Zum Liederabend am 5. April 1975 in Freiburg i. Br.


       

     Badische Zeitung, Freiburg,  7. April 1975     

Der Magier des Lieds singt Visionen

Dietrich Fischer-Dieskau mit Eichendorff-Vertonungen in der Freiburger Stadthalle

    

Das ist der Fluch der guten Tat. Vor 25 Jahren, als Dietrich Fischer-Dieskau seine nach dem Krieg doch beinahe aussichtslose Missionstätigkeit in Sachen Lied begann, wäre es undenkbar gewesen, einen Saal wie die Freiburger Stadthalle mit einem – überdies noch konzessionslosen – Programm gesungener Lyrik zu füllen. Das phänomenale Ergebnis der Missionierung ist bekannt. Mit einem Liederabend in die Arena der Stadthalle zu gehen, ist zwar längst nicht mehr "undenkbar", aber immer noch "unmöglich". So wenig ein sogenannter stimmungsvoller Raum Kunst hervorrufen, fördern oder gar ersetzen kann, so sehr kann ein so auserlesen fürchterlicher Saal wie die Stadthalle Kunst morden, zumindest jedoch gefährden. Daß Fischer-Dieskau, den Informationen zufolge auf der Stadthalle beharrt hatte, dieses nahezu tödliche Hindernis überwand, daß er das lyrikfeindliche Ambiente (wenigstens in den vorderen Reihen) zeitweise vergessen machte, sagt eigentlich schon alles über den Grad an Magie, den die stimmliche Vermittlungskunst des nun fast 50jährigen erreicht hat. Die auf das (indessen ungleich vorteilhaftere) Salzburger Große Festspielhaus gemünzte Bemerkung eines Münchner Kollegen, Brahms’ Liebesliederwalzer nähmen sich dort aus wie eine Skatpartie im Olympiastadion, wollte mir dennoch nicht aus dem Kopf.

Fischer-Dieskau, von Günther Weißenborns einfühlsamer pianistischer Partnerschaft glückhaft unterstützt, hatte diesmal nicht wie sonst meist einen Komponisten als Programmstütze erkoren, sondern sich einen Dichter vorgenommen: Eichendorff. Und es ist für den Stand seines Interpretationsvermögens bezeichnend, daß es beinahe weniger die Gedichte und auch nicht die ohnehin heterogenen kompositorischen Mittel Mendelssohn Bartholdys, Schumanns, Pfitzners, Bruno Walters,. Reinhard Schwarz-Schillings und Wolfs waren, die eine Verbindungslinie zwischen den Stationen des Abends zogen, als eben diese Stimme, die höchste musikalische Diszipliniertheit – was sich häufig nach agogischen Rückungen anhört, ist nicht selten nur äußerste dynamische Differenzierung – mit der Freizügigkeit des Rhapsoden verbindet.

Und gerade wer die Entwicklung dieses singulären Liedersängers manchmal mit Sorge verfolgt hat, wird nach diesem so anspruchsvollen wie faszinierenden Konzert eingestehen müssen, daß das, was lange nach Manier, nach zeigefingerhafter Künstlichkeit klang (im Plattenstudio freilich stets mehr als im kommunikations- und reaktionsfreundlicheren Konzertsaal), wieder reines Mittel zum Zweck ist: nämlich Vergangenheit heraufzubeschwören ("... aber Vater und Mutter sind lange tot" – ungeheuer dieses Rückbesinnen aufs Ehedem), hinter die Dinge zu sehen, romantische Nachtgesichte zu verkünden ("... was soll dieses Graun bedeuten?"), kurz: Visionen zu umreißen. Dieses Visionäre im Tonfall, das macht nach wie vor die Einzigartigkeit dieses Liedersängers aus, dessen Stimme zwar an Umfang eingebüßt hat, ihre Vorzüge – jene Mezzavoce, jenes ätherische Piano, die für ein unkopierbares lyrisches "Fließen" bürgen – womöglich noch konzentrierter entfaltet. Diese Stimme, die wie keine andere durch einen rein vokalen Gestus Zustände, Haltungen, Situationen umschreiben, "erzählen" kann. Man muß hören, wie Fischer-Dieskau in Schumanns "Einsiedler" auf dem Wort "wandermüd", ohne ein eigentliches Portamento und damit einen vergröbernden Effekt zu benutzen, die Stimme leicht absinken, "hin-sinken" läßt, Müdigkeit somit in der Diktion schildert: vokale Deskription gewissermaßen. Man scheut sich, derlei Trivialitäten niederzuschreiben, aber daß Gesang über Stimmentfaltung, also über Physisches hinaus etwas Geistiges sein kann – Fischer-Dieskau hat es wieder bewiesen.

