Zur Oper am 29. September 1976 in München


Münchner Merkur, 1. Oktober 1976

Wiederaufnahme im Nationaltheater: "Die Frau ohne Schatten"

Ein Festspiel ohnegleichen

Das beste Färber-Paar der Welt: Birgit Nilsson und Fischer-Dieskau / Ovationen auch für Sawallisch

Als erste der dreizehn teils neuen, teils nur aufgefrischten Inszenierungen, die der reizvoll aufgemachte und pünktlich zur neuen Saison herausgebrachte Prospekt der Staatsoper (mit präzisen Terminen und vollständigen Besetzungen) anführt, kam die "Frau ohne Schatten" heraus. Vor viereinhalb Jahren mit allem Premierengepränge aufgeführt, lag sie seit längerer Zeit brach und wurde jetzt frisch aufgeputzt.

Es war, dies sei gleich vorweggenommen, eine Aufführung, um die uns die teuersten Festspiele der Welt beneiden können - international berühmte Sänger in allen wichtigen Rollen. Der schlaue Prospekt stuft seine Novitäten übrigens vierfach ab: "Inszenierung", "Neuinszenierung", "nach der Inszenierung", "in der Inszenierung". Diesmal gilt lezteres - wir sehen Oscar Fritz Schuhs Regie vom Februar 1972 im wesentlichen wohl unverfälscht.

Das Färberpaar kann überhaupt nicht besser besetzt werden als mit Birgit Nilsson und Dietrich Fischer-Dieskau. Die Nilsson gibt eine fast naturalistisch proletarische Färberin mit sparsamer, aber höchst resoluter Gestik (ihre schauspielerische Leistung ist hier viel intensiver als vor zwei Monaten bei ihrem Gastspiel als Elektra).

Sie setzt hochdramatische Lichter auf, erfaßt den Unmut der Unverstandenen mit der metallischen Strahlkraft ihres Soprans. Ein bißchen auch Strindbergscher Weibsteufel läßt sie leidenschaftliche Unruhe und seelischen Zwiespalt im Verfärben ihrer Stimme aufklingen. Sie keift allerdings nicht, sondern bleibt noch auf dem Gipfel der Raserei eine vom musikalischen Ohr gelenkte Sängerin.

Durch seine balsamisch schön gesungenen Melodiebögen und die mustergültige Wortdeutlichkeit entgeht Fischer-Dieskau als Färber der Gefahr, daß seine schlichten Kantilenen in ihrem mendelssohnschen Edelschwung einen nazarenischen Beiklang bekommen. Einfachheit und auch Einfältigkeit werden von ihm aufs kunstvollste gespielt. So gibt er einen bärenhaft gutmütigen Instinktmenschen, der, wenn plötzlich dumpfe Triebe geweckt werden, auch ungezügelt zuschlagen kann.

Bei ihm und der Färberin liegt der eigentliche Schwerpunkt der Handlung, so sehr sich auch Hofmannsthal dagegen verwahrte - und wohl auch Richard Strauss. Denn der erfand die schönste Musik - magisch zauberische Klangsymbole und zartschwebende, vielfach schillernde Tongeflechte - für die Kaiserin. Ingrid Bjoner singt und spielt die Rolle virtuos, wenn bisweilen auch nicht ganz frei von Opernmanierismus.

James King als Kaiser machen die Tücken seines Parts, das dauernde Verweilen in tenoralen Eisregionen keine Schwierigkeiten; er bewältigt sie technisch präzis. Dabei gibt die leicht dunkle Färbung seiner Stimme den Kantilenen in den höchsten Tenorlagen noch einen zusätzlichen Reiz.

An Dämonie dürfte Astrid Varnays Darstellung der Amme heute nicht zu überbieten sein. Jede Geste sitzt, hat mephistophelische Schärfe und dann wieder eine böse geschmeidige Beredtsamkeit.

Leider ging es der Ehe Strauss-Hofmannsthal wie der Ehe des Färbers und der Färberin: sie verstanden einander nicht. Hofmannsthal nicht den robusten Wirklichkeitssinn des Komponisten, Strauss nicht die zauberflötenselige, goethisch schwingende Seele Hofmannsthals. Ein Dirigent allerdings wäre schlecht beraten, wenn er in dem Moment, wo er den Taktstock hebt, an solche Probleme dächte. Er muß an die Musik glauben und einzig damit beschäftigt sein, sie so perfekt und so intensiv wie möglich zu bringen.

Das tat Wolfgang Sawallisch. Er disponierte klug und dirigierte mit ruhiger Selbstsicherheit und guter Einfühlung in den spezifischen "Frau-ohne-Schatten"-Stil. Er verläßt sich nicht auf ein sinnliches Locken des Klangs und ein rauschhaft aufwallendes Orchesterkolorit, sondern achtet auf Sauberkeit des Details und kluges Abwägen der Kontraste. Und er verhilft nicht nur den Sängern zu ihrem Recht, sondern auch Hofmannsthal: Selten war der Text so klar verständlich.

