Zum Liederabend am 17. Juli 1977 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 19. Juli 1977     

Fischer-Dieskau auf Winterreise

Liederabend im Herkulessaal

     

Auch seinen Liederabend während der Münchner Festspiele hatte Hermann Prey abgesagt, und für ihn sprang nun kein Geringerer als Dietrich Fischer-Dieskau ein. Er sang wieder einmal Schuberts Winterreise – doch halt, dieses "wieder einmal" soll nicht den geringsten Unterton von Naserümpfen haben. Wie oft haben wir seinerzeit gemäkelt, wenn Furtwängler "wieder einmal" Beethovens Fünfte aufs Programm setzte, und was würden wir heute darum geben, wenn wir sie nur noch ein einziges Mal unter Furtwängler hören könnten. So werden wir uns später auch an Fischer-Dieskaus Winterreise zurückerinnern. Seine vor allem in der Mittellage gewaltig anschwellende, noch im Pianissimo mühelos anspringende, jede Textzeile verständlich machende Stimme ist ja nur erst das Instrument, mit dessen Hilfe hier ein reifer Künstler einen der schwermütigsten und musikalisch reichsten Zyklen der Liedliteratur nachgestaltet. Mag sein, daß Fischer-Dieskau früher "objektiver", im Ausdruck zurückhaltender blieb und daß er, der begehrte Bühnensänger, nun manche Seelenstimmung, manche Gefühlsregung etwas dramatischer ausspielt; dem Werk hat das nicht geschadet. Als das unsäglich traurige Lied vom Leiermann verklungen war, löste sich im (natürlich restlos ausverkauften) Herkulessaal nur langsam der Bann in dann freilich stürmischem Applaus.

Mit nachdrücklicher Akkolade bezog Fischer-Dieskau auch Wolfgang Sawallisch in den Beifall ein. Es ist wohl denkbar, daß sich ein großer Pianist, ein Richter oder Brendel, noch tiefer in die Wunder des Schubertschen Klaviersatzes versenkte; doch ein vollkommenerer Begleiter ist kaum denkbar. So gelöst, so gesammelt, als stehe er nicht fast jeden Abend am Opernpult, folgte Sawallisch dem Sänger, gab er ihm Sicherheit und Freiheit, daß man nicht ein superperfektioniertes Starkonzert erlebte, sondern ein makellos freies Zusammen-Musizieren. Übrigens: auch darin kann der Rezensent nichts Ungewöhnliches sehen, daß diese Winterreise mitten im Hochsommer stattfand. Schließlich sind Winter, Eis und Schnee in diesem Werk auch Metaphern für Einsamkeit, Greisenalter und Verlassensein, und sollte das alles den Menschen nur in der kalten Jahreszeit anfallen?

Go

__________________________________

    

     Münchner Merkur, 19. Juli 1977     

Mit Dieskau auf Winterreise

 

Langer Begrüßungsapplaus, in dem gewiß Dank mitschwang, daß Dietrich Fischer-Dieskau für seinen erkrankten und am gesamten Festspielgeschehen diesmal unbeteiligten Kollegen Hermann Prey eingesprungen war (Herkulessaal).

Anstelle der von Prey vorgesehenen Beethoven-Lieder sang Fischer-Dieskau die "Winterreise" von Franz Schubert, jenen Zyklus romantisch-melancholischer Gesänge, als deren Interpret er einst in den fünfziger Jahren seinen weltweiten Ruhm als maßstabsetzender Liedersänger begründete. Selbstverständlich, daß jene ursprüngliche, völlig neue Aspekte eröffnende Konzeption bei einem Künstler vom Range Fischer-Dieskaus im Laufe der Zeit Modifikationen unterliegt.

So hörte man diesmal eine psychologisch-realistische Deutung, die in extrem dynamischen Kontrasten das Gesamtbild ausleuchtete. Zarteste, fast bis zum Flüstern abgedämpfte Töne depressiver Ausweglosigkeit wechselten abrupt mit Vorderausbrüchen aufbegehrender Vitalität.

Schuberts Dur-Moll-Wechsel in ihren überraschenden, aber doch von ruhigem Atem getragenen Stimmungs-Metamorphosen verlor da in einigen Liedern an magischer Intensität wie im einleitenden "Gute Nacht", im "Frühlingstraum" oder im "Lindenbaum". Andere wiederum faszinierten durch ausgeglichene Stimmführung mit der bei Fischer-Dieskau gewohnten Innerlichkeit.

