Zum Konzert am 11. September 1977 in Berlin


Die Welt, 13. September 1977

Hindemiths "Unaufhörliche" in der Philharmonie –
Betroffenes Schweigen, dann viel Beifall

Die wilden Jahre werden kundgetan

Als übliches Oratorien-Konzert wäre eine Aufführung des seit fast einem Vierteljahrhundert in Berlin vermißten Oratoriums "Das Unaufhörliche" von Paul Hindemith nur ein kalt lassendes Bildungserlebnis und eine Auffrischung des Gedächtnisses geworden. Als repräsentative Aufführung, obendrein durch glänzende Helfer unterstützt, ging Hindemiths Kolossalwerk, das 1931 von Otto Klemperer an der Kroll-Oper aus der Taufe gehoben wurde, unter die Haut und zwang die Zuhörer in der Philharmonie zu betroffenem Schweigen, ehe sie sich zu langanhaltendem Applaus und Bravo-Rufen aufrafften.

Das abendfüllende und aufwendige Oratorium, zu dem Gottfried Benn den Text verfaßte, ist ein sperriges Stück. Viel Zivilisationskritik wird hier in ihm geübt. Kritik an den Erscheinungen der Zeit um 1930. Mit ätzender Schärfe, wohl auch gelegentlich mit Ressentiments. Die beißende Kulturkritik hat Benn mit idealistischen Tendenzen verquickt. Materialistischer Nüchternheit wird ein Mystizismus entgegengehalten, der auf den ewigen Wandel der Geschichte setzt. Und das macht die Modernität dieses Benn-Textes aus.

Ein Erzmusikant wie Hindemith in Gesellschaft des Expressionisten Benn – das ist eigenartig genug, denn der mit schwerem Inhalt befrachtete Text, seine tiefschürfende gedankliche Substanz sträubt sich eigentlich gegen Musikalisierung. Nicht frei von Längen und Beschwerlichkeiten ist denn auch der Weg, den Hindemith bei der Vertonung beschritt. Benns Zivilisationskritik, sein Kulturpessimismus und seine Neigung zu verschwommener Mystik korrespondieren offenbar mit Hindemiths Abkehr von den Umsturztendenzen der wilden Zwanziger und mit dem Einschwenken auf die Tradition des Kontrapunkts.

So ganz verzichten mochte Hindemith doch nicht auf die Errungenschaften seiner "wilden Jahre". Die drei Arien des Solo-Baritons, begleitet von grellen bizarren Marsch-Rhythmen, zeugen davon auf eindrucksvolle Weise. Imponierend auch die lyrischen Schönheiten in den Soli des Soprans und Tenors sowie die massiven Chor-Sätze, die wie Choräle aus alten Passionen klingen.

Gleichwohl, das Monumentalwerk Hindemiths und seine Aufführung hinterließen einen starken Eindruck, weil der interpretatorische Einsatz ebenso groß wie prominent war. Chor und Knaben-Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale, einstudiert von Roland Bader, sangen stimmgewaltig Seite an Seite. Edith Mathis gab dem Sopran-Part anrührende Innigkeit. Josef Hopferwieser führte den Glanz seines Tenors ins Feld. Dietrich Fischer-Dieskau artikulierte mit verkündendem Nachdruck und suggestiver Emphase Benns Kritik am Forschrittsdenken der Industriegesellschaft. Die Philharmoniker versahen ihre instrumentalen Aufgaben mit vollem Engagement. Als souveräner Geist über allem: Wolfgang Sawallisch. Wie er sich in bekennerischer Intensität mit Benns Weltbetrachtung und ihrer musikalischen Ausdeutung durch Hindemith durchaus einig war, darin lag die besondere Kunst und Überzeugungskraft dieses herausragenden Wiederbelebungsversuches eines Oratoriums, das kein Repertoirestück ist und es, wegen seines riesigen und teuren Aufwands, auch gar nicht sein kann.

