Zum Konzert am 26. Juni 1975 in Göttingen


Frankfurter Allgemeine, 3. Juli 1975

Göttinger Händel-Fest

"Saul" mit Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau

Das diesjährige Göttinger Händel-Fest, das in einem Vortrag und in Konzerten den Beziehungen seines Namenspatrons zu Italien nachspürte, hatte in der Aufführung des Oratoriums "Saul" einen Schluß- und Höhepunkt. Günther Weißenborn, der langjährige künstlerische Leiter, hatte nicht nur zwei Gesangssolisten erster Wahl verpflichtet, sondern auch den Göttinger Knabenchor durch den Stockholmer Knabenchor erheblich verstärkt und außerdem das Rundfunkorchester Hannover engagiert. Dies brachte Glanz und Fülle in die dichtbesetzte Göttinger Stadthalle, löste freilich nicht alle aufführungspraktischen Probleme.

Für die Reihe der "englischen Oratorien" Händels nach seiner Abwendung von der Oper - "Saul" ist das erste - ist die zentrale Stelle des Chors typisch. Er stimmt nicht nur den Triumphgesang (für den Sieg über Goliath und die Philister) und das Klagelied (auf den Tod Sauls und Jonathans) an, sondern kommentiert im Stil des antiken griechischen Chors die Vorgänge. Ein Beispiel unter vielen: der Chor gegen den Neid, im Orchester als gewichtige Ostinato-Form gestaltet. Dies hat entscheidende Konsequenzen für die Interpretation: flächige Pauschalwirkungen genügen nicht, hier bedarf es entschiedener Detailgestaltung. Und dies dürfte zwischen Franz Herzog und Roland Nielsen, die ihre Chöre sorgfältig vorbereitet hatten, kaum möglich gewesen sein. Dieses Problem stellt sich bei derart vom Chor bestimmten Werken immer dann, wenn der Chorleiter nicht zugleich der Dirigent der Aufführung ist.

Neben den Chören kommen auch die Instrumente vielseitig zur Geltung. Bereits in der vierteiligen Ouvertüre gibt es ausgedehnte Orgelsoli (Ernst Ulrich von Kameke), dazu im Verlauf des Werks nicht weniger als sechs selbständige Orchesterstücke ("Symphonies"). Das ist stoffbedingt. David, der unfreiwillige Gegenspieler des Titelhelden, ist nicht nur der Held der Schlacht, sondern auch der Meister der Harfe. Die Wirkung seiner Musik erinnert an die des Orpheus. Beim eifersüchtigen Grimm Sauls vesagt sie freilich. Schuld daran ist die erste "symphony", eine Festmusik zum Preis Davids, deren Glockenspielgeklingel Saul seine Unterlegenheit in den Kopf hämmert. Konventioneller ist die Festmusik zum Neumondfest, die Schlachtenmusik mit dem Wirbel der Instrumentengruppen und der Trauermarsch, in schlichtem C-Dur. Viele Gelegenheiten also für die Musiker, sich zu profilieren. Während auffallendere Pannen der Continuo-Gruppe vorbehalten blieben, wurde das Rundfunkorchester immerhin dem Notentext gerecht, freilich nicht dem Geist, der barocken Beredtheit, die dahinter stehen.

Dies erhoffte man sich - nicht zu Unrecht - in stärkerem Maß von den Solisten. Dietrich Fischer-Dieskau, langjähriger Liedpartner Weißenborns, erfüllte auch hochgespannte Erwartungen dank seiner gestalterischen Intensität, die der Gestalt des Saul zwischen neidischem Grimm und heuchlerischer Sanftmut plastisches Profil verlieh. Glücklich kontrastierten die Töchter: Julia Varady, an diesem Abend stimmlich nicht optimal disponiert, setzte kühle Strahlkraft und dramatisch akzentuierte Spitzentöne für die hochfahrende Merab ein; stimmlich geschmeidig, farbig und expressiv gestaltete Bettina Cosack, die kurzfristig eingesprungen war, die liebenswertere Schwester Michal. Andrew Downes war der schwächste Contra-Tenor, den man in den letzten Jahren in Göttingen hörte, in Stimme und Ausdruck bot er kaum mehr als sanfte Verhaltenheit; hätte sich Bettina Cosack in den Duetten nicht so kollegial zurückgehalten, dann wäre hier nicht viel zu hören gewesen. Heinz Kruse gab dem unglücklichen Jonathan tenorale Beweglichkeit; kraftvoll der zweite Tenor Frieder Stricker in vier kleinen Partien. Der dunkle Baß William Reimers ergänzte das Ensemble.

