Zur Oper am 13. Juli 1978 in München


"Oper und Konzert", München, 8/1978

Nationaltheater

Lear

Auch die zweite Aufführung war bis zum letzten Stehplatz ausverkauft und die Schilder vor der Abendkasse ‚Karte gesucht’ dürften für eine zeitgenössische Produktion ein völliges Novum sein.

[...]

Wie Fischer-Dieskau die einzelnen Stufen von Lears Verfall vorführt, wie erschütternd er insbesondere die Schlußszene gestaltete, das war grandios und dürfte jedem Schauspieler, der sich an dieser Partie versucht, zur höchsten Ehre gereichen. Sein herrlicher Bariton mochte sich zunächst für den greisen König vielleicht etwas zu schön und zu gesund anhören - aber auch dieser Einwand wurde spätestens im zweiten Teil dank der schier unglaublichen Virtuosität, mit der der Sänger seine Stimme für die Äußerungen des wahnsinnigen Lear einzusetzen verstand, hinfällig. Eine Leistung, für die kaum ein Lobeswort zu hoch gegriffen sein kann!

[...]

Heinrich Steiner


   

     Orpheus, 9/10 1978     

Münchner Opernfestsspiele 1978

LEAR

Nationaltheater - 13. Juli 1978

Lear - Dietrich Fischer-Dieskau, Narr - Rolf Boysen, Goneril - Helga Dernesch, Regan - Golette Lorand, Gordelia - Julia Varady, Albany - Hans Wilbrink, Cornwall - Georg Paskuda, Frankreich - Karl Helm, Gloster - Hans Günter Nöcker, Edgar - David Knutson, Edmund - Werner Götz, Kent - Richard Holm, Bedienter - Markus Goritzki, Ritter - Gerhard Auer, Dirigent - Gerd Albrecht, Inszenierung - Jean-Pierre Ponnelle, Kostüme - Pet Halmen

Die in "Capriccio" aufgeworfene Frage, ob nun der Dichtung oder der Musik der Vorrang gebühre - diese bei Strauss offen bleibende Gewissensfrage ist eigentlich längst beantwortet: Erst der Ton macht die Oper. Ist es denn im Opernhaus bei "Don Carlos" wesentlich, daß Schiller das Drama geliefert hat, oder bei "Otello", daß es sich um Shakespeare handelt? Das Operntheater zeigt uns allein Verdis "Don Carlos" und Verdis "Otello". Ganz anders, und dies sei vorweggenommen, ist es hier beim "Lear". Dieses Werk wird sich wohl nie legitim "Reimanns Lear" nennen dürfen. Es wird vielmehr Shakespeares "Wahre Geschichten vom Leben und Tod König Lears" bleiben, wie der barocke Originaltitel lautet: ein aus dem Leben gegriffener, für jeden nachvollziehbarer Bericht vom schrecklichen Leben und einsamen Sterben eines Mannes, der sich in fataler, unverzeihlicher Weise geirrt hat.

Aber auch die Definition "Shakespeares Lear mit einer Bühnenmusik von Reimann" würde den Kern der Sache nicht treffen. Denn der Komponist integriert die klangliche Expression völlig in den Text und in das Geschehen, das, weil jetzt in den vielfältigeren musikalischen Dimensionen angesiedelt, noch prononcierter, in den Emotionen noch auslotender, durch äußerst geschickte Raffungen noch dichter erscheint. Durch die "Sprachähnlichkeit der Musik" (Adorno) wird das doch bereits gestraffte, aller Floskeln ledige Geschehen noch weiter stilisiert und damit für die Aufnahmefähigkeit der Sinne noch besser zubereitet. Es gibt sich noch "wirklicher", als es in Wirklichkeit je sein könnte.