Zum Schluß tosende Ovationen für den Dirigenten und die Sänger.

Helmut Schmidt-Garre

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     Süddeutsche Zeitung, 1. Oktober 1976     

Die neugewonnene Frau ohne Schatten

Wiederaufnahme der Strauss-Oper in München

   

Kein Schatten lag auf der "Frau ohne Schatten". Zumindest an diesem umjubelten Abend besaß München das optimale Strauss-Ensemble und Strauss-Orchester. Um ähnliche Eintracht in Sachen "Frau ohne Schatten" zu finden, muß man zu den Tagen des Clemens Krauss zurückblättern. Motor und Bezugspunkt solch einheitlicher Qualität war Wolfgang Sawallisch, dessen Intendanzjahr bereits nach zehn Tagen Anspruch auf nicht nur lokalgeschichtlichen Rang erhebt. Vorab ist es Sawallischs Klangsinn und Schlagpräzision gelungen, aus einer durch Dienstplan einigermaßen koordinierten Gruppe hochqualifizierter Instrumentalisten ein homogenes Orchester zu formen, dessen Reaktionsfähigkeit nur noch von einer mühelosen, in Ingo Sinnhoffers wie Franz Amanns Soli gipfelnden Transparenz des Klangbildes überboten wird. Aus Einsicht in den geschichtlichen Stellenwert zwischen Wagner und der Moderne war orchestral verdeutlicht worden, daß die einschüchternd voluminöse Partitur eine vielgestaltige Variation über einige Hauptthemen ist: die dreiaktige Metamorphose melodischer Grundelemente.

Diese analysierende Auslegung entsprach der Tendenz zur Abstraktion, die der von Wolf Busse aufgefrischten Oscar-Fritz-Schuh-Inszenierung und den ohne sonderliche orientalische Stimmungswerte auskommenden Bühnenbildern von Jörg Zimmermann zugrunde lag: "Die Frau ohne Schatten" als Zeugnis des Symbolismus statt als märchenhaftes Monstrum eines ausufernden Neobarock. Wo Musik und Sinnbild regieren, hat man stereotype Gestik, deutende Hände und würdevoll erhobene Häupter in Kauf zu nehmen, zumal hier, wo die Personen der Handlung wortreiche, seidenwallende Homunculi der "tieferen Bedeutung" und somit von Hofmannsthals Gnaden sind.

In Gestalt des Färberpaares gewannen die Sinnbildsäulen Menschennähe. Das Festkonzert in Kostüm und Maske, dessen Valeurs man in epikuräischer Schlemmerhaltung genießt, streifte das Drama. Birgit Nilsson, die sich die Charakterrolle der unverstandenen Verdrossenen neu erarbeitet hat, war eine Färberin von überdimensionalem Format, ein Weib aus einem orientalischen Mythos, nicht aus einem Hofmannsthalschen Kunstmärchen, stimmlich um einige beträchtliche Nummern größer als die Mehrzahl ihrer Vorgängerinnen und darstellerisch entsprechend wilder, hitziger, südländischer. Sie sang mit zwei gleichermaßen klaren und metallisch timbrierten Stimmen: die eine tönte vom Walkürenfels herab, die andere kam, beweglich, pointiert und kantabel, aus italienischen Revieren.

Unter Ovationen des Publikums stand die Umbenennung der Oper in "Frau Färberin" unmittelbar bevor, hätte nicht Dietrich Fischer-Dieskau mit voller Espressivokraft und herrlich konzentriertem Vibrato, mit humorig differenzierter Laune für das Tumb-Einfache und kantabler Freude am Melos Einhalt geboten. Zwei Ausnahmeerscheinungen der Musikbühne begegneten und steigerten sich. Die irdische Färberwelt, ergänzt durch Hermann Sapell, Karl Helm und Lorenz Fehenberger, rückte nach vorne.

So jugendlich, anmutig und beseelt, wie sie aussah, sang Ingrid Bjoner die Kaiserin. Dem Kaiser, der etwas peripher ist wie die meisten Strauss’schen Tenorpartien, gab James King nach leicht zögerndem Anlauf heldisches Gewicht und satten Glanz. Die Amme, eines der vom Symbolismus geschätzten Zwitterwesen zwischen Menschennatur und Spuk, wurde von der kräftig akzentuierenden Astrid Varnay in das Zwielicht aus dienstbarem und bösem Geist gerückt. Als Geisterbote amtierte in bester Baß-Kondition Karl Christian Kohn. Man gewann zusätzlich den beruhigenden Eindruck, die Beteiligten hätten die für ein Dutzend Dissertationen ausreichenden Ab- und Hintergründe des Marathons der Sinnbilder verstanden, und man beneidete sie nicht wenig um solche Kenntnis.