Gerhard Schroth

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     Süddeutsche Zeitung, 5./6. Juli 1975     

Klagelied und Klangspiel

Händels Oratorium "Saul" bei den Göttinger Festspielen

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Noch von den italienischen Erfahrungen und Kenntnissen des Komponisten ist das Oratorium "Saul" (1738) bestimmt - auch wenn es sich um Händels erste größere Arbeit nach dem Niedergang der italienischen Oper in London handelte. Den schuftigen Charakter des Saul, der den kleinen, aber erfolgreicheren David umbringen möchte, hat er kräftig verschönt: Im besten Belcanto-Stil singt Saul sowohl seine Empörung als auch seine scheinheilige Zustimmung, David als Schwiegersohn zu akzeptieren. Erst als er ausbricht, zur Hexe von Endor geht und Samuel ruft, ihm zu helfen, gibt es ein dramatisches Accompagnato, das den verzweifelten, den zerbrechenden Saul eindringlich schildert.

Dafür brillieren die Chöre und die Klagenden. Hier mit allerlei Klangspielereien, zum Beispiel Glockenspielen zu Geigen beim Chor der israelitischen Frauen - fast eine Orff-Huldigung Händels -, dann mit Fagotten beim Auftreten Samuels oder mit Flöten zu Pauke und Orgel beim Einstimmen des Trauertons. Rhythmisch aufregende Chöre und viel symphonische Klage - eine knappe halbe Stunde nach dem Tode Sauls und seines Sohnes - bestimmen dieses dreistündige Oratorium, das in Göttingen starken Eindruck hinterließ.

Die Aufführung war sowohl stilistisch als auch im geistigen Niveau ungewöhnlich. Es sangen ausschließlich Knaben, aber 140 an der Zahl, der Göttinger Knabenchor zusammen mit dem Stockholmer Knabenchor: soviel mächtigen Klang, auch bei Alt und Baß, hat man von solchen Chören noch kaum gehört. Die Titelrolle sang Dietrich Fischer-Dieskau, der seiner Stimme erstaunlich viel Belcanto abgewann, ohne deshalb die Prägnanz der Deklamation (alle sangen englisch) zu vernachlässigen. Das Gleisnerische und das Aufbegehren kamen packend zur Geltung - frei von jedem Anhauch der Langeweile.

Auch der Kontertenor des jungen Andrew Downes als David behauptete sich kraftvoll. In kleineren Rollen sangen Julia Varady, Bettina Cosack und Heinz Kruse. Es spielte das Rundfunkorchester Hannover. Günther Weißenborn dirigierte dicht und spannungsvoll - er weiß wie wenige bei uns mit Händel umzugehen.

Schade, daß diese grandiose Wiedergabe eines zu Unrecht vergessenen Oratoriums nun nicht auf Reisen gehen kann - unser manchmal allzu gut organisiertes Musikleben müßte mit diesen Aufführungen "hausieren" gehen, damit nicht nur die Göttinger Händelianer erfahren, was sie ja, als Händelfest-Geschulte, längst wissen: wie gut dieser Komponist eigentlich ist, wenn man ihn nur suggestiv zu interpretieren versteht. Mehr Kooperation täte gut. 1978 will Göttingen Händels Oper "Rodelinda" zusammen mit dem Holland-Festival herausbringen, ein erster Versuch einer längst fälligen Zusammenarbeit, die man ausdehnen sollte.