Wolfgang Schultze


   

     Der Tagesspiegel, Berlin, 13. September 1977     

Die Zwanziger sind abgelegt

Hindemiths Oratorium "Das Unaufhörliche"unter Sawallisch

   

"Kein Lehrstück, sondern mehr eine Dichtung" schickt Gottfried Benn im Sommer 1930 an Paul Hindemith, der den Autor um einen zu vertonenden Text gebeten hatte. Die Zwanziger sind vorbei, die Verhältnisse nicht gut: "Es wird sich keine andere Perspektive finden lassen", schreibt Benn in der Einleitung seines Oratoriums, "kein anderer Ausweg aus Leben und Tod, als daß sich das Individuum wie die ganze menschliche Gemeinschaft immer wieder des unauflösbaren mythischen Restes ihrer Rasse erinnert und sich der Schöpfung übereignet, ihrem großen Gesetz, dem Unaufhörlichen."

Und Hindemith, der seine bilderstürmerischen Jahre hinter sich hat, besinnt sich seiner "konservativen Schulung" und schreibt dieses monumentale Werk in drei Teilen für Soli, gemischten Chor, Knabenchor und Orchester, das am 21. November 1931 in Berlin unter Klemperer uraufgeführt wird.

Die Flucht aus der Gegenwart ist angetreten, eine "allgemeine Trauer des Seins" das herrschende Gefühl. Der Industriestädter denkt an die Kindheit im Garten, die "Fortschritte der modernen Technik" sind ihm suspekt geworden, das Individuum, "Verlorenes Ich" (Titel eines Benn-Gedichts), dem das Unaufhörliche ein schmerzliches Prinzip ist, steht vor dem Nichts: "Schmeckt ihr den Becher Nichts, den dunklen Trank?"

"Mehr eine Dichtung", verheißt das Oratorium am Ende mit den Unschuldsstimmen der Kinder recht vage Hoffnungen: nicht "des Menschen Gieriges", das nur auf Fraß und Paarung aus ist, sondern "das Leidende wird es erstreiten", "das Ringende geht in die Schöpfung ein", die "ewig im Wandel und im Wandel groß" ist. Spätexpressionistische Gebärde und intendierte Sachlichkeit – "die Notwendigkeit ruft, und der Zufall antwortet" – gehen in Benns Text eine Ehe ein, aus der unmittelbar Zeitgeist spricht, ein Weltbild, Suche nach Weltanschaulichem: Hindemith antwortet mit großer Polyphonie, mit Doppelfugen, Passacaglia, apotheotischem Finale. Die Zwanziger werden gleichsam abgelegt im parodistischen Marschzitat.

Hindemiths Partitur, im Zeugenstand dieser Festwochen ohne Zweifel eine der wichtigsten, ist inspiriertes Handwerk, durchaus von Leben durchpulst, überraschend illustrativ etwa im Paukenpart, den meisterhaft konzentriert Werner Thärichen verwaltete. Überhaupt hatte die Aufführung in der Philharmonie hohes Format. Zumal die Berliner Philharmoniker, aber auch der zum Schluß durch seinen Knabenchor ergänzte Chor der St. Hedwigs-Kathedrale reagierten äußerst flexibel auf die Differenzierungskunst des Dirigenten Wolfgang Sawallisch, der die selbstverständliche Überschaubarkeit des Ganzen zu danken war.

Die Musik war in jedem Augenblick griffig, weil Sawallisch (ganz anders, meiner Erinnerung nach, als der Komponist selbst, der sein Werk 1957 im Berliner Hochschulsaal dirigiert hat) zu gliedern, zu ordnen, die Fugenkomplexe so intensiv wie leicht und elegant zu gestalten versteht. Ein Abend der Farben auch, der Instrumental-Soli der Spitzenklasse: wundervoll, um nur ein Beispiel zu nennen, die beiden Klarinetten am Ende des zweiten Teils. Sawallisch, in Berlin in den letzten Jahren leider ein seltener Gast, entspricht Hindemiths kompositorischem durch ein dirigentisches Handwerk, das A und O aller Interpretenträume ist.

