Zum Liederabend am 14. Oktober 1977 in Hamburg


    

     Die Welt, Hamburg, 17. Oktober 1977     

Fischer-Dieskau und Richter:

Eine ideale künstlerische Partnerschaft

     

Wenige Tage nach seinem Debüt in der Sowjetunion trat der gefeiertste Liedsänger unserer Zeit zusammen mit dem Pianisten in der Musikhalle auf, der ihn auch bei den Moskauer und Leningrader Konzerten begleitet hatte. Die Kombination Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter, für Hamburg neu und spannend, wirkte um so sensationeller, als man den berühmten Russen nie zuvor in der Hansestadt hatte hören können. Dieses Konzert nun, mit Goethe-Liedern von Hugo Wolf, bestätigte die Zusammenarbeit zweier grundverschiedener Persönlichkeiten als Idealfall künstlerischer Partnerschaft: ein großer, bewegender Abend, ein Goethe-Wolf-Symposion ersten Ranges, das die Bedeutung des genialen Komponisten glänzend hervorhob und manche vorausdeutenden Züge seiner Musik hervorleuchten ließ.

"Ganymed" wurde zum halluzinatorischen Tagtraum, zur flüchtigen Vision eines österreichischen "Impressionismus", an dem Wolf neben Mahler und Berg Anteil hat. Daß Fischer-Dieskaus Gesangskunst den früher oft berechtigten Manierismus-Vorwurf nicht mehr verdient, gehört mit zum reichen Fazit dieses Abends. Der Überfluß an Deutung, der oft genug einzelne Worte bis zur Zerfaserung mit Sinngehalt belud, ist gebändigt zugunsten einer neuen Linearität, einer sängerischen Klugheit, die suggestiver und schlichter als je zuvor die fragile Balance von Vers und Melodie herstellt.

"Grenzen der Menschheit" – die geheimnisvolle epische Ruhe dieses Gesanges mußte auch die erreichen, denen solche Goethe-Verse im Grund Fremdworte sind, denen die Dramatik des "Prometheus" vielleicht mehr sagt. Fischer-Dieskau riß seine Hörer mit der Gewalt kraftvoller Ausbrüche ebenso zu Bewunderung hin wie im Zurücknehmen in die äußerst mögliche Zartheit.

Richter, Klangfanatiker einer durchsichtigen Vielschichtigkeit, schien mit seinem Partner an Konzentrationskraft und hingebungsvoller Versenkung in den Gegenstand zu wetteifern. In der idealen Zweisamkeit eher zum Hermetisch-Exklusiven neigend als der konziliantere Sänger, unterband er aufkommenden Zwischenbeifall von vornherein mit herrisch lapidarer Geste.

Georg Borchardt

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     Hamburger Abendblatt, 17. Oktober 1977     

Ein Liederabend der Superlative

Musikhalle: Dietrich Fischer-Dieskau / Svjatoslav Richter

     

Bei jedem Konzert von Dietrich Fischer-Dieskau ist die große Musikhalle trotz zusätzlicher Podiumsplätze zu klein. Erst recht bei diesem Liederabend (Goethe-Lieder von Hugo Wolf), wo er erstmals mit Svjatoslav Richter auftrat. Den russischen Meisterpianisten, der die Hamburger seit Jahren vergeblich auf einen Soloabend warten läßt, endlich aus der Nähe zu sehen, wenn ihn auch "nur" als Begleiter kennenzulernen, war sensationell genug.

Streng und konzentriert, mit einer selbstverständlichen pianistischen Beweglichkeit, für die das Wort Brillanz zu fade ist, stellte Richter sich dem Sänger-Freund als feinnerviger Klangregisseur zur Verfügung. Doch stets hatte man das Gefühl von Einmütigkeit: Zwei Musiker, deren lyrische Sensibilität und analytische Fähigkeit sich multiplizierten. Richters aus großer Ruhe, grüblerischer Tiefe und leiser Intensität kommende Empfindsamkeit und Fischer-Dieskaus hingebungsvolle, fast verzückte Ausdrucksgewalt harmonierten in jeder Verszeile.

Welch ein Kontrast zwischen dem gewaltigen, schneidenden Pathos in den drei das Pathologische aufspürenden Harfner-Gesängen und der hauchzarten Pianissimo-Kultur in "Frühling übers Jahr"! Frappierend der Wechsel zwischen explodierender Dramatik ("Grenzen der Menschheit", "Prometheus") und meditativer Sanftheit ("Anakreons Grab"). Neben Beispielen distanzierten Humors in den "Cophtischen Liedern" führten die beiden Künstler mit dem "Rattenfänger" ein tollkühnes Paradestück übermütiger artistischer Bravour vor. Der enthusiastische Beifall und die Zugabesucht nahmen beängstigende Ausmaße an, bis Fischer-Dieskau heiter verdeutlichte, daß nun endlich Schluß sein müßte ("Nicht länger kann ich singen" aus Wolfs Italienischem Liederbuch).

S. T.

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     Norddeutsche Rundschau, Itzehoe, 22. Oktober 1977     

Hamburger Notizen

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Um noch bei den Künsten zu bleiben: Dietrich Fischer-Dieskau startete in Hamburg seine Deutschlandtournee, auf der er ausschließlich Lieder von Hugo Wolf auf Texte von Goethe bringt. Am Flügel der weltbekannte russische Pianist Svjatoslav Richter. "Was", fragte ich ihn, "hat Sie bewogen, Ihre eigenen Tourneen zu unterbrechen und ‚nur’ als Begleiter von Fischer-Dieskau auf den Programmzetteln zu firmieren?" "Fischer-Dieskau" erwiderte Richter mit einem Achselzucken.

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michel

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