Und er bewies noch mehr: daß ein Komponist wie Pfitzner etwa auf den Liederprogrammen gemeinhin sträflich vernachlässigt wird ("In Danzig" ist eine hochsuggestive, durch beinahe irreal ineinandergeschobene Akkordik fast "bodenlose" Vision), daß Bruno Walter zumindest einen Hinweis verdient und daß der heute 71jährige Berliner Schwarz-Schilling in seinen besten Beispielen ("Bist du manchmal auch verstimmt") einen skurrilen Humor beinahe Wolfscher Prägung erreicht. Es bedarf einer Liedautorität vom Range Fischer-Dieskaus, dergleichen durchzusetzen, einer Stimme, die Drastik und Verzückung, Ironie und Versenkung, Innerlichkeit und (manchmal nicht ohne Mühe) Auftrumpfen zu spiegeln vermag, und dazu: Subtilitäten ohne Zahl – ein Fest der Nuancen.

Nachher war’s wie stets bei Fischer-Dieskau: Das Publikum belagerte das Podium, wich und wankte nicht. Sechs Zugaben. Ein Abend, an dem Gesang mit Musik, an dem musikalische Interpretation mit Kunst zu tun hatte.

Heinz W. Koch

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     Offenburger Tageblatt, 9. April 1975     

Die Landschaft der Seele

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Freiburger Stadthalle

     

Dietrich Fischer-Dieskau hat es längst nicht mehr nötig, die Programme seiner Liederabende lediglich mit den bekannten und allbeliebten Perlen der Liedkunst zu schmücken. Er geht seine eigenen, seine eigenwilligen Wege und erfüllt jetzt die von ihm immer wieder erhobene Forderung, daß beim Lied der Text, die Dichtung für den Sänger ebenso wichtig, ebenso ernst zu nehmen sei wie die Vertonung, daß beides eine untrennbare Einheit sein müsse. "Musik und Dichtung", so hat er einmal geschrieben, "sie haben einen gemeinsamen Bereich, aus dem sie schöpfen und in dem sie wirken, die Landschaft der Seele."

In diesem Sinne hat Fischer-Dieskau seinem Liederabend in der Freiburger Stadthalle einen Dichter als Motto vorangestellt: Joseph von Eichendorff. Denn wie er einmal äußerte: "Einer, dessen Sprache an sich schon Musik ist und die doch die Töne nicht verdrängte, sondern sie eher durch ihre andeutende Zartheit zum Fortführen mit den Mitteln der Melodie und der klanglichen Anreicherung hervorlockte, war Joseph Freiherr von Eichendorff." Sechs Komponisten mit Eichendorff-Vertonungen rundeten sein Liederprogramm zur geschlossenen Einheit.

Dabei kamen Komponisten zu Wort, die man sonst nie zu hören bekommt, wie Bruno Walter, der berühmte Dirigent, der neben zwei Symphonien auch eine Anzahl Lieder geschrieben hat, die etwas auf Schuberts Spuren wandeln; oder der 1904 geborene Reinhard Schwarz-Schilling, der eine volkstümliche Note anschlägt. Von den Eichendorff-Vertonungen Hans Pfitzners gab Fischer-Dieskau einen ganzen Zyklus, der zum Besten gehörte, was an diesem Abend zu erleben war, Lieder, die mit glücklicher Erfindungsgabe, auch in der Klavierbegleitung, das Spukhafte, das Irreale bei Eichendorff betonen, wie etwa in dem Lied "In Danzig". Von den bekannten Liedmeistern hatte der Sänger in kluger Wahl das weniger bekannte ausgesucht, wie etwa von Felix Mendelssohn Bartholdy das "Nachtlied" ("Vergangen ist der lichte Tag"), von Robert Schumann "Zwielicht" ("Dämm’rung will die Flügel spreiten") oder "Im Walde" mit seinen Stimmungskontrasten. Und von den Liedern Hugo Wolfs wird das kecke Lied "Seemanns Abschied" den wenigsten Hörern vertraut gewesen sein.

Dietrich Fischer-Dieskau ist noch immer der überlegene Liedersänger, der jedes Gedicht Eichendorffs mit der ihm eigenen Atmosphäre umgibt, der sein Publikum zurückzuzaubern weiß in die Welt der Romantik. Der Bariton des heute Fünfzigjährigen hat freilich einiges von seinem Metallglanz verloren, mit den hohen Lagen gibt es gelegentlich Schwierigkeiten, um so besser sprechen die dunklen Lagen an.

Der Vortrag ist gegen früher schlichter geworden, und Deklamation und Artikulation sind unübertrefflich wie eh und je. Und das war auch nörig, denn die riesige Freiburger Stadthalle mit ihren 3000 Plätzen war als Rahmen so ungeeignet wie möglich: da fehlte jede Intimität, wie sie für den Liedvortrag eigentlich unerläßlich ist, es waren eben zu viele, die ihn hören wollten, hören mußten. An der stürmisch bejubelten Leistung des Sängers hatte auch sein Begleiter am Flügel, Günther Weißenborn, ein Pianist von hohen Graden, seinen gewichtigen Anteil.

H. R.

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