Die Vokalsolisten: Edith Mathis mit ihrem "Aber die Kunst" war ganz Stimme, Josef Hopferwieser, heller Charaktertenor, bestand mit nobler Deklamation neben ihr und Dietrich Fischer-Dieskau, dem Motor lebendigen Nachgestaltens und faszinierenden Mittelpunkt der Aufführung, die den verdienten Beifall fand.

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Sybill Mahlke


   

     Berliner Morgenpost, 14. September 1977     

Konzertreigen in der Philharmonie

Die zwanziger Jahre zeigten sich musikalisch ergiebig

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Oratorium von Hindemith und Benn

Wies dieses von WDR und SFB ausgerichtete Festwochen-Konzert nach Paris, so nahm der Abend mit den Berliner Philharmonikern unter Wolfgang Sawallisch Bezug auf eine Berliner Uraufführung von 1931. Damals, im Ausklang der "Roaring Twenties", hatte sich Paul Hindemith mit dem Dichter Gottfried Benn zusammengesetzt, um ein Oratorium zustande zu bringen: "Das Unaufhörliche".

Die dankenswerte Aufführung (dankenswert, weil das Stück immer nur geschichtlich erwähnt, aber so gut wie nie gespielt wurde) brachte an den Tag, daß die künstlerische Ehe dieser beiden profunden Persönlichkeiten disharmonisch war. Benns lyrischer Pessimismus, scharfzüngig und gespickt mit Assoziationen, dabei ebenso Jargon- wie Mythen verbunden, will sich einfach nicht mit Hindemiths gradliniger Vertrauensseligkeit vertragen. Beide haben in ihrer Disziplin Meisterwerke verfaßt – nur eben aneinander vorbei.

Daß die Aufführung dennoch eine Illusion von Geschlossenheit vermittelte, war sicherlich dem hochkarätigen Aufgebot der Beteiligten zu verdanken. Das waren nicht nur die putzmunteren Philharmoniker und der großartig konzentrierte Wolfgang Sawallisch, dazu trugen auch der Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale (einschließlich seiner Knaben), von Roland Bader eindringlich vorstudiert, sowie die schmiegsamen Stimmen von Edith Mathis und Josef Hopferwieser ihr gerüttelt Maß bei.

Da war vor allem Dietrich Fischer-Dieskau, der neben seinen Stimmqualitäten immer wieder als schieres Wunder der Deklamationskunst zum Staunen hinreißt.

Wilfried W. Bruchhäuser


 

     Der Abend, Berlin, 13. September 1977     

W. Sawallisch in der Philharmonie

    

Vor 20 Jahren hat Paul Hindemith selbst sein Oratorium "Das Unaufhörliche" in Berlin dirigiert, das auf Gedichten des in Schöneberg lange als Arzt tätig gewesenen Dichters Gottfried Benn fußt. Damals, wie in dem jetzigen Festwochenkonzert (in der sehr gut besetzten Philharmonie), vertrat Dietrich Fischer-Dieskau die Bariton-Partie. Mittlerweile liegen fast 50 Jahre zwischen uns und der Entstehung des Werkes.

Mit dem Titel meint Benn das große ewige Gesetz, dem die Menschheit in Werden und Vergehen unterworfen ist: Ewig im Wandel. Aber während Benns Spruchlyrik in Teilen irrational und zeitgebunden erscheint, ist Hindemiths Musik, die an Bach und auch an Bruckner denken läßt, nach Inhalt und Form zeitlos geblieben. Sie hat in der Distanz an innerer Kraft eher noch gewonnen.

Der Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale (Einstudierung: Roland Bader) wurde den Schwierigkeiten der Intonation und des Ausdrucks soweit gerecht, wie es ein gutgeschulter Laienchor nur irgend vermag. Die Philharmoniker, von dem in Berlin seltenen Münchner Gast Wolfgang Sawallisch mit gereifter Erfahrung geführt, spielten Hindemith mit hoher Eindringlichkeit.