W. E. von Lewinski

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     Hannoversche Allgemeine, 28. Juni 1975     

Biblische Tragödie der Eifersucht

Händels Oratorium "Saul" mit Fischer-Dieskau in Göttingen

   

Daß sich die niedersächsische Universitätsstadt mit ihren Händel-Festen immer wieder neben den Händel-Zentren Halle und London zu behaupten versteht, ist der Aktivität der Göttinger Händel-Gesellschaft und nicht zuletzt dem Dirigenten und Programmgestalter Günther Weißenborn zu danken. Sie haben sich um die kontinuierliche Weiterführung des seit über einem halben Jahrhundert bestehenden Göttinger Händel-Festes große Verdienste erworben. Diesmal wurden in Orchester-, Kirchen- und Kammermusikkonzerten die Bezhiehungen des großen halleschen Meisters zu seinen italienischen Zeitgenossen hergestellt und die Weltweite seiner Kunst mit einem im englischen Original gesungenen alttestamentlichen Werk, dem Oratorium "Saul", eindrucksvoll dokumentiert.

Diese Tragödie der Eifersucht, von König Saul und der Rivalität seines jugendlichen Gegenspielers David, also der Untergang des alten Herrschers und der Aufstieg des jungen, zeigt Händels musikalische Dramaturgie zwischen Oper und Oratorium. Natürlich interessiert uns heute kaum noch das zeitgebundene Libretto des riesigen Epos von Charles Jennens, um so mehr aber die überzeitliche, spannkräftige, farbig instrumentierte Musik Händels.

Die mit geschickten Kürzungen drei Stunden dauernde Aufführung in der aus- verkauften Göttinger Stadthalle trug der oratorischen "Szenerie" bis hin zum hymnisch gesteigerten Schluß durch den lapidaren, jugendlich leidenschaftlichen Impuls der die Handlung kommentierenden Chöre - in der idealen Gemeinschaft des Göttinger und des Stockholmer Knabenchors - eindringlich Rechnung. Und was das Orchester betrifft, so hat Händel in seiner Instrumentation ungewöhnlich kühne Effekte gesetzt, um klanglich-bildhaft die Charaktere und die Szene des Oratoriums zu "malen". Das Rundfunkorchester Hannover zeichnete durch sein intensives Musizieren die breite Palette zwischen dem düsteren, ja gespenstischen Ausdruck der Musik um das Schicksal Sauls und der bestrickend lichten, jugendlich unschuldigen Welt Davids (Glockenspiel, Harfe) ebenso vehement im Klang wie spielerisch-elastisch in der Rhythmik nach.

Vor allem aber war es Dirigent Weißenborn gelungen, eine Reihe prominenter Opernsänger zu gewinnen, die vollkommen untheatralisch, aber mit um so mehr elementarer Leidenschaft der gesanglichen Aktion die Tragödie erhellten. Daß Dietrich Fischer-Dieskau für die Titelrolle zur Verfügung stand, sicherte der Aufführung einen besonderen Rang. Mit faszinierender, hochdramatischer Stimmintensität kennzeichnete er die seelische Zerrüttung und Selbstzerstörung Sauls. Der Künstler wußte dabei alle Nuancen zwischen vulkanischer Wucht und Zartheit der Tongebung, zwischen blinder Wut und Unbeherrschtheit, zwischen Furcht und Haß innerhalb der Partie zu einem tragischen Kosmos zu steigern, der die anderen Solisten herausforderte.

Wundervoll die Technik und das Stilgefühl der Sopranistin Julia Varady, die Merab, die Tochter Sauls, mit einer Noblesse der Empfindung, einem seelenhaften Ausdruck sang, daß man sie nach Fischer-Dieskau als solistischen Glanzpunkt der Aufführung rühmen muß.