Karl Schumann

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     tz, München, 1. Oktober 1976     

Sehnsucht einer Unerlösten

Birgit Nilsson sang die Färberin in der "Frau ohne Schatten"

     

Birgit Nilsson im Nationaltheater, erstmals als Färberin in der "Frau ohne Schatten". Die Partie, die sie erst seit zwei Jahren draufhat, ist der Himmel für dieses schier unglaublich alterslose Jahrhundert-Stimmphänomen. Keine Spur von kleinen Mühen, die man nun ab und an in den Glanzrollen der Nilsson zu hören glaubt - Allmacht des stählernen Fortissimo neben biegsamster Empfindung.

Auch darstellerisch setzt Birgit Nilsson unerreichbare Maßstäbe. Die Besten sonst spielen das unerlöste Weib quasi flügelschlagend. S i e trägt verhärtende Unzufriedenheit und Sehnsucht innerlich, ein Urtyp Frau, der Hofmannsthals erdichteten Mythos zeitlos wirklich macht.

Die Kollegen, bereits bei der Premiere Anfang 1972 dabei, lassen sich mitreißen. Dietrich Fischer-Dieskaus wunderbarer Barak ist mit dieser Partnerin (die sich von Anfang an nicht ins Unrecht setzt) noch menschlicher. Das Kaiserpaar Ingrid Bjoner/James King verströmt sich verschwenderisch in Sangesintensität. Astrid Varnay ist nun mit Haut und Haar eine monströs schillernde Amme. Wenn sie auch stimmlich einiges schuldig bleibt - die Kollegin, die ihre derartig weise disponierten Horror-Geschöpfe nachmachen kann, ist am Horizont noch nicht aufgetaucht.

Sänger- und Darsteller-Oper, die zwingend die Wiederaufnahme der Produktion rechtfertigt. Und wieder der Beweis, daß die (wenigen) ganz großen Interpreten auch eine mäßige Inszenierung mühelos überwältigen. Denn München hat mit dieser "Frau ohne Schatten" alles andere als das große Los. Der Ausstatter Jörg Zimmermann durchdachte Ende 1972 sein Konzept für Paris dann viel raffinierter und viel weniger kitschig. Und Günther Rennert, der den Regisseur Oscar Fritz Schuh an die Staatsoper gebeten hatte, bot 1974 in Salzburg eine hinreißende eigene Inszenierung.

Wolfgang Sawallisch, der als Interregnumschef nun Stimmen wieder üppig Feste feiern läßt, wurde am Pult und vor dem Vorhang mit den Weltstars begeisterter denn je gefeiert. Wenn Erinnerung nicht trügt, war er selbst in der Premiere damals noch besser. Einiges war nun verschleppt (Baraks blühende Ariosi im 2. Bild, die Szene am Falknerhaus), viele Tempi nicht genügend flexibel, um Spannung zu halten. Und dann klingt Strauss wohlfeil.

Gewiß ist Sawallisch bravourös gerade in dieser Oper. Doch Karl Böhm, der seit Jahren alle bedeutenden internationalen Aufführungen der "Frau ohne Schatten" außer München dirigiert, wirft seinen Schatten auch auf die Stadt, neben der er (in Baldham) zu Hause ist.

Maurus Pacher

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     Bayerische Staatszeitung, 8. Oktober 1976   

Faszinierende "Frau ohne Schatten"

Wiederaufnahme im Nationaltheater

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Die Wiederaufnahme der Oper basiert auf der gediegenen und um klare Verständlichkeit der Vorgänge bemühten Inszenierung von Oscar Fritz Schuh aus dem Jahr 1972, mit der in dunklem Blau schwelgenden Bühnenbilderfolge von Jörg Zimmermann. Zum künstlerischen Ereignis wurde die Neuaufführung durch die Hochqualitäten der musikalischen Interpretation: Wolfgang Sawallisch meisterte die Gestaltung der Partitur mit zwingendem musikdramtischen Impetus und mit überlegener Kunst symphonisch differenzierender Orchesterführung, gab den lyrischen Episoden alles an wünschenswerter Eindringlichkeit und Zartheit und bewährte sich auch als unbeirrter Führer durch überbordendes, tumultuöses Klanggewoge. Hervorragendes an Präzision und Tonschönheit bot das Orchester. In den meisten Rollen sah man die Künstler der Aufführung von 1972: Dietrich Fischer-Dieskau als Barak (ergreifend durch die menschliche Wärme seines Gesangs), Ingrid Bjoner als stimmlich hell strahlende Kaiserin, James King als Kaiser (besonders fesselnd in der Szene vor dem Falknerhaus in den lyrischen Passagen) und Astrid Varnay in der überzeugend verkörperten Partie der dämonischen Amme. Erstmals aber begegnete man Birgit Nilsson als Interpretin der Färberin: was sie in dieser herben und anspruchsvollen Rolle an gesanglicher Ausdruckscharakteristik und - in zunehmender großartiger Leistungssteigerung an Kraft wie an Expressionsgewalt der Stimme hören ließ, war faszinierend und gehörte zu den wesenhaften Erlebnissen dieser bedeutenden Aufführung.

aw

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