Die drei Solisten zeichneten sich durch das Gleichmaß ihrer inneren Beteiligung und ihres Könnens aus. Neben Dietrich Fischer-Dieskau, der die umfangreichen Bariton- und Baß-Soli mit gewohnter Meisterschaft der Stimmbeherrschung und der Textgestaltung sang, standen ebenbürtig Sopran und Tenor: Edith Mathis, die sich in Berlin leider sehr rar macht, mit der melodischen Süße und Geschmeidigkeit ihrer Stimme und Erscheinung, daneben der hier noch fast unbekannte Österreicher Josef Hopferwieser, der zu der seltenen Kategorie nicht nur stimmschöner, sondern auch intelligenter und ausdrucksfähiger Tenöre gehört.

Hindemith und Sawallisch fanden ein über Erwarten reiches, fast herzliches Echo.

W. S.

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     Neue Zürcher Zeitung, 12. Oktober 1977    

Hindemiths "Das Unaufhörliche" und "Cardillac"

Ein Oratorium und eine Oper an den Westberliner Festwochen

    

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In der Philharmonie hatte drei Wochen vorher Wolfgang Sawallisch das Oratorium "Das Unaufhörliche" zu einer Aufführung gebracht, die zwiespältige Eindrücke hinterließ. Das war gewiß nicht die Schuld des textlich (Gottfried Benn) und musikalisch genialen Stücks oder des Dirigenten. Die Schwächen lagen in dem offenbar nicht genügend vorbereiteten Chor der St. Hedwig-Kathedrale, der seit dem Tod des unvergessenen Karl Forster nicht zu seiner einstigen Bedeutung zurückgefunden hat. So gab es in den wichtigen großen Chorszenen schon zu Beginn, doch auch im zweiten Teil und im Wechselchor des dritten Unstimmigkeiten und Mängel an Präzision, wie man sie bei einer Festwochenaufführung nicht gern hinnimmt. Von den Solisten hielten Edith Mathis und Dietrich Fischer-Dieskau ihr hohes stimmliches und musikalisches Niveau, das der Träger der Tenorpartie Josef Hopferwieser nicht zu erreichen vermochte. So konnte Sawallisch das klare musikalische Konzept, das oft spürbar wurde, nicht immer verwirklichen, obwohl die Berliner Philharmoniker sich seiner überlegenen Führung fast überall anpaßten. Die Aufführung wurde trotz ihren Mängeln sehr herzlich aufgenommen. Hindemith war mit diesen Werken von 1925 und 1931 würdig vertreten, wie es ihm gebührt.

H. H. Stuckenschmidt

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     Wiesbadener Kurier, 22. September 1977       

Berliner Festwochen

Musikalischer Spiegel der zwanziger Jahre

Prominente Ensembles und aufsteigende Talente

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Stärkere Konzentration noch [...] erfordert Hindemiths Oratorium "Das Unaufhörliche". Nicht, daß die herbe, sich bewußt von der Chromatik seiner Vorgänger abwendende Sprache unfaßlich bliebe; es ist vielmehr der Text, der dieses monumentale Werk so schwer verständlich macht. Ja das, was man Hindemith oft vorgeworfen hat, die irrationale Prägung seines musikalischen Wollens, gilt hier einzig für seinen Dichter Gottfried Benn, mit seiner tiefen Trauer über die Vergänglichkeit des vom Menschen Geschaffenen. Und doch obsiegt ein Hoffnungsstrahl, durchzieht lichte Polyphonie die lyrische Tristesse, leuchten instrumentale wie vokale Soli - der prächtige Bläserchor des Berliner Philharmonischen Orchesters nicht zu vergessen - wie Fixsterne aus mythisch verhangener Nacht: Dietrich Fischer-Dieskau vor allem, ein Faszinator Musik gewordenen Geistes seit eh und je, aber auch E. Mathis, J. Hopferwieser und insbesondere Wolfgang Sawallisch, der Koordinator, in seiner bewunderungswürdigen gelösten Intensität.

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Bernd Kima

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