Zum Konzert am 13. Mai 1975 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel, Berlin,  15. Mai 1975     

Tristan, Venedig, Trauergondeln

Lieder und Kammermusik in der Akademie – Isang Yun – Kreuzberger Streichquartett

     

Ein "sonderbares Konzert", wie Hans Mayer im Programmheft formuliert, Nachlese zum "Gründerzeit"-Thema, ein Abend nicht zu Unrecht vergessener, aber auch großer Musik, war das sechste Akademiekonzert der Saison. Dietrich Fischer-Dieskau zum Beispiel sang drei der pathetischen und zugleich harmlosen Vertonungen, die Peter Gast Gedichten seiner Zeitgenossen Prutz und Enking angedeihen ließ – jener Peter Gast, mit dessen kompositorischen Eingebungen Friedrich Nietzsche versucht hat, gegen Wagner zu Felde zu ziehen. Lohnender erschienen des Mentors eigene Lieder, auch solche von Franz Liszt, zumal das nach Goethes "Wanderers Nachtlied" mit seiner "Parsifal"-Vorahnung im Klavierpart.

Eine gestalterische Konzentration ohnegleichen hob Richard Wagners "Träume" über alles andere hinaus, und das war ja auch der musikalische Gipfel des Programms. Dolcissimo, mit kammermusikalischer Intimität führte Aribert Reimann die 16 Takte Vorspiel aus, und dann schmiegten sich Fischer-Dieskaus Phrasierungen der Achtelbewegung zärtlich an. Hinzuzufügen ist, daß seine Stimme an diesem Abend leuchtete wie verjüngt.

Instrumentalmusik von Nietzsche, "Eine Silvesternacht", wohlklingend, empfindsam, verträumt und redselig, spielte Reimann mit dem Geiger János Négyesy, der seine Interpretenkunst auch in "Elegien" von Liszt ausbreitete, und mit – Fischer-Dieskau. Vierhändig nämlich mühten sich beide Herren durch einen Klavierschinken, der "Manfred.Meditationen" heißt und das wenige Wesentliche eher im Leisen sagt. Was Reimann pianistisch leisten kann, war bei Liszt zu bewundern. Und die dunklen Stimmungsbilder der um Richard Wagners Tod kreisenden Kompositionen holten alles herein: Tristan und Venedig, Trauergondeln und "braune Nacht".

S. M.

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     Berliner Morgenpost, Berlin-West,  15. Mai 1975     

Fischer-Dieskau spielt auch Klavier

    

Welcher Sänger setzt sich schon zu seinem Begleiter ans Klavier, um mit ihm vierhändig zu spielen? Dietrich Fischer-Dieskau tat es. Mit Erfolg trug er gemeinsam mit Aribert Reimann Nietzsches "Manfred"-Meditation in der Akademie der Künste vor.

Ähnlich exklusiv-abseitig waren auch die übrigen Stücke des in Nostalgie gebadeten Programms, das nur den Fehler hatte, daß es zu kontrastarm zusammengestellt war.

Da hörte man nicht nur Kompositionen von Friedrich Nietzsche, die dem philosophierenden Tondichter bei weitem nicht so gewaltig gediehen wie seine Wortdichtungen. Da hörte man auch Lieder des epigonalen Nietzsche-Freundes Peter Gast sowie Lieder und Klavierstücke von Franz Liszt und Richard Wagner.

Die Gesänge dieses tönenden Raritäten-Kabinetts waren bei Fischer-Dieskau bestens aufgehoben. Seine virtuosen Gestaltungsmöglichkeiten kamen allerdings nicht nur den gelungeneren Stücken zugute, sondern deckten geradezu denunzierend auch sämtliche kompositorischen Schwächen auf.

Aribert Reimann, der als Pianist die Hauptlast dieses Abends zu tragen hatte, leistete sowohl im Solovortrag als auch in den Duo-Stücken ein Äußerstes an Konzentration, Genauigkeit und Intensität.

Auch eine wichtige Wiederbegegnung wurde dem Publikum beschert: mit dem First-Class-Violinisten (und einstigen RSO-Konzertmeister) János Négyesy.

Mit verführerischer Tongebung, vor allem aber mit einer hintergründigen Mischung von Engagement und Distanz, wertete er späte Elegien von Liszt und "Eine Sylvesternacht", eine Träumerei des 19-jährigen Nietzsche, fast zu Perlen der musikalischen Weltliteratur auf.

Wilfried W. Bruchhäuser

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     Der Abend, Berlin-West,  15. Mai 1975   

Silber in der Kehle

Fischer-Dieskau in der Akademie

   

Dietrich Fischer-Dieskau gehört zu den denkenden Künstlern. Seine Programme sind die Ergebnisse eindringlicher Überlegungen. Hatte er in der Vorwoche Eichendorff-Gedichte in der Vertonung verschiedener Komponisten gesungen, so vertiefte er sich jetzt in der Akademie der Künste in weltab liegende Gefilde der Liedkunst.