Musterbeispiele dafür "Auf dem Flusse", "Die Krähe" oder "Einsamkeit" – ganz abgesehen von den stürmischen Zwischenschaltungen in Liedern wie "Die Wetterfahne" oder "Mut".

Idealer Partner am Klavier Wolfgang Sawallisch, der sich in feinsten Anschlagsnuancen vom duftigen Pianissimo bis zum ehernen Forte überbot und sich mit der Konzeption des Sängers völlig identifizierte.

Frenetischer Jubel des Publikums, das Fischer-Dieskau und Wolfgang Sawallisch immer wieder auf das Podium lockte.

Helmut Lohmüller

__________________________________

   

     Abendzeitung, München, 19. Juli 1977  

Rote Rosen und blumige Liedkunst

"Winterreise" mit Fischer-Dieskau

  

Erster Liederabend im Rahmen der Opernfestspiele: Für den erkrankten Hermann Prey sprang Dietrich Fischer-Dieskau ein. Am Klavier begleitet von Wolfgang Sawallisch sang er Schuberts "Winterreise" (Herkulessaal).

Unbekannte Verehrer hatten den Flügel mit zwei roten Rosen verziert – passend zu Dietrich Fischer-Dieskaus blumig-nostalgischer Liedkunst, wohingegen sich Wolfgang Sawallisch dezent in Zurückhaltung übte.

Statt auf die Aussagekraft der Töne setzte Fischer-Dieskau auf das sentimentale Psychogramm der Verse Wilhelm Müllers. Mit detektivischem Spürsinn wurde der Weltschmerz einer zerrissenen romantischen Seele bloßgelegt. Bedächtig und mitunter derart leise, daß die Forte-Ausbrüche danach recht unverhofft und aufgesetzt wirkten.

Früher sang Fischer-Dieskau die 24 "Winterreise"-Lieder schlichter. Ovationen, eine Viertelstunde lang.

Volker Boser

__________________________________

   

     tz, München, 19. Juli 1977     

Und Dieter hat geholfen ...

   

"Dieter, Du mußt mir helfen!", bat Wolfgang Sawallisch nach der Absage von Hermann Prey. Und Dieter hat geholfen!

Dietrich Fischer-Dieskau, schlank und jugendlich in Stimme und Figur, sang Schuberts "Winterreise" ohne Pause mit gewaltigen Ausbrüchen und unnachahmlichen Pianos, mit Drastik ("Die Mutter gar von Eh’") und berückender Lyrik ("Weht daher ein lauer Wind"). Manches hätte man sich schlichter gewünscht ("Der Wegweiser"), vieles ein bißchen schneller. Der große Atem verführt den Sänger zum Verweilen, zu himmlischen Längen.

Doch solchen Einwänden stehen Dutzende Sternsekunden der Musik gegenüber. Fischer-Dieskau schafft an diesem Sommerabend wie mühelos die Illusion von Frost und Schnee: Der Sommer, der ein Winter war. Fernab von Wanderburschen-Kraft gestaltet er Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Erstarrung.

An Wolfgang Sawallisch wäre allein die physische Kraft zu bewundern, mit der er am Morgen dirigiert und am Abend begleitet. Er tut das so unaufdringlich und souverän, daß man ihm getrost auch eine große Pianisten-Karriere zutrauen würde. Blindes Verstehen mit dem Sänger, totale Konzentration, ein sechster Sinn, wenn einmal Probleme auftauchen, beseelte Sachlichkeit.

Ein Publikum, das über ganze Lieder hinweg mit atem- und hustenloser Stille gebannt zuhörte, tobte sich am Schluß mit Beifallsstürmen aus.

H. R.

__________________________________

   

     Mittelbayerische Zeitung, Regensburg, 25. Juli 1977     

Eine Passion – das Festspiel sprengend

Fischer-Dieskau sang Schuberts "Winterreise" im Herkulessaal

    

Das Gerangel, ob in Bayreuth nach dem "Parsifal" geklatscht werden darf, kann, soll, muß, mutet immer wieder grotesk an. Im Münchner Herkulessaal, inmitten der opulenten Festspielsaison, stellte sich die Applausfrage viel angemessener: freundlicherweise für den wohl mit der Staatsoper etwas zerstrittenen Hermann Prey (er singt einen Liederabend in Bayreuth) einspringend, sang, gestaltete und vergegenwärtigte Dietrich Fischer-Dieskau den Liederzyklus Schuberts, der ihm selbst wohl am nächsten steht, die "Winterreise".

