Zum Konzert am 28. November 1976 in Stuttgart


Stuttgarter Zeitung, 1. Dezember 1976

Redlichkeit vorm Idelabild

Mendelssohns  "Elias" unter Hellmuth Rilling

Noch grübeln die Nachlaßverwalter überm "romantischen Oratorium": Die Historie schreitet fort, doch keine Schublade ward aufgetan, jenes vertrackte Zwitterding bei verwandten klassischen Erbstücken ordentlich abzulegen. Fromm oder weltlich? Kirchenmusik oder Oper oder beides? Eine "seltsame Mittelstellung" komme ihm zu, lautet die undogmatische Auskunft der gelehrten Enzyklopädie. Felix Mendelssohns Oratorium "Elias", ein erklärtes Prunkstück der Gattung, wählte sich Helmuth Rilling zur Eröffnung der Stuttgarter Kirchenmusiktage. Und ging ans Geschäft einer Interpretation, die - sollte sie zu dramaturgischer Sinnfälligkeit gelangen - äußerster intellektueller Strenge bedurfte.

Denn nicht nur im historischen Kontext schwer zu fassen, sondern zugleich in sich selbst zwiespältig ist Mendelssohns geistliche Oper. Da schreien nach Verwirklichung archaisch-rebellische Textfragmente des Alten Testaments ebenso wie die oft glättende, Schrecknisse versöhnlich wendende Vertonung des rückwärts gewandten Romantikers. Restaurative Aneignung gewinnt die Gewalt des Ursprungs nicht leicht.

In sinnvoller Vermittlung mußte das Werk der Deutung bestehen. Die Welt weiß um Rillings Kunst, architektonisch unanfechtbare musikalische Prachtbauten aufzuführen. Allein, es scheint oft so, als verliere der Hörer im Staunen vorm Glanz der Fassade jede Möglichkeit, den Türklopfer zu rühren und einzutreten. Was hier heißen soll, daß jene zweifellos bestaunenswerte Fülle gestalterischer Feinstkultur, deren Rilling mit dem Figuralchor der Gedächtniskirche, der Frankfurter und der Gächinger Kantorei sich so selbstverständlich bediente, immer wieder zur Nur-Schönheit, zum Selbstzweck geriet. Und obschon dank unerhörter sprachlicher Präzision jedes Wort verständlich wurde, blieb die Bedeutung der Worte doch oft unerkannt. Was sich an geballten Affekten durch diese Geschichte vom Propheten Elias zieht, ehe der im feurigen Wagen gen Himmel fährt, wird schwerlich deutlich ohne durchdachte emotionale Aufladung der Sprache übers Innermusikalische hinaus.

Wo das gelang, wo das erzählerische Ausdrucksstreben mit dem dramatischen verschmolz, da waren faszinierende Höhepunkte erreicht. Da dokumentierte sich auch ein umfassend reflektierter Umgang mit dem Stück. Die weniger bedachte, eher schwelgerisch-üppige Hingabe, die nur aufs musikalische Rüstzeug sich verließ, nahm dem Wankelmut der Israeliten zum Beispiel, den die Volkschöre zeigen, all seine fatale Tücke.

Vielleicht wäre jedes Bewußtsein solchen Mangels ausgeblieben, hätte nicht Dietrich Fischer-Dieskau an der Partie des Elias eine Art "sich selbst kommentierender Interpretation" vorgeführt, die nun tatsächlich in strenger geschmacklicher Geschlossenheit mitteilte, daß es 1976 geschlagen hat, daß ein langer Rezeptiopszeitraum in der Gestaltung mit bedacht werden müsse. Diese durchbrochene Unmittelbarkeit, deren Spannweite vom amüsierten Pathos bis hin zu durchaus lyrischer Verinnerlichung reichte, wurde zum Idealbild, an dem künstlerischer Intellekt sich zu bewähren hatte.

Dabei schonte Fischer-Dieskau die Stimme nicht. In anrührender Redlichkeit dem Werk gegenüber setzte er sich bedingungslos auch da ein, wo Mühen merkbar wurden. Hier war die Tür aufgestoßen zum Wesentlichen unter der Hülle schönen Scheins zum Gewissen der Worte. Arleen Auger, Sopran, dem Anspruch auf kantablere Art am ehesten noch gewachsen, gelangte besonders als "Die Witwe" zu hoher Eindringlichkeit; als "Ein Engel" strebte die Altistin Birgit Finnilä dem nach. Aldo Baldin sang die Tenorpartie. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken gab ausgewogene Grundierungen, war für die Rezitative jedoch nicht recht vorwärtszubringen.

Unter musikalischem Fassadenreiz Wesentliches sichtbar zu machen, gelang Rilling mit Chor und Orchester. Nach anfänglichen, auch kompositorisch angelegten Entschärfungen des alttestameritlichen "eifrigen" Gottes und der Steigerung mit den aberwitzigen Baalsgesängen war der Israelitenchor "Das Feuer fiel herab!" die erste bahnbrechende Leistung interpretie render Echtheit.

