Zur Liedermatinée am 24. Juli 1977 in München

  


       

     Süddeutsche Zeitung, 25. Juli 1977     

Münchner Festspiele

Drei Nervenmusiker begegnen Goethe

Lieder-Matinée mit Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter

   

In Goethes Namen trafen sich drei der Sensibelsten: Hugo Wolf, Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter. Es galt, Verse musikalisch zu interpretieren, in Gesangslinien und Klavierpoesie zu Ende zu dichten. Hier zuzuhören, war ein intellektueller Genuß, weitab von dem, was als Ohrenschmaus schlichthin behagt. Das Nationaltheater konnte an einem Sommersonntagmorgen den Andrang kaum fassen; man wollte Fischer-Dieskau als singenden Exponenten des Esoterischen begegnen und Svjatoslav Richter zum erstenmal in München beim Zusammenwirken mit einer Singstimme kennenlernen. Der Beifall nahm beängstigendes Ausmaß an; Fischer-Dieskau gelangte an den Rand seines Goethe-Repertoires, mußte auf Mörike überwechseln und schließlich einen deutlichen Wink geben, daß es nun genug sei.

Von Hugo Wolfs Goethe-Gesängen haben es nur zwei zu Popularität gebracht: "Der Rattenfänger" und "Anakreons Grab". Die Ballade glitzerte in diskreten Artikulationseffekten, das edelste Stück Anakreontik begab sich selbstvergessen im weichsten Dolce, das man von einem Sänger wie von einem Pianisten erwarten kann. Zwei lyrische Naturen harmonierten miteinander: der Sänger der Zwischentöne und klugen Farben, der Pianist des elegischen Gefühls und des schier überfeinerten Anschlags. Man konnte im brüderlichen Verein schwelgen, sich in Nuancen ergehen, jäh Tempo und Lautstärke wechseln – der andere war stets zur Stelle und verstand den Partner aufs Goethe-Wort. Nur in solcher Eintracht läßt sich ein Koloß wie "Prometheus" bewältigen; das Klavier donnert eine Tondichtung im Sinne Liszts, die Baritonstimme explodiert in rezitativischem Aufbegehren. Man stellte das fatalistische Gegenstück daneben: "Grenzen der Menschheit". Wir werden beide Extremfälle der spätromantisch-intellektuellen Goethe-Analyse Hugo Wolfs so bald und so imposant nicht wieder hören.

Unter Wolfs 51 Goethe-Vertonungen sind die drei Gesänge des Harfners wohl die schwierigsten. Ihre Septakkorde und Synkopen trachten, die ganze Leidensgeschichte des Verstörten in Töne zu fassen, ja den "Wilhelm Meister" zu Klangformeln zu komprimieren. Fischer-Dieskau wie Richter spürten das Pathologische auf, um das es Wolf ging. Im unheimlich lastenden oder schleichenden Piano vollzog sich die dreiteilige Biographie des Harfners. Welch ein Kontrast sodann, als es an den distanzierten Humor der kophtischen Sinnsprüche ging, an Wolfs Unterfangen, die gutgelaunte Weisheit "Lasset Gelehrte sich zanken und streiten" mit den Mitteln der variierten Strophenform auszulegen. Fischer-Dieskau, im Vollbesitz aller Register, schnellte die Worte mit lächelnder Souveränität in das für ein Liederkonzert viel zu große Haus, und Richter sekundierte ihm mit rhythmischer Bravour.

Hugo Wolf hat auch den jungen Goethe in seine Sprache der höheren Nervosität und schürfenden Klugheit übertragen. Er schrieb dann Lieder in einem sehr preziösen Sinne, Phantasien eines zerrissenen Nachgeborenen, Ausbrüche in den Realismus ("Der Schäfer") und in den melodischen Elan ("Frühling übers Jahr"). Den Interpreten wird hier aufgebürdet, auch noch das spannungsreiche Verhältnis Wolfs zu Goethe deutlich zu machen. Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter fanden den ausgleichenden Tonfall einer artistischen Bravour: So spiegelte sich Lyrik des späten Rokoko in einem komplizierten Gemüte mehr als hundert Jahre später.

Die Matinée war ein musikalischer, geistiger Gewinn. In knapp zwei Stunden hatte man mehr über Goethe und Wolf erfahren als aus einem Stapel von Büchern.