Neben dem Saul in der riesenhaften Interpretation Dieskaus, wirkte der junge, äußerst sensibel, aber zuwenig durchschlagskräftig singende Tenor Andrew Downes, als ein weitgehend kindlicher David, der die Rolle verharmloste. Er hätte in entscheidenden Arien in Wettstreit treten, mehr aus seiner Zurückhaltung herauskommen und mehr an lyrisch-dramatischer Farbe und Dynamik gewinnen müssen. Für die erkrankte Elisabeth Speiser sprang mit stimmlicher Entschiedenheit Bettina Cosack (Michal) ein und rettete dadurch die Aufführung. Auch in weiteren Partien hörte man erfahrene, gut sich auf das Fluidum der Aufführung einstellende Solisten wie Heinz Kruse, William Reimer und Frieder Stricker. Kein Wunder, daß diesem Abschluß und Höhepunkt des Göttinger Händel-Festes ein nachhaltiger Publikumserfolg beschieden sein mußte.

Erich Limmert

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     Göttinger Tageblatt, 28./29. Juni 1975     

Händel-Fest 1975

Königstragödie als imaginär-phantastisches Musikdrama

Händels Oratorium "Saul" als Höhepunkt und Ausklang des Händel-Festes

[...]

Weil aus zeitlichen und wohl auch finanziellen Gründen erst die Generalprobe als erste Gesamtprobe für die beiden Knabenchöre, Orchester und Solisten angesetzt worden war, die Aufführungen selbst also erst das zweite Zusammenspielen aller bedeutete, konnte es eigentlich gar nicht anders kommen, als daß einiges (wie gesagt, an hochgesteckten Ansprüchen gemessen) nicht so hundertprozentig reibungslos klappte, wie es unverkennbar sogar bei diesem Riesenapparat von Aufführenden hätte funktionieren können. Das Rundfunk-Orchester Hannover, das außer der Chor- und Solistenbegleitung eigenständige "Symphonien", orgelkonzertartige Einlagen und Zwischenaktmusiken zu spielen hat, wirkte oft zu lahm, wenn es den berühmten Durchschnittsbarock-Klang produzierte; auch nahm es zuweilen die Tempi des Dirigenten nicht gleichmäßig auf, um dann wieder dem Chor leicht etwas zu weit vorauszueilen. Erwähnt seien noch die Solo-Flöten, die intonationsmäßig im Trauermarsch nicht mit der Orgel übereinstimmten (schade um das Stück). Es wäre nun ungerecht, in Anbetracht der, man muß schon sagen, überwältigend schönen Gesamtaufführung des Oratoriums solche Mängel allzu sehr zu gewichten, auch die Frage, ob der Dirigent und künstlerische Gesamtleiter der Händel-Festspiele, Günther Weißenborn, an die Instrumentalisten und Sänger durchgehend soviel weitergeben konnte bzw. sie so zu animieren vermochte, wie es seinem Willen zur Gestaltung entsprach, sei dahingestellt.

Aber solche kleinen Ungereimtheiten fielen umso mehr auf, weil eben diese Aufführung einem hohen Qualitätsanspruch genügte, weil der große Festspielchor, der sich aus dem Göttinger Knabenchor (einstudiert von Franz Herzog) und dem Stockholmer Knabenchor (einstudiert von Roland Nielsson) zusammensetzte, offenbar so gut geprobt hatte, daß er von selber wußte, worum es ging. Und umso mehr, weil durch die Solisten Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Varady Akzente gesetzt wurden, die vermutlich ziemlich alles bisher in den Rollen des "Saul" und der "Merab" Gebotene in Frage oder in den Schatten stellten.

Händels Chor-Oratorium "Saul", das zu einer Zeit entstand, in der Händel sich vom Opernschaffen entfernte und sich den Oratoriumskompositionen zuwandte, trägt hochdramatische Züge der Oper, es strotzt vor Geschehnissen und menschlichen Charakteren. Als ein Drama auf einer quasi geistigen Bühne berührt es alle bedeutsamen und menschlichen Leidenschaften. Das Textbuch (von Charles Jennens, die deutsche Übersetzung für die Göttinger Händel-Festspiele stammt von Emilie Dahnk Baroffio) gibt Regieanweisungen und definiert die Schauplätze.