Darüber nachzudenken und darauf so detailliert einzugehen ist schon deshalb notwendig, weil dieses Werk alle Voraussetzungen zu erfüllen scheint, in die Geschichte der Oper einzugehen und dort im komplexen Kapitel des 20. Jahrhunderts das expressive musikalische Personendrama zu vertreten. In der Sackgasse neuerer Opernproduktionen also ein Lichtblick, der für den Augenblick freilich an eine Besetzung geknüpft ist wie die, mit der München aufwarten und seine sommerliche Opernsaison eröffnen konnte.

Daß ein DIETRICH FISCHER-DIESKAU der nur anfänglich irritierenden, in den Halb- und Vierteltonschritten bald relativ leicht zugänglichen musikalischen Deklamation in geradezu beispielhafter Weise gerecht werden würde, war von dem intellektuellen Liedgestalter nicht anders zu erwarten. Was er, seine schier unerschöpflichen Mittel nicht schonend, in der großen Heide-Szene wie auch im erschütternden Sterbebild über die Rampe brachte, war eine auch mit noch so begeisternden Worten kaum zu formulierende Rollenkultur und -verkörperung - etwas, das jedenfalls länger im Ohr bleiben dürfte als in der Belcanto-Oper eine noch so fulminant hingelegte Stretta, die ein erwartungsfrohes Auditorium aufjauchzen läßt. Eine faszinierende Leistung war aber auch, was Lears Töchter in ihrer jeweils spezifischen, auf den einzelnen Charakter zugeschnittenen Klangsprache boten: HELGA DERNESCH in vertrackten, mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit getroffenen Intervallsprüngen, COLETTE LORAND in hektisch gleitenden, wie Degenspitzen böse gleißenden Koloraturen, JULIA VARADY in den ungemein lyrischen Passagen einer wiederum nur ihr allein geltenden Zwölftonreihe, die eine enge Affinität aufweist zu der ebenfalls individuellen Zwölftonreihe Edgars, der sich, sobald er zu Ton wird, stimmlich in der Oktave des Contratenors gleichsam "tarnt' - eine exzellente Leistung, die dem knabenhaft schlanken und darum auch für diese Rolle von der äußeren Erscheinung her besonders qualifizierten DAVID KNUTSON fast nicht endende Ovationen eintrug.

Allein aus raumsparenden Gründen sei auf die Würdigung weiterer Darsteller verzichtet, von denen ausnahmslos jeder, sein Bestes gebend, mehr als Beachtliches bot, um der Aufführung zu dem ihr dann auch zuteil gewordenen Erfolg zu verhelfen, wie beispielsweise der nahezu phänomenale Charaktertenor WERNER GÖTZ als Edmund.

Als Regisseur vergrößerte JEAN-PIERRE PONNELLE die Leidensdimensionen der Tragödie durch die Beschränkung auf ein einziges symbolträchtiges Bild: fahlgraue Heide und darüber das total aufgerissene Bühnenhaus, desillusionierend einerseits, zugleich aber im Mitspielen des Lichts mythologisierend im Sinn des "veristischen" Gesamtkonzepts. Von geradezu gemäldeharter Schönheit an den Höhepunkten die gescheite Personenregie, wenn etwa der verstoßene Edgar den geblendeten Vater (unvergeßlich: HANS GÜNTER NÖK- KER) zu den Klippen von Dover führt, oder das Schmerzensbild Lear-Cordelia, das sicher nicht zufällig Michelangelos archaischer "Pieta" in Rom glich. Die entsetzliche Wahrheit der Geschichte, die Shakespeare erzählt, offenbarte sich nicht nur im Musikalischen, sondern auch in der durchdachten Personenführung, die, Figuren des Wahnsinns vorstellend, die große, nicht selten opernhaft groteske Geste einsetzte und dabei nicht minder verdeutlichte als Reimanns Musik.

Diese Musik wiederum zu analysieren, würde einen eigenen Essay erforderlich machen, [...]

Manfred Strauss

zurück zur Übersicht 1978
zurück zur Übersicht Kalendarium