Zum Liederabend am 24. Oktober 1977 in Frankfurt/M.   


     Frankfurter Neue Presse, 26. Oktober 1977     

Das Drama der "Winterreise"

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schubert in Frankfurt

     

Am Treppchen vor dem Tor standen junge Leute mit Schildern "Karte gesucht". Sie hatten kaum eine Chance. Wenn Dietrich Fischer-Dieskau Franz Schuberts "Winterreise" singt, dann gibt es auch an einem warmen Herbstabend keinen, der seinen Platz fürs erste Meisterkonzert der Saison in der Frankfurter Oper freiwillig räumt. Und der jetzt 52jährige Sänger, der Anfang des Monats seine erste UdSSR-Tournee absolviert hat, wird seinem Ruhm gerecht.

Fischer-Dieskaus Interpretation des Zyklus liegt prinzipiell seit langem fest. Jedes Lied ist ein Mini-Drama vom Seelenkampf des imaginären Wanderers, in dem Hoffnung als Wahn, Resignation und Todessehnsucht als einzig bleibende Wahrheiten sich herauskristallisieren. Von daher begründen sich die starken Kontrastwirkungen, die außerordentlichen Spannungen zwischen forte und piano etwa, denen der Sänger die Lieder aussetzt, ohne sie dadurch doch je zu deformieren.

Auf der Bühne entsteht nun diese Kunstleistung – eine Präzisionsarbeit der gehauchten, geschmeichelten, gedonnerten, der fließenden und schwebenden, der leuchtenden, dunklen und fahlen Töne – wie neu, ohne alle gleichgültige Routiniertheit, mit jener kontrollierten Anteilnahme, die zweierlei schafft: jedes Lied in seiner romantischen Musikalität zu erfüllen und es zugleich zum Gegenstand der nachdenklichen Betrachtung zu machen. Jedes Anschwellen der Stimme (bei "Weh" in "Wasserflut", bei "Erde" in "Erstarrung", bei "Grabe" in "Die Krähe") ist aus dem Text erklärbar und zudem kühn, aber sicher mit der schlichten Liedform ausbalanciert.

Fischer-Dieskaus mitunter kritisierte Neigung zur Ausdruckssteigerung durch Deklamation fällt im Konzertsaal weniger auf als auf der Schallplatte. Sie bleibt als Kunstmittel solange gerechtfertigt, wie die Stimme so selbstverständlich die höchsten gesanglichen Anforderungen erfüllt, gehorsam leicht ansprechend bis zu den zartesten Pastelltönen. Da anzumerken, man habe auch ein paar ganz geringe Sprödigkeiten vernommen oder man zweifle, ob die Ketten ("Im Dorfe") gar so sehr r-r-rasseln müßten, würde gegenüber dieser Gestaltung der "Winterreise" an alberne Beckmesserei grenzen. Der Liedmeister der Epoche hat gesungen.

Am Klavier saß Günther Weissenborn, Fischer-Dieskaus getreuer Ekkehard, der, indem er gerade die Einfachheit des Klaviersatzes betont, die Form bei aller psychologisierenden Gesangskunst bewahren hilft. Stürmischer Beifall, eine nicht mehr ganz junge Dame reichte Rosen über die Rampe.

rh

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     Abendpost-Nachtausgabe, Frankfurt, 26. Oktober 1977     

Fischer-Dieskau sang Schubert-Lieder

   

Im "1. Meisterkonzert in der (Frankfurter) Oper" sang Dietrich Fischer-Dieskau Schuberts genialen Liederzyklus "Die Winterreise", deren 24 Gedichte der Dichter Wilhelm Müller geschrieben hat. Müller (1794 bis 1827) dichtete für Schubert die beiden Zyklen "Die schöne Müllerin" und "Winterreise" sowie das Lied "Der Hirt auf dem Felsen", Werke, die sich durch die kräftig bildhafte Sprache der oft gegensätzlichen Stimmungswerte und eine vielfach ins Phantastische sich steigernde Poetik auszeichnen.

Schuberts Vertonung umfaßt die tiefen Gedanken der Gedichte vom einfach volksliedhaften Lied (Am Brunnen vor dem Tore) bis zur erschütternd tragischen Dramatik des fast rezitativen Gesangs (Der Leiermann). Sie geben dem Sänger die Möglichkeit, seine Interpretationskunst zu beweisen.