Musik und Wort haben hier fast gleichwertige Bedeutung. Das hängt mit dem beliebten Stoff "Saul und David" zusammen, in dem die therapeutische Funktion der Musik (Davids Harfenspiel und Gesang) und die Musik als Mittler der Harmonie, die – so sagt der Hohe Priester – das Wahre allen Wesens, aller Dinge Kern und erster Keim, hervorgehoben wird. In Händels Oratorium dreht sich das imaginäre Geschehen um den Fall des ersten israelischen Königs "Saul" und um den Aufstieg seines Nachfolgers "David". Die Solisten haben nicht nur "schön" zu singen, sondern übernehmen die "Rollen" in dieser Königstragödie. Der Chor ist Kommentator und Betrachter.

Während Andrew Downes’ Countertenor für den Part des David zu schwach und dünn war, zu "weiblich" süß vielleicht auch, so daß man sich David als starken Heerführer nicht vorstellen konnte, und William Reimers Baßstimme Intonationstrübungen aufwies und zu geringe Intensivität, so daß man ihm nicht glaubte, daß er den Geist Samuels heraufbeschwören könnte (er sang auch den Doeg), während sich Frieder Strickers Tenor (Partien Abner, Hexe von Endor und Amalekiter) durchsetzen konnte, weil man ihm in seiner Textgestaltung das Opernfach anmerkte, aus dem er stammt, beeindruckten, waren die übrigen Solisten doch noch mehr. Heinz Kruse (Jonathan) überzeugte stimmlich und stilistisch, vor allem durch gute Textinterpretation. Bettina Cosack sang die Partie der Michal lupenrein und mit weichem, lyrischem, dabei voluminösem Sopran. Ihre Stilsicherheit faszinierte. Doch der dramatische Sopran Julia Varadys übertraf – obgleich die Sängerin indisponiert war und die Generalprobe nicht mitgemacht hatte – stimmlich alles, was ich mir für die Arien der hochmütigen Merab an Gestaltungskraft vorstellen kann.

Der Star des Abends war natürlich Dietrich Fischer-Dieskau (Baß-Bariton), dessen darstellender Gesang die Rolle des Saul plausibler machte, als wäre auf der Bühne noch zusätzlich agiert worden. Wenn Fischer-Dieskau singt: "Reply not, but obey", dann gibt es eben keine Widerrede, und wenn Saul auf dem Neumondfeste nach David fragt: "Comes he not, to grace our feast", dann steckt in Fischer-Dieskaus Wortauslegung die gehässigste, hinterlistigste und scheinheiligste Kreatur, so daß einem als Zuhörer vor der Gestalt des jähzornigen, geistig verirrten Saul das kalte Grausen überläuft.

Die Präzision, mit der der Knabenchor die schweren Koloraturen ausführte, die unglaubliche Schlagkräftigkeit der Stimmen überwältigten ebenso, wie die durchgehend klare Intonation trotz der Größe des Apparates. Besonders das Halleluja und der Schlußchor überwältigten. Zwei der besten (Händel)-Festspielchöre, die man sich denken kann, waren hier zusammengetroffen.

Es gab rasenden Applaus in der Stadthalle. Nach diesem Ereignis kann niemand mehr mit Recht sagen, das Wichtigste an den Göttinger Händel-Festspielen sei gewesen, daß sie wieder stattgefunden hatten.

A. Amoneit

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     Braunschweiger Zeitung, 28. Juni 1975     

Georg Friedrich Händels "Saul" als Höhepunkt des Göttinger Händel-Festes

Psychologisches Drama mit sittlichem Appell

    

Georg Friedrich Händel [...] hat sonderbarerweise mehrmals gebrochene, zerrissene Helden in den Mittelpunkt musikdramatischer Werke gestellt, wie "Saul", der unter der souveränen Leitung Günther Weißenborns Höhepunkt des Göttinger Händel-Festes wurde.

[...]