Im Zusammenhang mit seinem Buchthema "Wagner und Nietzsche" und im Nachklang zu der großen vorjährigen Akademie-Ausstellung "Aspekte der Gründerzeit" öffnete ein verspätetes Konzert eine wahre Fundgrube von Kuriositäten diesen beiden Hauptgestalten des 19. Jahrhunderts, von Wagner und Nietzsche (ja, auch der Philosoph hat eifrig komponiert!), von Liszt, der nur zwei Jahre älter als sein späterer Schwiegersohn Wagner war, und von dem komponierenden sächsischen Nietzsche-Schüler Peter Gast.

Natürlich war nicht alles musikalisches Gold, was da erglänzte. Aber die Zusammenstellung war von einzigartiger Apartheit; sie fand ihren Finderlohn im reichen Beifall eines großen, thematisch interessierten Publikums. Manche Nummern von Nietzsche und Gast hätten allerdings eher ein heiteres Schmunzeln als den Bierernst der Hörerschaft verdient. Zum Ende hin ging leider die Vielfalt verloren; übrig blieben allzu stimmungsgleiche, nicht deutlich genug voneinander abgehobene Klavierwerke aus den Gründerjahren vor und nach Wagners Tod.

Aber es lohnte schon sehr, den Meistersinger Fischer-Dieskau am Flügel zu erleben, wie er vierhändig mit dem keineswegs hinreichend geschätzten Komponisten und äußerst differenzierenden Pianisten Aribert Reimann die unbekannte "Manfred-Meditation" Nietzsches mit dem Reiz der Unvollkommenheit spielte. Zweimal verband sich Reimann mit dem ungarischen Geiger János Négyesy, um mit einer "Silvesternacht" Nietzsches und drei Liszt-Stücken dem Abend kammermusikalischen Charakter zu verleihen.

W. S.

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     Frankfurter Allgemeine Zeitung,  26. Mai 1975     

Denkende Sänger, singender Denker

Pears und Fischer-Dieskau mit Kompositionen von Nietzsche

   

1962 wurde in Coventry zur Einweihung der im Krieg durch deutsche Bomben zerstörten und dann wieder aufgebauten Kathedrale Benjamin Brittens "War Requiem" uraufgeführt. Die Hauptpartien sangen Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau. Beide haben Weltgeltung nicht nur als Sänger, sondern als denkende Musiker, für die das Singen nur eine der möglichen Formen des Ausdrucks bildet.

[...]

"Ein sonderbares Konzert" nennt Hans Mayer in einer Anmerkung zum Programm die Veranstaltung der Akademie der Künste mit Liedern und Kammermusik. Die Komponistennamen waren Friedrich Nietzsche, Peter Gast, Franz Liszt und Richard Wagner. Und Wagner ist es, dessen Werk und dessen Person den Generalnenner dieser musikalischen Kuriositäten bildete. Nietzsche war ihm als leidenschaftlicher Anhänger, später als ebenso enthusiastischer Feind verbunden. Franz Liszt stand ihm künstlerisch so nah wie freundschaftlich und durch seine Tochter Cosima sogar verwandtschaftlich. Peter Gast, Freund und Schüler Nietzsches, bewunderte ihn und baute sein Leitmotivsystem eigenwillig aus.

Sonderbares Programm

Zu den drei Ausführenden dieses Akademieprogramms gehörte Fischer-Dieskau. Diese Zeitung hat sein Buch über die merkwürdige Freund-Feindschaft Nietzsche-Wagner veröffentlicht; sicher ging jetzt die Anregung zu dieser Berliner Veranstaltung von ihm aus. Auch von ihm gilt, was über den fünfzehn Jahre älteren Peter Pears zu sagen war. Schon als Kind und Jüngling träumte Fischer-Dieskau davon, Dirigent zu werden. Seine musikalische Ausbildung umfaßte Klavierspiel, Theorie und Gesang. Auch als weltberühmter Opern- und Konzertbariton hat er sich in jeder freien Stunde mit den vielen Dingen beschäftigt, denen sein Interesse gilt. Er musizierte am Klavier, trieb musikhistorische Studien, malte viele Bilder, die man in seinem Berliner Haus betrachten kann, und schrieb Bücher. Schließlich ist er seit ein paar Jahren zu seinem Jugendtraum zurückgekehrt und hat sich der Öffentlichkeit als Dirigent vorgestellt.

Wie Pears ist auch Fischer-Dieskau oft als Interpret zeitgenössischer Werke hervorgetreten. Er hat die Uraufführungen von Hans Werner Henzes "Elegie für junge Liebende" (in der englischen Originalfassung von Wystan Hugh Auden), von Michael Tippetts Oratorium "Die Vision des Heiligen Augustin", Aribert Reimanns "Zyklus" nach Dichtungen von Paul Celan und Ernst Kreneks Liederkreis "Spätlese" gesungen – um nur einige der wichtigsten zu nennen. Er hat Liederabende aus Vertonungen von Gedichten Goethes oder Heines oder Eichendorffs zusammengestellt. Er ist, mit einem Wort, ein denkender Sänger, dem die kulturellen Hintergründe der Musik viel bedeuten und der sie durch die Art seines Vortrags zu beschwören versteht.