Fischer-Dieskau tat das mit vollendeter Künstlerschaft, die trotzdem nie als Selbstzweck in Erscheinung trat. Die Schlichtheit des Volksliedes kam mit der gleichen Perfektion (im besten Sinne des Wortes) zur Darstellung wie die Dramatik des Kunstliedes Schubertscher Prägung. Zu dieser Vollendung der Gesangskunst befähigt den Künstler nicht nur das warme, ausdrucksvolle Stimmaterial, sondern auch die geistige Überlegenheit der Auffassung und die hohe Musikalität des Vortrages.

Ältere und junge Damen überreichten dem beifallumjubelten Sänger persönlich Blumen auf die Bühne.

Im "1. Meisterkonzert in der (Frankfurter) Oper" sang Dietrich Fischer-Dieskau Schuberts genialen Liederzyklus "Die Winterreise", deren 24 Gedichte der Dichter Wilhelm Müller geschrieben hat. Müller (1794 bis 1827) dichtete für Schubert die beiden Zyklen "Die schöne Müllerin" und "Winterreise" sowie das Lied "Der Hirt auf dem Felsen", Werke, die sich durch die kräftig bildhafte Sprache der oft gegensätzlichen Stimmungswerte und eine vielfach ins Phantastische sich steigernde Poetik auszeichnen.

Schuberts Vertonung umfaßt die tiefen Gedanken der Gedichte vom einfach volksliedhaften Lied (Am Brunnen vor dem Tore) bis zur erschütternd tragischen Dramatik des fast rezitativen Gesangs (Der Leiermann). Sie geben dem Sänger die Möglichkeit, seine Interpretationskunst zu beweisen.

Fischer-Dieskau tat das mit vollendeter Künstlerschaft, die trotzdem nie als Selbstzweck in Erscheinung trat. Die Schlichtheit des Volksliedes kam mit der gleichen Perfektion (im besten Sinne des Wortes) zur Darstellung wie die Dramatik des Kunstliedes Schubertscher Prägung. Zu dieser Vollendung der Gesangskunst befähigt den Künstler nicht nur das warme, ausdrucksvolle Stimmaterial, sondern auch die geistige Überlegenheit der Auffassung und die hohe Musikalität des Vortrages.

Ältere und junge Damen überreichten dem beifallumjubelten Sänger persönlich Blumen auf die Bühne.

W. W. Gg.

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     Frankfurter Rundschau, Datum nicht bekannt     

Bei den ersten vier Konzerten von Dietrich Fischer-Dieskaus derzeitiger Deutschland-Tournee war Svjatoslav Richter der Klavierpartner des Liedersängers, der seit dem legendären Festival in der "Scheune" von Mesley (Touraine) an dem russischen Pianisten sein sicher inspirierendstes anderes Ich am Tasteninstrument hat. Dagegen wohl mehr Vertrauen auf lange bewährte Gemeinsamkeit liegt in der Zusammenarbeit mit Günther Weissenborn, der den Gesangsinterpreten von Schuberts "Winterreise" im zweiten Teil der Tournee begleitet – an fünf Abenden, mit deren erstem die "Meisterkonzerte 1977/78" in der Frankfurter Oper begannen.

Hier leistete Weissenborn dem Liedgestalter wieder treue Gefolgschaft, zeigte sich pianistisch nur sehr selten eigenwillig-brillant, gehorchte dafür aber den Intentionen Fischer-Dieskaus aufs Wort und sah sämtliche der vom Sänger reichlich angewandten Modifikationen (der Tempi, Dynamik und Registerfarben, oft recht disparater Piano- und Fortetimbres) exakt voraus.,

Fischer-Dieskau stellte die "Winterreise" vor, direkter denn je, mitunter geradezu peinlich theatralisch (besonders bei der gestischen Illustration dramatischer Klaviereinleitungen). Statt über die Verlorenheit des einsamen Wanderers in Eis und Schnee zu trauern, suggerierte des Sängers romantisches Fühlen, er sei durchaus nicht verloren, an seiner Herzenswärme müsse alles, was erfror, schließlich doch wieder auftauen, und nur Augenblickswahrheit habe der Satz: "Ich bin zu Ende mit allen Träumen." Einzig dort, wo selbst dieser zu unmittelbarster Wortdeutung entschlossene Verkünder von Rettung durch Musik nicht umhin konnte, die im Lied reflektierte tödliche Szene aus angemessener Distanz zu beobachten, entging er seiner eigenen Exhibition. So drangen nicht wenig Visionen, am freiesten vom falschen Trost wohl die letzte vom "Leiermann", dennoch zur Wahrheit durch.

fu.

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