Karl Schumann

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     Münchner Merkur, 26. Juli 1977     

Münchner Festspiele: Goethe-Lieder von Hugo Wolf

Fischer-Dieskaus Prometheus-Größe

   

Die Lieder-Matinée, die Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter mit Goethe-Liedern von Hugo Wolf gaben und die zu einem Ereignis wurde, begann gleichsam privat in einem hochoffiziellen Rahmen: Als man sich auf die Beleuchtung eingestellt hatte, sah man Männer im dunklen Anzug an einem Flügel, hervorgehoben durch einen sanft indirekten Scheinwerfer und damit separiert von den Weiten und Tiefen der Nationaltheater-Bühne. Fischer-Dieskau und Richter spielten sozusagen Liederabend, und man könnte diesen Gedanken ausbauen, wenn man an die immer reicher werdende Mimik des Sängers denkt, die nicht nur unterstreicht und auslegt, sondern den ganzen Auftritt mitgestaltet, und an Richters beredte Gestik, die seiner Spielweise eigen ist.

Akustisch konnte das Private freilich keine Entsprechung finden; es lag wohl weder an dem (übrigens glasklaren) fernöstlichen Instrument – Richter bevorzugt diese Marke seit einiger Zeit – noch an der Zurückhaltung des Pianisten (der das Begleiten seit langem gewohnt ist), sondern an der Örtlichkeit, daß Hugo Wolfs kunstvoller Klaviersatz und seine harmonischen Feinheiten nicht immer durchdrangen. Spätestens beim "Rattenfänger" (am Ende des ersten Teils) aber wußte man die Partnerschaft eines ebenso brillanten wie sensiblen Künstlers hochzuschätzen.

Das Außerordentliche dieses Konzerts stellte sich vollends in der zweiten Programmhälfte ein: Die "Grenzen der Menschheit", der "Prometheus" gelangen überwältigend. Da gibt es auch keine Abstriche oder Einschränkungen, hier wird null und nichtig, was man bei den (in jeglichem Sinn) leichteren Liedern einwenden mag – etwa das gelegentliche Übergewicht mancher Konsonanten, auch nicht genau fixierte einzelne Töne, beides bedingt durch das betont Deklamatorische in Fischer-Dieskaus Interpretationen.

Aber auch an den kleineren Werken bleibt des Staunens genug, über die Übereinstimmung von Sänger und Pianist, Komponist und Dichter im Schleichen des zweiten Harfner-Gesangs, in der Kennzeichnung der Faulheit im "Schäfer". Wolf erschien in jenem Licht und in jener Größe, die ihm gemäß sind – als eine Antithese zu Zelters einfachen, die Worte umrankenden Weisen, als aus der Fülle schöpfender, autonomer Mitgestalter.

Fünf Zugaben für die Ovationen, darunter auch – ein wenig abschweifend von der Strenge der Goethe-Lieder (von 1888/89), gewissermaßen als noble Konzession an die volkstümliche Mörike-Welt: der Gesang Weylas.

Autor unbekannt

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     Abendzeitung, München, 25. Juli 1977     

Sternstunde mit Fischer-Dieskau

Hugo- Wolf-Lieder-Matinée mit Dietrich Fischer-Dieskau
und Svjatoslav Richter im Nationaltheater

    

Liederabende Fischer-Dieskaus gehören stets zu den Höhepunkten der Münchner Festspiele. In dieser Matinée ereignete sich Sternstundenhaftes. Fernab von allem Sensationellen offenbarten zwei Musiker die letzten Geheimnisse Wolfscher Liedkunst. Svjatoslav Richter, Poet unter den Lied-Pianisten, spürte die Seele der Musik bis in die kleinsten Verästelungen der Pianobereiche auf, verschenkte keinen Ton, keinen Akkord, gab Einblicke frei in künstlerische Intimbereiche.

Fischer-Dieskau, gespannt und konzentriert wie selten zuvor, erschloß die schillernde Vielfalt und das bohrende Pathos der Goethelieder bis in tiefste Bereiche. Unmanierierter, schlichter und zugleich größer läßt sich Hugo Wolf nicht darstellen.

