Zu den Konzerten am 6. und 17. September 1979 in Berlin


Berliner Morgenpost, 19. September 1979

Jubelnder Erfolg nach der etwas klapprigen Ouvertüre

Zwei Stücke und zwei Festwochen-Aufführungen, die zwangsläufig zum Vergleich herausfordern: unlängst Berlioz’ "Faust-Verdammung" durch die Bostoner Symphoniker von Ozawa, jetzt Robert Schumanns "Szenen aus Goethes Faust" seitens der Berliner Philharmoniker unter der Stabführung von Wolfgang Sawallisch.

Dabei ist der Werke-Vergleich schon fragwürdig. Zu eigenwillig selbstgestrickt ist Berlioz’ Dramaturgie, während Schumann sich getreulich auf eine bewährte dramatische Poesie stützt. Seine "Szenen" können gewiß nur einen fragmentarischen Durchblick durch das Werk gestatten, doch die Sicherheit, mit der er teils opernhaft, teils oratorisch wirksame Partien aus der Gesamtheit ausgräbt, dürfte zumindest denjenigen Hörern ein hohes ästhetisches Vergnügen bereitet haben, die ihren Goethe-Faust nicht nur im Bücherschrank, sondern noch einigermaßen im Kopf haben. Musikalisch mag Berlioz die effektvolleren Akzente setzen; die sorgfältigere Psychologie liegt zweifellos auf seiten Schumanns.

Als Klammer beider konzertanter Faust-Ereignisse diente jedoch nicht nur das Sujet, sondern auch der Interpret Dietrich Fischer-Dieskau, dort Mephisto, hier Faust.

Diesem Sänger ist eben das Singen eine solche Selbstverständlichkeit, daß er keinerlei Gedanken daran zu verschwenden scheint, wie man klingende Töne zu produzieren habe. Dafür kann er seine ganze Aufmerksamkeit auf Vortrag und Gestaltung richten. Und diese Außerordentlichkeiten der Deklamation, mit denen er auch hier wieder brilliert, die konzentrierte Genauigkeit, mit der er die umfangreiche Palette seiner Mittelpunkte einsetzt, das sind die immer wieder hinreißenden Momente bei der Begegnung mit Dietrich Fischer-Dieskau.

Neben ihm konnten sich Sigmund Nimsgern, Siegfried Jerusalem, Barbara Daniels und Cornelia Wulkopf eindrucksvoll behaupten, während Julia Varady, Marianne Seibel, Marga Schiml, Thomas Schulze und Robert Holl vor allem in ihrer Artikulation etwas schwächer wirkten. Walter Hagen-Groll und Christian Grube steuerten wohleinstudierte Chöre (der Deutschen Oper Berlin und der Knaben des Staats- und Dom-Chores) bei.

Die blitzende Unmittelbarkeit, die Ozawas Aufführung vor allem auszeichnete, schien Sawallisch gar nicht erst zu beabsichtigen. Auch Präzision schien nicht unbedingt die oberste Losung zu sein, weshalb es schon mit einer etwas zaghaften und klapprigen Ouvertüre begann. Im zweiten Teil allerdings steigerte sich die gesamte Aufführungsintensität, daß davon sogar noch der ausführliche hymnisch-lyrische Schlußteil profitieren konnte und zum jubelnden Erfolg führte.

Wilfried W. Bruchhäuser


    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 8. September 1979     

Höllenfürst mit Poesie

Das Boston Symphony Orchestra mit Berlioz’ "Faust"

[...]

Berlioz’ Faust stellt sich nicht als einer vor, der in der Studierstube grübelt, sondern tritt an einem Frühlingsmorgen auf ungarischer Ebene auf. Daß es gerade Ungarn ist, liegt, wie Berlioz offen zugibt, schlicht daran, daß er den Rakoczy-Marsch einbauen wollte, den Faust alsbald, von einer imaginären vorbeiziehenden Armee gespielt, vernimmt. Was indes nichts an Faustens Stimmung ändert, die die Franzosen, schwer übersetzbar, als "ennui" bezeichnen: so etwas wie Weltekel, Lebensüberdruß, der rastlos durch die Lande treibt und den allein Natur lindert: Faust eher als ein Geschöpf aus dem Geist des Lord Byron als eine Gestalt Goethes. Dieser Faust ist bei Berlioz lyrischer Tenor, und Kenneth Riegel verkörpert ihn mit bewegter Leidenschaft und angenehmem Timbre. Ganz in bester Tagesform schien er dennoch nicht zu sein: zudem war deutlich spürbar, daß das Französische nicht seine Muttersprache ist, die Vokale standen miteinander nicht in Harmonie, und das störte auch die Rundung der Phrasen.

Faust erlebt als erstes einen Bauerntanz, und spätestens, als der hereintönt, horcht man auf, erschrickt fast. Das schert so kräftig aus dem klassischen Orchestersatz aus, das ist nicht Instrumentation, das ist Klangfarbenkomposition. Und das Bostoner Symphony-Orchestra, das da unter Seiji Ozawa spielt, zeigt sich willens, Charakteristik gegebenenfalls wichtiger zu nehmen als blanke Tonschönheit. Der Chor der St. Hedwigs-Kathedrale bietet eigentlich beides nicht: der Gesang der Landsleute hat keine rhythmische Prägnanz und Präsenz, der Chor der Trinker in Auerbachs Keller ist einfach nicht roh genug, nur von der Blasphemie der Fuge auf Branders Lied wird etwas realisiert. Der Chor der Sylphen und Gnome andererseits deklamiert zu wenig, läßt Flüstern nicht in Farbe umschlagen. Und der Frauenchor singt manchmal einfach schrecklich flach, ungestützt und darum zu tief.

Doch in der Musik löst eine Überraschung die andere ab: Mephisto ist ein Höllenfürst voller romantischer Poesie. Mit einer herrlich lyrischen Arie, "Sieh diese Rosen", singt er Faust in den Traum und beschwört Waldgeister und Irrlichter zum Reigen. Dietrich Fischer-Dieskau ist dafür die ideale Besetzung, er besitzt einerseits den kantablen Schmelz, andererseits ein facettenreiches, wendiges Parlando. Margarethe wird von Julia Varady verkörpert. Sie singt ihr höchst eigenartiges "Chanson gotique" vom König in Thule und ihre Romanze in makelloser Reinheit, manchmal vielleicht etwas zu glatt, zu wenig sich dessen bewußt, was sie singt. Ein respektabler, freilich ungünstig placierter Brander war Douglas Lawrence.

Faust fährt hier, wie schon der Titel sagt, zur Hölle, anders als bei Goethe, und das Orchester spielt noch einmal in unerbittlicher rhythmischer Präzision. Der Chor der Dämonen singt in einer erfundenen Sprache – kurios ist das schon alles. Gretchen aber wird verklärt; betörende Orchesterfarben, Harfen rauschen auf, ein Knabenchor überstrahlt am Ende das Ganze, die Tölzer Knaben machen das schlechterdings berückend. Ein epochales Ereignis insgesamt im Berliner Konzertleben, dem anhaltende Ovationen antworteten.

Gottfried Eberle

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