Zum Liederabend am 22. März 1978 in New York


    

     Aufbau, New York, 31. März 1978     

Tippet, Bach, Schubert 

[...]

An Dietrich Fischer-Dieskau, dem Meisterinterpreten des Liedes, war uns immer etwas Superintellektuelles aufgefallen, das seine eminente Vortragskunst gekünstelt erscheinen ließ. Gewisse Spitzfindigkeiten (so die eigenartige Behandlung von Selbstlauten) und ein zu sichtbar gemachtes Selbstbewußtsein auf dem Podium, die den Eindruck von geistiger Unnahbarkeit und körperlicher Steifheit erweckt haben mochten, waren bei den Schubert-Abenden des schlanker gewordenen Baritonisten (in der Carnegie Hall) einer inneren Gelöstheit und äußeren Natürlichkeit gewichen, die man summarisch als die Vermenschlichung seines Vortragsstils bezeichnen könnte, wenn sich ein Fischer-Dieskau solcher Verwandlung überhaupt jetzt erst zu unterziehen gehabt hätte ....

Pausenlos an dem zweiten (von drei ausverkauften Abenden) reihten sich die vierundzwanzig weltentsagenden Lieder der "Winterreise" zu einer Kette düsterer Lebensbetrachtungen -, wie war Schubert angetan von den nachtdunklen schwermütigen Gedichten Wilhelm Müllers, die nicht den Hergang eines unglücklichen Liebesgeschehens, nur dessen Endpunkt, trostlose Verlassenheit, Vereinsamung, Todeserwartung beschreiben. Entsprachen sie der eigenen seelischen Verfassung des damals schwer erkrankten Schubert? Man war, als er die Lieder seinen Freunden vorsang und –spielte, über ihre düstere Stimmung völlig verblüfft, aber Schubert entkräftete solche Einwände: "Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen..."

Wie recht er hatte! Besser gefallen hat der Zyklus und wird es wohl auch nie: Fischer-Dieskau, mit Jörg Demus am Bösendorfer, verlieh der "Winterreise" die interpretatorische Endfassung. Jeder Notenwert, jede Wortsilbe, Verklärung, Irreales – wie gaben die beiden Künstler den Reflexionen des einsamen Wanderers durch Schnee und Eis den Ausdruck einer unpathetischen Passion hin zum Wahn! Ein einmalig bleibendes Erleben von Schuberts Größe und somit des Nennens der mit "Letzte Hoffnung", "Täuschung", "Der Wegweiser" und "Das Wirtshaus" erklommenen Höhen nicht wert.

Ein dutzendmal aufs Podium zurückgerufen, hatten Dieskau und Demus für überwältigenden Beifall zu danken.

Eine sich die Hände wundklatschende Dame nur, die ich sagen hörte: "Nach soviel Traurigem wird er jetzt bestimmt etwas Lustiges singen!", mußte bitter enttäuscht gewesen sein, daß solchem unangebrachten Wunsch nicht Erfüllung wurde ....

Wer eine Königskrone trägt wie Fischer-Dieskau, kann nicht gleichzeitig Spaßmacher seines Volkes sein.

R. B.

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