Cornelius und selbst an den alten Nicolai oder - beim beckenschlagenden wogenden Dur-Schluß - an einen anderen Wagnerjünger auf der Bühne, an Smetana. Die Höhepunkte liegen dann oft in Kleinigkeiten, wie dem Intermezzo im ersten Akt oder den hineingenommenen instrumentierten Kostproben aus dem "Spanischen Liederbuch".

Das Sängerensemble war ausgezeichnet besetzt. Horst Laubenthals heller Tenor war in der Titelrolle den Orchesterwogen nicht immer gewachsen, erwies sich aber als ebenso zuverlässig wie Helen Donath als Corregidora. Das herausragende Müllerpaar kam durch Ute Trekel-Burckhardt und Dietrich Fischer-Dieskau gestalterisch vorzüglich, gesanglich - was den männlichen Part betrifft - nicht optimal zum Zug.

Ansonsten dominierten, auch qualitativ, die tiefen Stimmen: von Kurt Moll, Helmut Berger-Tuna, Nikolaus Hillebrand und selbst noch [von dem] in der Tiefe der Bühne singende[n] Karl Helm. Auf der Bühne aber wurde von den Münchner Philharmonikern unter Gerd Albrecht hingebungsvoll und präzis musiziert.

Wenn man nur nicht immer wieder an das richtige Spanien hätte denken müssen, an de Falla und seinen inhaltsgleichen "Dreispitz" oder an eine elf Jahre jüngere komische Oper aus ähnlichem Milieu - an Ravels "Spanische Stunde".

Karl Robert Brachtel

zurück zur Übersicht 1980
zurück zur Übersicht Kalendarium