Zur Oper am 2. August 1976 in München


Süddeutsche Zeitung, 4. August 1976

Münchner Opernfestspiele

Rennerts heiterer Abschied

Fallstaffs "Alles ist Spaß auf Erden" als letztes Wort des scheidenden Intendanten

Der Vorhang ist gefallen, die Münchner Opernfestspiele 1976 sind zu Ende, und mit ihnen die neunjährige Intendantenzeit Günther Rennerts. Müssen wir nun auch Abschied nehmen von dem Regisseur Günther Rennert, dem großen Regisseur, dem international berühmten Inszenator, der eine der prägenden Figuren des Theaters in unserer Zeit ist? Wir weisen diesen Gedanken von uns; wir hoffen und wünschen, daß der Regisseur der Bayerischen Staatsoper erhalten bleibt, auch wenn er das Amtszimmer des Intendanten im Nationaltheater verlassen hat. Denn sagen wir es ohne jede Einschränkung: Rennerts Regiepotenz war eine befeuernde Kraft im Münchner Theaterleben, sie hat die Theaterphysiognomie dieser Stadt entscheidend mitbestimmt und ihr das Zeichen einer "Aera" aufgedrückt, das so wenig verlöschen wird wie die Zeichen der Aeren von Clemens Krauss und Rudolf Hartmann. Und das kam eben, so trefflich er das ihm anvertraute Haus als Chef auch verwaltet hat, weniger aus seinem Intendantenzimmer, sondern vor allem von seinem Wirken auf der Bühne, als Künstler unter Künstlern.

In ihrer Mitte nahm er auch Abschied, erst vor dem Vorhang, wo ihm Blumensträuße zuflogen, und dann dahinter, in einem großen Kreis von Mitarbeitern und Freunden, festlich und heiter [...]. "Alles ist Spaß auf Erden": So steht es am Schluß von Verdis "Falstaff", und die Inszenierung dieser phänomenalen Fuge ... ja, kann man eine Fuge, die strengste aller Formen in der "absoluten" Musik, denn inszenieren? Rennert kann es, und er macht daraus einen Riesenspaß: Alle hocken sich, nachdem der nächtliche Wald von Windsor in den Schnürboden verschwunden ist, nieder, nur Fallstaff beginnt stehend das Fugenthema zu intonieren, dann springt jede "Stimme" zu ihrem Einsatz auf, fällt lachend ein - denn da heißt es: "Besser lacht wohl keiner, als wer am Ende noch lacht" - und zum Schluß werfen alle ihre Hüte in die Luft und stürmen davon. Falstaff allein entschreitet bei fallendem Vorhang in die Tiefe der Bühne - der große Spaßmacher, der freie, souveräne Geist über aller Unbill, die ihm nichts anhaben konnte, behauptet bis zum allerletzten Takt im Orchester das Feld.

Kann man Weisheit und Humor des alten Verdi, kann man die abstrakte Kunstform der Fuge, in der er sie mit einer geradezu hinterlistigen Ironie ausspricht, sinnfälliger verbildlichen? Ich glaube es nicht. Dieses szenische Scherzo als Schluß der genialsten Musikkomödie, die nach Mozarts "Figaro" geschrieben wurde, ist einer der fulminantesten Regieeinfälle Rennerts - er allein würde genügen, ihn als einen der musikinspiriertesten (und artistisch brillantesten) Meister der Opernszene auf dem gegenwärtigen Theater auszuweisen.

Musikalisch stand ihm an seinem Abschiedsabend in bester Fasson Wolfgang Sawallisch zur Seite, der designierte "Verweser" des Intendantenamtes der Staatsoper bis zum Einzug von Rennerts Nachfolger August Everding mit Beginn der Spielzeit 1977/78. Nachdem er ein paar rhythmische Differenzen zwischen Bühne und Orchester im ersten und zweiten Bild mit leichter Hand ausgeglichen hatte - man soll sie am Schluß einer Spielzeit dem von den Festspielen zusätzlich strapazierten Ensemble nicht allzusehr verargen -, lief eine Aufführung ab, die die perfekte Balance zwischen dem funkelnden Witz und der sprühenden Ironie, der buffonesken Gestik und klanglichen Drastik der Partitur einerseits und ihrer Umsetzung in szenisches Brio, mimische Laune und spielerische Animiertheit auf der Bühne brachte und hielt. Nie wurde die Komödie zur Posse, immer stimmten das dramaturgische Element der szenischen Motivation und das artistische der sie verdeutlichenden personellen Spielführung völlig überein (Beispiel: Die Formierung der "Schlachtordnung" bei den aus der Nachbarschaft rekrutierten Hilfstruppen des eifersuchtsrasenden Mister Ford und ihr Vorrücken gegen das Angriffsziel, den Paravent, hinter dem sie Fords Gattin mit Falstaff in zärtlicher Umarmung vermuten).

