Zum Konzert am 2. April 1979 in München


Süddeutsche Zeitung, 4. April 1979

Seltenes bei Sawallisch

Schönberg/Händel und Bartok im 6. Münchner Akademie-Konzert

Ungewöhnliches, aber nicht Abstruses bot Wolfgang Sawallisch im 6. Konzert des Bayerischen Staatsorchesters. Die technische ebenso wie die geistige Sicherheit, mit der Münchens Generalmusikdirektor sich auch diesen entlegenen und heiklen Partituren gewachsen zeigte, war beeindruckend. Wolfgang Sawallisch gleicht einem Künstler, der die Grenzen seiner Möglichkeiten sucht - und sie um so weniger findet, je mehr er von sich fordert. Der könnte Tag und Nacht Musik machen - und würde immer besser dabei. Wer weiß, wohin der Weg dieses Künstlers noch führt. Gibt es auf der ganzen Welt überhaupt noch einen zweiten Generalmusikdirektor, der soviel "kann" und der seine Energie so großartig entschieden dem eigenen Hause zur Verfügung stellt?

Schönbergs freie Instrumentations-Phantasie über ein Concerto grosso von Händel ist ein unangenehm selbstgerechtes Stück. Der alte Musikerwitz, demzufolge Bachs Musik manchmal besser "gemacht" sei, als sie klingt, während Händels Partituren unter Umständen besser "klingen", als sie gemacht sind, wird durch Schönbergs Eingriff in Händels Konzert indirekt bestätigt. Da hat ein Späterer nun alles besser (nämlich logischer, exzentrischer, überraschender, umwegreicher) machen wollen. Und immerhin erreicht, daß es tatsächlich sehr viel schlechter, zerrissener, quälender klingt. Keine Frage: Schönbergs Eingriffe verraten Insistenz und Witz. Sie verwandeln überschaubare Heiterkeit in verbiesterte Abenteuer. Sie muten den Solisten (dem Bartholdy-Quartett) hysterisch heikle Aufgaben zu., Sie verlängern Barock bis zu den Höhepunkten etwa des Doppelkonzerts Opus 102 von Brahms und darüber hinaus. Weil nun aber die Händel-Ähnlichkeit bei Brahms eine natürliche, wenn auch manchmal einengende, Gegebenheit ist, während umgekehrt in Händel selber kein so offen zukunftsweisendes Potential steckt wie in den (vielfach von modernen Komponisten bearbeiteten) Werken Bachs, wurde die Intention dieser Umgestaltung nicht ganz klar. Doch weil kluge Leute bekanntlich nie geistreicher sind, als wenn sie irren, war Schönbergs Händel-Verfremdung, der ich übrigens noch nie im Konzertsaal, in der Partitur, auf Platten begegnet bin, zumindest interessant. Viel Beifall für die Solisten. Dem Cello hätte etwas mehr Mut und Kraft nicht geschadet.

Demgegenüber wirkte die konzertante Aufführung des frühen Bartok-Einakters "Herzog Blaubarts Burg" simpel und gefühlvoll. Mit großer lyrischer Kraft fixiert Bartok hier seine ganz eigentümliche Tonsprache zwischen den Gegenpolen fis (am Anfang wie am Ende des Werkes) und C. Volkslied-Melodisches und eine spezifische Tonfolge (c-d-e-fis-g-a-b) verleihen der Musik ein wunderbar fremdes, gewiß nicht "atonales" Rückgrat. Hinzu kommt, daß der 30jährige "Blaubart"-Komponist seine beträchtlichen rhythmisch-barbarischen Energien zwar zu genau der gleichen Zeit - 1911 - aktivierte, aber eben in einem anderen Werk. Für "Herzog Blaubarts Burg" blieb eine Mischung aus Folklore, symbolistischer Empfindsamkeit und durchartikulierter Simplizität übrig. Manchmal scheint diese Oper eher mit (was hier wirklich nicht hämisch gemeint ist) "Porgy and Bess" vergleichbar als mit hochentwickelt durchkomponierten Werken wie der "Elektra" von Strauss oder der IX. Symphonie von Mahler, die sogar ein wenig früher entstanden sind.

Die Aufführung mit Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau - in ungarischer Sprache; was kann Fischer-Dieskau eigentlich nicht? - war informativ und schön. Wer weiß, ob die allegorisierende, keineswegs stets kitschferne Bedeutungshuberei von Bühnenbild- und Szenen-Anforderungen diesem Stück nicht sogar geschadet hätten... Jetzt erlebte man die manchmal rührende, manchmal freilich auch etwas monotone Attitüde dieser ebenso spannungsarmen wie psychoanalytisch weitreichenden Geschichte tödlicher weiblicher Neugier und herrischer männlicher Wunschvorstellungen unabgelenkt mit. Vielleicht hätte das Orchester die impressionistischen Momente der Partitur etwas träumerischer herausbringen, die Sopranistin ihre Piano-Vorschriften noch strenger befolgen sollen. Manchmal schien der dynamische Sachverhalt, freilich engagiert, auf den Kopf gestellt, wenn Judiths Pianissimo: "Weint der Felsen?" viel lauter klang als Blaubarts Piano-Antwort: "Bangt dir?" Heftiger, freilich grotesk-stimmungsmordend früh einsetzender Applaus.

Joachim Kaiser

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