Klaus-Michael Hinz

    

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     Stuttgarter Nachrichten, 30. November 1976     

Stuttgarter Kirchenmusiktage

Das Gesungene war erlebt

Mendelssohns "Elias" unter Rilling mit Fischer-Dieskau

    

Die eher barocken Münchner feiern ihren Karl Richter als den Größten; und allerorten nimmt man es ihnen ab, wenn man es nicht besser weiß. Den württembergischen Protestanten oder Pietisten legt man hingegen ihre Rilling-Verehrung schnell als Cliquenbegehren aus. Wenn man es gleichfalls nicht besser weiß. Würde man Rillings jüngste Aufführung von Mendelssohn-Bartholdys "Elias"-Oratorium als Plattenaufnahme verbreiten können, so wüßte man es allerorten besser. Der Chorgesang erlebte einen Höhepunkt.

Inzwischen weiß man schon, was einen erwartet, wenn Helmuth Rilling eine seiner großen Oratorienaufführungen ankündigt. Und jedesmal ist man erneut verblüfft über das künstlerische Niveau, das zunehmend höhere Maßstäbe für die Zukunft des Chorgesanges setzt. Wobei sich für Rilling selbst die immer schwierigere Frage nach jenen solistischen und instrumentalen Kapazitäten stellt, die einerseits seinen Chören entsprechen, andererseits die finanziellen Möglichkeiten seiner Stuttgarter Konzertvereinigung nicht sprengen. Und solange höheren Ortes nicht grundsätzlich erkannt worden ist, daß Helmuth Rillings Gemeinschaft des Stuttgarter Figuralchores der Stuttgarter Gedächtniskirche, der Frankfurter und der Gächinger Kantorei auf vokalem Sektor den gleichen künstlerischen Stellenwert besitzen wie etwas die Berliner Philharmoniker auf instrumentalem, bleiben optimale Realisationen auch für Rilling nur vorstellbar.

Mendelssohns "Elias"-Musik ist nach dem eher lyrischen "Paulus"-Oratorium ein dramatisches Spätwerk von der Bekehrung des auserwählten und gepeinigten Volkes, das die Fähigkeit und auch Grenzen des frühvollendeten Komponisten kennzeichnet; geschliffen gesetzte Musik aus zweiter Hand; einerseits noch ganz im Banne Händels, andererseits der empfindsamen Romantik und deren hochkultivierten Mitteln entsprossen. Rilling hat seine Chöre früh und rechtzeitig (lange bevor andere Spitzenchöre sich darum bemühten) mit der musikalischen Romantik vertraut gemacht, die dynamische und agogische Palette seiner Sänger erweitert, differenziert, sensibilisiert; und er hat die Einstellung seiner Choristen geweckt.

Entscheidend für die Eindruckskraft dieses Stuttgarter Mendelssohn war der Umstand, daß das Gesungene erlebt war: Oratorium als konzertante Musikszene, in der die singenden Partner das Sujet auf sich bezogen, sich selbst umsetzten und zu Betroffenen wurden. Daß das, was sich auf der Bühne mehrhundertköpfig bot, eher wie ein gigantischer Kammerchor klang, der auch kammermusikalisch präzis wirkte, bezeichnet Rillings ebenso bekannte wie derzeit offenbar unnachahmliche Fähigkeit. Imagination des Idylls und gewaltige Expansion resultieren aus gleichem Atem; nichts erschien reduziert oder aufgesetzt.

Mit einem solchen Superchor haben es Partner schwer. So auch das Rundfunksinfonieorchester Saarbrücken, das solchem Anspruch nur mit Mühe standzuhalten vermochte; und hätten die Saarbrücker nicht eine so hervorragende Konzertmeisterin mitgebracht, die mit ihrer Spielintensität und Gewandtheit schier das ganze Streichercorps zu ersetzen trachtete, so wäre instrumentaler Durchschnitt fast störend geworden. Rilling bedarf eines Celibidache-Orchesters.

Und es bedarf eines Solistenquartetts, dessen Mittelpunkt die gleiche Kapazität aufweisen, wie in unserem Falle Arleen Augér mit geradezu sphärenhaft gelöstem Sopran und Dietrich Fischer-Dieskau mit seinem unvergleichlichen lyrischen und dramatischen Gestaltungsimpulsen. In den Soloquartetten fanden allerdings auch Birgit Finniläs weiche Altstimme und Aldo Baldins etwas enger Tenor zur notwendigen Homogenität. Daß Rilling die Ovationen nutzte, um den mißglückten 5. Chor des Volkes als Zugabe zu revidieren, nahm man schmunzelnd hin; Rundfunkaufnahmen wollen perfekt sein. Und daß auch Fischer-Dieskau einmal neben der Spur sang, macht nur das Niveau seiner zur Gewohnheit gewordenen gestalterischen Vollendung deutlicher.

Bedenkenswertes Problem Nr. 1 wird hingegen die Frage sein müssen, wie Rillings Chöre zu einem adäquaten Orchester zu verhelfen sei, nicht zu Ehren eines Dirigenten-Mythus, sondern zur Pflege zukunftsweisender Maßstäbe. Eine Aufgabe, die den Ländern und (oder) Rundfunkanstalten wohl anstünde.

Dieter Schorr

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