Doppelgestirn mit Trabanten

Im graziösen Quartett der lustigen Weiber von Windsor - Leonore Kirschstein (Alice Ford), Reri Grist (ein zauberhaftes Ännchen), Hertha Töpper (Meg Page) - war Brigitte Fassbaender für die Mrs. Quickley wohl etwas zu jung, mehr die beflissene Gevatterin als die von saftig-drastischer Kuppellust erfüllte "komische Alte". Thomas Tipton zählt den großen Eifersuchtsmonolog des Ford im dritten Bild seit langem zu den Glanznummern seiner Bühnenauftritte (Jagos Dämonie und Othellos Raserei sind da gleichermaßen parodiert), Claes H. Ahnsjö verströmt als Fenton allen lyrischen Schmelz, den der achtzigjährige Verdi einem Liebhaber noch zugedacht hat, und Friedrich Lenz kräht als Dr. Cajus die präzise Karikatur eines ewig Düpierten.

Fischer-Dieskaus Falstaff - ihn umleuchtet wahrhaft das Doppelgestirn Verdi-Shakespeare. Mit seinen Trabanten Bardolf (Gerhard Stolze) und Pistol (Kieth Engen) wächst er zu einem Trio monumentaler Komik zusammen. Fideles Lumpentum, das die beiden Kumpane wohlbehalten durchs Gaunerleben steuert, ist bei ihm überglänzt von gewinnender Jovialität, von pfiffigem bis geistvollem Witz, von einer unerschütterlich lebensfrohen Bonhomie. Und im Singen "tut’s ihm keiner vor" (um mit Beckmesser zu reden), da sitzt jede Nuance des Ausdrucks, der Betonung, da lispelt er Zärtlichkeiten und dröhnt Würde, da macht er galante Konversation im zierlichsten Parlando und läßt gekränkt die Stimme versagen im Seufzer über die Schlechtigkeit der Welt. Und die Schlußsentenz des "Alles ist Spaß auf Erden" spitzt er zu wie einen Aphorismus.

Die Gäste versammelten sich schon an den Tischen der oktoberfestzeltlich hergerichteten Seitenbühne zur Abschiedsfeier für Günther Rennert, als ihm aus dem Zuschauerraum immer noch die Ovationen des Publikums entgegenschlugen.

K. H. Ruppel


     Münchner Merkur, 4. August 1976   

Münchner Festspiele: "Falstaff"

Alles nur Spaß    

Daß die neun Jahre währende Ära Rennert am Münchner Nationaltheater gleichzeitig mit den Festspielen und einer Aufführung von Verdis Falstaff ("Alles ist Spaß auf Erden") zu Ende ging, war natürlich gute und sinnvolle Regie. An das so überaus geglückte Schlußbild einer in Einzelheiten nicht immer gleich überzeugenden Inszenierung schloß sich dann aber noch ein weiteres, nicht minder eindrucksvolles, als Günther Rennert unter die Protagonisten geholt und, für ein paar Momente alleingelassen, mit Beifall und Blumen aus dem Publikum überschüttet wurde.

Zuvor hatte es eine ausgezeichnete Aufführung dieses deutsch-englisch-italienisch-musikalischen Gesamtkunstwerks gegeben, mit einem höchst menschlichen, dank der künstlerischen Persönlichkeit Dietrich Fischer-Dieskaus auf natürliche Weise hervorragenden Sir John Falstaff als Mittelpunkt. Anders als bei den schon karikiert angelegten Figuren - dem höchst aktiven Dienerpaar (Gerhard Stolze und Kieth Engen), dem Mister Ford (von sonorer Präsenz: Thomas Tipton) und dem Dr. Cajus (etwas matter: Friedrich Lenz) - entwickelt sich dieser Falstaff ja nur dann zur dramatischen Figur, wenn er eben nicht übertreibt (ein Zug, den Frau Quickly mit ihm gemeinsam hat, was zu beweisen Brigitte Fassbaender indes nicht befriedigend gelang).

Ein äußerst beweglicher Falstaff übrigens, besonders in der Werbung um die Damen Meg (Hertha Töpper) und Alice (Leonore Kirschstein, die als Sängerin und Darstellerin beachtlich aus sich herausging), und vielleicht eine Spur zu elegant, ungeachtet seines schäbigen Habitus.

Reri Grist und Claes Ahnsjö gaben ein wohl anzusehendes und ebenso singendes Liebespaar Ännchen-Fenton.

Wolfgang Sawallisch und das Staatsorchester waren energishe und brillante Begleiter; manchmal herrschten sie sogar vor. Dem molto con brio der Tempi war von der Bühne her gelegentlich nur mit Mühe zu folgen - aber die Turbulenz des Geschehens ließ keine Verschwommenheit aufkommen.

Karl-Robert Danler




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