R. Sch.

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     tz, München, 26. Juli 1977     

Höhenflüge bei Fischer-Dieskau

Goethe-Lieder von Hugo Wolf in einer Lieder-Matinée mit
Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter im Nationaltheater.

    

Zu Höhenflügen der Liedkunst führte das Duo Fischer-Dieskau/Svjatoslav Richter. Wenn Festspiele so etwas wie den Ausnahmezustand vom normalen Kunstbetrieb darstellen sollen, dann ist es hier exemplarisch geglückt. Unglaublich gelöst stellte sich Fischer-Dieskau den verwirrend vielfältigen Seelenlandschaften Hugo Wolfs, die Stimme ganz im Dienst der musikalischen und textlichen Artikulation, den feinsten Gefühlsregungen von Komposition und Dichtung mit vollendeter Einfühlungsgabe folgend.

Ein Ereignis schon die drei Gesänge des Harfners aus "Wilhelm Meister". Und wie lyrisch kann dieser monumentale Beethoven-Spieler Richter werden, wenn es darum geht, Poesie zu reflektieren. Dabei Begleitung immer auch als mitgestaltende Partnerschaft verstanden. Nur so können Lieder wie "Frühling übers Jahr" oder "Der Schäfer", von allen technischen Problemen befreit, ihren ganzen Zauber entfalten, nur so wird "Prometheus" zu einer dramatischen Auseinandersetzung des Individuums mit dem Schicksal.

Man könnte nicht müde werden, von dieser Lieder-Matinée zu schwärmen.

Karl-Robert Danler

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     Bayerischer Staatsanzeiger, München, 29. Juli 1977     

Geisterbraut und Hugo-Wolf-Festival

Besonderheiten aus dem Programm der Münchner Festspiele

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Zu den überhaupt erreichbaren Gipfelhöhen des Lied-Gesangs und des Lied-Gestaltens aus dem Erleben von Ton und Wort führte Fischer-Dieskaus Wolf-Matinée. Der überwältigende Eindruck dieser Liederstunde war aber wesentlich mitbestimmt von der Gleichgestimmtheit, vom Einverständnis des großen Sängers mit seinem Partner am Flügel: Svjatoslav Richter, der an seinem Instrument wahre Wunder von dynamisch differenzierter Anschlagskunst vollbrachte. Eine unvergeßliche Stunde im Zeichen Hugo Wolfs und Goethes, ein echtes Meister-Konzert.

[...]

Anton Würz


    

    "Oper und Konzert", München, 9/1977     

Nationaltheater

Liedermatinée: Goethelieder von Hugo Wolf

Dietrich Fischer-Dieskau, Svjatoslav Richter

   

Viele Goethegedichte sind eins geworden mit Musik, aber nicht alle mit der Musik Hugo Wolfs. So vollkommen sich Wolfs Vertonung mit zergrübelten Gedichten (wie die Gesänge des Harfners aus "Wilhelm Meister") oder auch mit dem hintergründigen Humor des "Schäfers" oder "Rattenfängers" deckt, bei vielen, vor allem den strahlenden, nach außen gewandten Gedichten bleibt Wolf im Schatten Schuberts. "Ganymed", "Grenzen der Menschheit", "Prometheus", aber auch "Wanderers Nachtlied" sind einfach Schubertlieder geworden, und gerade die Vollkommenheit der Interpretation durch Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter - beide waren in bester Verfassung - bestätigte das. Dietrich Fischer-Dieskau schöpft wie kein anderer Sänger - jedenfalls soweit Schallplattenaufzeichnungen und Erinnerungen zurückreichen - mit Sprache und Stimme jedes Wort und jeden Ton eines Liedes aus, und sein Begleiter Svjatoslav Richter steht ihm darin nicht nach. Es ist unglaublich, welchen Reichtum an farblichen und dynamischen Valeurs, an Ausdrucksnuancen das Klavier - ein an sich ganz neutral klingender Yamahaflügel - unter Richters Händen hergibt und wie vollkommen Sänger und Begleiter aufeinander eingehen.

Nicht ideal in diesem Konzert war der Raum: für die Feinheit gerade von Wolf-Liedern ist das Nationaltheater zu groß, sie können nicht an allen Plätzen wahrgenommen werden. Andererseits fanden selbst hier bei weitem nicht alle andrängenden Menschen Platz.

Hans Huber

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