Der Musik- und Liedfreund kennt die drei Plattenaufnahmen Dieskaus. Die Erwartungen waren entsprechend hochgespannt. Der Sänger erschien konzentriert, belebend disponiert und verfügte über eine Ausdruckskraft, die den restlos ausverkauften Saal in atemlosen Bann schlug: fast nach jedem Lied ging ein gleichsam befreiendes Aufatmen durch die Reihen, die Huster verstummten, ganz zaghaft wurden die Texte umgeblättert. Und es wäre auch wirklich um jede verlorene Nuance schade gewesen. Vom unglaublichen Pianissimo des einleitenden "Fremd bin ich eingezogen", den Ingrimm über die Eltern der "reichen Braut", der nochmals beschworenen Fülle des Glücks hin zu den Vergänglichkeitssymbolen in der Natur, der Intensität des Leidens, der selbstquälerischen, selbstironischen Erinnerung an Gewesenes, gab es eine schier erdrückende Abfolge von Schattierungen der Melancholie, der Trauer, des Leidens, der verkrampften Aufheiterung und Selbstermahnung. Plötzlich brachen die Emotionen eruptiv in einem gewaltigen Forte heraus, kurz darauf war die ganze Erde ein Jammertal, das Grab ein Ort der Geborgenheit. Bei der von Irrlichtern fehlgeleiteten Flucht-Wanderung verschmolz Caspar-David-Friedrich-Stimmung mit existentiellem "Weltverlust" des 20. Jahrhunderts. Neben dem gebrochenen Liebenden schienen sehr bald Büchners Woyzeck und Borcherts Beckmann zu gehen. Bei dem abschließenden Leiermann war ein Grad an Isolation und auswegloser Sinnlosigkeit erreicht, daß Beckett- und Ionesco-Figuren als Schicksalsbrüder auftauchten.

Zu diesen Seelengemälden, die Dieskau mit sehr viel weniger Manieriertheit als früher bis ins kleinste Detail ausformte, steuerte Wolfgang Sawallisch am Flügel eine Fülle von Farbnuancen bei, die insbesondere im zweiten Teil die Brüchigkeit alles Irdischen in Töne bannte. Die Vergegenwärtigungskraft beider Künstler war so groß, daß am Schluß die Frage blieb: Kann man soviel Elend beklatschen?

Wolf-Dieter Peter

__________________________________

   

     Die Rheinpfalz, Ludwigshafen, 25. Juli 1977     

Münchner Festspiele

Weltschmerzlich zerrissene Seele

Liederabende mit Dietrich Fischer-Dieskau, Edith Mathis, Peter Schreier
und Wolfgang Sawallisch am Flügel

    

Im Münchner Herkulessaal, in dem Hermann Prey mit Beethoven-Liedern antreten wollte, sang nun Dietrich Fischer-Dieskau Schuberts "Winterreise", vom Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, Wolfgang Sawallisch, begleitet.

Bei Fischer-Dieskau hat man sich an die temporären Veränderungen seiner allerdings stets "interessanten" Deutungen mittlerweile gewöhnt. Die Aussagekraft der Töne schien diesmal weit hinter die weltschmerzlich-zerrissene romantische Seele der Verse Wilhelm Müllers zurückzutreten; sie wiederum spannten die Stimme in behutsame leise Akzente wie in drohende Forteausbrüche ein. So wirkte vieles oft eitel gewollt, in der Mittellage jedoch von großer Reichweite, im Dynamischen sehr differenziert. Dabei drängte sich die dramatische Überspitzung gern nach vorne. Schaute dem Bariton früher vor allem der Konzertsänger über die Schultern, war es jetzt eher der Opernsänger, der sich breitmachte. Wohl um die Texte noch "verständlicher" zu machen? Jedenfalls das psychologisch-realistische stand im Vordergrund. Daß er auch damit zu faszinierenden Lösungen kommt und mit ihnen gefangennimmt, das bewirkt die bei aller Innerlichkeit überwiegende Intellektualität, die immer wieder zu erproben und zu handhaben dem urmusikalischen Sänger besondere Freude zu machen scheint.

Wolfgang Sawallisch räumte dem Sänger jede Mögllichkeit persönlicher Gestaltung ein: Die ganze Skala des Anschlags, vom Pianissimo bis zum saftigsten Forte, erwies sich gleichen Willens in der Interpretation der Gesänge.

[...]

Kurt Unold

zurück zur Übersicht 1977
zurück zur Übersicht Kalendarium