Dietrich Fischer-Dieskau schöpfte als Gestalter des unseligen Titelhelden aus dem Vollen. Über seine Fähigkeiten, mittels einer breiten Palette der Ausdrucksmöglichkeiten glaubwürdig zu agieren, die Nuancen zwischen ungebärdigem Ausdruck und fahler Beklommenheit, wie es die Rolle verlangt, genau zu treffen, brauchen hier keine Worte verloren zu werden. Was aber, weil auch bei großen Sängern heute nicht selbstverständlich, dankbare Erwähnung verdient, ist eine "Dienstleistung" an die Hörer, auf die Mühe zu verwenden Fischer-Dieskau sich nicht zu schade ist, nämlich eine erstklassige und den englischen Originaltext zudem akzentfrei wiedergebende Artikulation.

An Stimmkraft, zuweilen von bedrängend schmetternder Intensität, nahm es Julia Varady (Sopran) als Tochter Merab mit ihm auf. Bettina Cosack (Sopran), seit langem als Händel-Sängerin bewährt und für die erkrankte Elisabeth Speiser einspringend, stand ihm an lyrischem Ausdruck würdig zur Seite. Heinz Kruse (Tenor) gab einen kräftig profilierten Jonathan (was nicht leicht ist, weil er eigentlich nur personifizierten Edelmut darstellt). William Reimer (Baß) und Frieder Stricker (Tenor) statteten die Nebenfiguren lebendig aus.

Lediglich David, eigentlich der zweite personelle Mittelpunkt der Handlung, hatte es, neben so viel kräftiger stimmlicher Verausgabung, schwer, sich zu behaupten. Er ist als Kontratenor angelegt, und man hatte einen entsprechenden Sänger aus England, Andrew Downes, dafür gewonnen. Ist die sanfte, zuweilen berückende Zartheit einer solchen abnormen männlichen Stimmlage beim Gesang Davids, mit dem er den ergrimmten Saul besänftigen will, genau richtig am Platz, steht sie an allen anderen Stellen - soll doch David kräftiger Held sein - im Widerspruch zur gedanklichen und stimmlichen Logik des Werks. Das ist nicht Schuld des Sängers, der sein Bestes gab, gleichwohl oft unterging. Verantwortlich ist das Weiterschleppen einer verderbten Mode barocken Nervenkitzels im Zeichen der Werktreue, die heute schon daran scheitert, daß solche Stimmen (und was die Kastraten anbelangt, glücklicherweise) in der damaligen Intensität nicht mehr zur Verfügung stehen, von veränderten Hörgewohnheiten zu schweigen.

Bleibt noch der Chor, wie immer Säule der Volkstümlichkeit, ja das Volk an sich, von aufrüttelnder Gewalt, die eigentliche Hauptperson in vielen Händel-Oratorien. In ihm vereinte sich der Göttinger Knabenchor mit einem schwedischen Chor zu einer schlackenreinen Leistung.

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Arnold Rabbow

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     Nordwest-Zeitung - Oldenburger Nachrichten, 2. Juli 1975     

Händels Biographie ist neu zu schreiben

Veranstaltungen des Göttinger Händel-Festes 1975

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Abschluß und Höhepunkt der Veranstaltungsreihe versprach die Aufführung des Oratoriums "Saul" zu werden, dessen Titelpart von Dietrich Fischer-Dieskau gesungen wurde. Hier versah das Rundfunkorchester Hannover den Instrumentalpart. Eine Tonbandaufnahme des Konzerts wird in absehbarer Zeit ausgestrahlt werden.

Während Julia Varady souverän ihren Solopart im Oratorium gestaltete und Andrew Downes mit seinem Contratenor begeisterte, blieb Dietrich Fischer-Dieskaus Gestaltung der Titelpartie hinter den Erwartungen vieler Hörer zurück, trotz einer sehr dramatischen Gestaltung. Von großartiger Wirkung aber waren die Chorsätze, die von den Knabenchören aus Stockholm und aus Göttingen gemeinsam gesungen wurden. Günther Weißenborn leitete das Oratorium mit Spannung und Energie. Die vielfach eintönig wirkende Komposition erhielt kräftige dramatische Akzente.