Und eben um diese kulturellen Hintergründe geht es in dem wahrhaft sonderbaren Programm der Akademie, die es als Nachlese zu der vorjährigen Ausstellung "Aspekte der Gründerzeit" bezeichnet. Der Gründerzeit selbst gehörten nur wenige der gehörten Stücke an, denn die beginnt ja nach 1871 mit dem aufstrebenden Selbstgefühl des Kaiserreichs. Von der Großmannssucht dieser Epoche kündet wohl Nietzsches 1872 geschriebene "Manfred"-Meditation, zu der Hans von Bülow meinte, sie sei Notzucht an Euterpe. Aribert Reimann, der Pianist des Abends, spielte sie vierhändig mit Fischer-Dieskau, und beide mühten sich redlich, die krausen Sequenzen der vollgriffigen Symphonik aus Untiefen ans Licht zu heben. Wirkte sie als echtes Beispiel der Gründermusik, so kompromittierte die erste Programmnummer den Begriff der Romantik; denn romantisch ist dieses Stück für Geige und Klavier, das Nietzsche an der Jahreswende 1862-63 "Eine Sylvesternacht" nannte. Fast zehn Minuten lang braucht er, um aus dem Adagio-Moll-Beginn über bewegte Arpeggien der Violine zu immer törichteren Schusterflecken zu kommen. János Négyesy konnte mit all seiner Geigerkunst diesem amorphen Gebilde sowenig Reiz abgewinnen wie Reimann am Klavier.

Als Liederkomponist schnitt Nietzsche am schlechtesten ab. Denn wenn auch in den fünf Gesängen nach Klaus Groth, Hoffmann von Fallersleben und Alexander Petöfi manche schöne melodische Wendungen und harmonische Einfälle stehen, ist doch der Vokalsatz so grausam stimmwidrig, daß es sogar Fischer-Dieskaus Meisterschaft kaum glücken wollte, den permanenten Lagen- und Charakterwechsel zu bewältigen. Dagegen waren die drei Lieder von Peter Gast-Köselitz wenigstens sangbar gesetzt, dafür allerdings rührend banal und auffallend provinziell, wenn man sie mit gleichzeitig entstandener großer Musik der Epoche, etwa mit Bruckners Frühwerken, vergleicht. Bedenkt man, daß dieser trübe Gast ein Schüler Jakob Burckhardts, Franz Overbecks und Nietzsches gewesen ist, so fragt man sich, wozu eigentlich alle Unterweisung und aller bedeutende Umgang dient.

Wagner war mit Arbeiten aus ungleichen Schaffenszeiten vertreten. Das Tannenbaumlied von 1838 sagt uns nichts. Aber die "Träume" aus den Wesendonckliedern von 1858 sind in ihrer Klangpoesie unverwelkt, und wenn man sie musiziert wie Fischer-Dieskau und Reimann, wirken sie als komprimierte Frühform des zweiten "Tristan"-Aktes. Kaum weniger ingeniös ist das selten aufgeführte As-Dur-Klavierstück, das Wagner 1861 unter dem Titel "Ankunft bei den schwarzen Schwänen" ins Album der Gräfin Pourtalès schrieb, ergreifend auch das chromatische, die Welten Tristans und Parsifals verschränkende "Porazzi-Thema", mit dem der Abend ausklang.

Liszt war in der Entwicklung des spätromantischen harmonischen Ausdrucks der genialste Erfinder. Das erwies sich auch an den acht Klavierstücken und drei Liedern, mit denen er den Abend beherrschte. Für die lebhaften Stimmungen von Rellstabs "Es rauschen die Winde" und für die großartige Stille des Goetheschen "Über allen Gipfeln ist Ruh" hat er eindringliche musikalische Visionen gefunden. Unter den Klavierstücken sind schon die beiden Elegien der 1870er Jahre und die Hochzeitsmusik ihrer Zeit voraus. Erstaunlich ist die Unabhängigkeit von tonalen Schwerpunkten in "Unstern" und "Nuages gris" von 1881, dort in den chromatischen Parallelen übermäßiger Dreiklänge, hier in den Verbindungen von Quarten, beides die Klangwelten Debussys ebenso ahnen lassend wie die "vagierende" Harmonik Schönbergs.

Späte Romantik

Die beiden unheimlichen Gondelstücke von 1882 und der Nachruf auf den in Venedig gestorbenen Freund Wagner setzen diese Tonsprache fort. In ihr leben die tiefsten und raffiniertesten Erlebnisse der späten Romantik fort. Sie sind gleichsam kulturelle Gegenkräfte der Gründerzeit, dem siegesgewissen Materialismus des Aufstiegs so fern wie dem des Aufruhrs.

Diesen kulturellen Zeitraum und seine Resultate aus der Vergessenheit zu heben war ein guter, der Akademie würdiger Gedanke. Die drei ausführenden Musiker wurden im ausverkauften Studiosaal begeistert akklamiert.

H. H. Stuckenschmidt

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