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Angelika Klauke

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     Oberhessische Presse, Marburg 12. Juli 1975     

Eine Wolfsschlucht des barocken Zeitalters

Oratorium "Saul" als künstlerischer Höhepunkt / Impressionen vom diesjährigen Händelfest in Göttingen

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Die Eigenwirksamkeit von Händels Musik kam in der künstlerischen Leitung der Festspieltage durch den Göttingen seit Jahren verpflichteten Günther Weißenborn wie selbstverständlich zum Ausdruck. Zwar fehlte in diesem Jahr die Oper, welche sonst gern zur aufwendigen Besonderheit echter Festspielwoche gerechnet wird, doch war, neben reichhaltiger Kammermusik, ein Höhepunkt besonderer Art gegeben, in der zwiefachen Aufführung von "Saul", aus dem altbiblischen Stoff zu einem musikalischen Drama geformt, das eine Fülle von Seelenbildern in Tönen, Figuren, Symbolen, Stimmungen enthält.

Text und Musik klangen zusammen: die originale englische Dichtung von Charles Jennens kam der Verschmelzung von Sprach- und Tonharmonie entgegen.

Und dabei Dietrich Fischer-Dieskaus Bariton in der Rolle des wetterwendischen, empfindlich eitlen Königs hören zu können, war eine Bestätigung für die Richtigkeit der Wahl des ursprünglichen Textes: ein so gut deklamierender Sänger wie "F.-D." machte sich den mehr emphatischen, einer anderen Lautharmonie huldigenden Tonfall des Englischen bemerkenswert zu eigen.

Gewaltig im Verwünschen des jungen David, atemlos-abgehackt bei ingrimmiger Betrachtung, gleißend-falsch bei scheinbarer Wiederannäherung an den jungen Feldherrn, der ihm - mit dem vom Xylophonklimpern begleiteten Hohngesang der Frauen - die Schau gestohlen hat, dämonengeschüttelt bei der Hexe von Endor.

In künstlerisch ungemein farbigem Gegensatz dazu, alles andere als realistisch, der fein falsettierende Contratenor des Engländers Andrew Downes als David, ergreifend in seiner Klage als Jonathan. Dieser fand in Stimme und Ausdruck von Heinz Kruses Tenor den bewegten und bewegenden Partner, mit der Tiefe händelscher Elegie.

Sauls ältere Tochter Merab, hochfahrend und später gebrochen, erfuhr in dem kräftigen Sopran der Julia Varady ihre Ausprägung; während Bettina Cosack ganz das Wesen der herzlicheren jüngeren Tochter Michal verkörperte, mit den lächelnden Vokalen ein inniges Sopranportrait.

Fischer-Dieskau mit der Hexe - von Frieder Stricker teuflisch spitz gezeichnet - und dem Baß von William Reimer als Geist des Propheten Samuel, bei hintergründiger Fagott-Beleuchtung, - es wurde eine Wolfsschlucht-Szene des Barockzeitalters daraus, von großer Eindringlichkeit, stets in der Geborgenheit des Wahren. (Vier Rollen nahm Frieder Stricker mit Veränderungskunst wahr.)

Den zweiten Löwenanteil des Abends nahm der machtvolle, geschmeidig zwischen Charakterbild und Chorfugen abwechslungsreich singende Chor in Anspruch: der Göttinger Knabenchor (Herzog) wirkte mit dem Stockholmer Knabenchor (Nielsson) in englischsprachiger Gemeinsamkeit, sehr gestaltbildend und besonders in den brausenden Beifall einbezogen.

Das Rundfunk-Orchester Hannover nahm seinen Anteil an den in kontrastreicher Harmonie folgenden Bildern; schönes Harfensolo, an der Orgel konzertierend und begleitend E.U. v. Kameke, am Cembalo ebenso W. Döling.

[...]

Otto Lewe

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