Zum Liederabend am 22. März 1975 in Darmstadt


    

     DT-Darmstädter Tagblatt,  24. März 1975     

Spiegelungen der Romantik

Dietrich Fischer-Dieskau sang Eichendorff-Lieder

     

Daß Dietrich Fischer-Dieskau den Begriff der Interpretation nicht nur im Sinn der Deutung und Darstellung des einzelnen Kunstwerks versteht, hat er oft bewiesen: in Schallplattenaufnahmen des gesamten Liedschaffens von Komponisten wie Schubert, Wolf, Strauss, in Büchern über Musik und Musiker, in besonderen Lied-Programmen geht es ihm darum, Zusammenhänge aufzuzeigen, den geschichtlich-biographischen Hintergrund zu erhellen, vor dem die sublime Verbindung von Wort und Ton, die wir "Lied" nennen, sich ereignet.

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Liederabend im Großen Haus des Staatstheaters Gesänge verschiedener Komponisten nach Gedichten von Joseph von Eichendorff vortrug, dann war darin das Bemühen zu spüren, die Spiegelungen anschaulich zu machen, die die Sprache eines Dichters im Medium der Musik findet. Diese Absicht war auch im Programmheft-Text zu erkennen, in dem Fischer-Dieskau versucht, sich in die "Wortmusik" der Lyrik Eichendorffs einzufühlen. Dessen Gedichte, in denen das Volkslied anklingt und die doch überlegt gestaltet sind, tragen bereits Musik in sich, sie wecken das Lied, das in allen Dingen schläft – es ist kein Zufall, daß viele seiner volkstümlichsten Gedichte in den Novellen und Romanen stehen, als Lieder, die "gesungen" werden.

Die Welt Eichendorffs ist die der Romantik, das Erlebnis der Natur prägt sie, Wald und Berge, Frühling und Mondschein, Hörnerruf und Nachtigallschlag sind ihre ureigenen Motive. Aber auch das Bedrohliche und Zwielichtige kann aus seinen Versen sprechen, und andererseits ist er durchaus der Heiterkeit und Ironie fähig – einer Ironie, die das Gegenüber, den Alltagszwang und Natursehnsucht zur Sprache bringt. So ist zu verstehen, daß Eichendorffs Lyrik nicht nur die Hochromantiker zur Vertonung reizt – wie Mendelssohn und Schumann -, sondern auch diejenigen, die Romantisches aus der Distanz sehen – wie Wolf und Pfitzner – und schließlich Komponisten der Moderne. Dietrich Fischer-Dieskau verfolgte diese Linie, wobei er auch das Unpopuläre nicht scheute unbd manchen vergessenen oder unbekannten Schatz ans Tageslicht hob.

Drei Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy brachten die romantischen Saiten zum Klingen, sie waren so gewählt, daß jene "Wortmusik" sinnfällig wurde: das Horn klingt aus dem "Waldschloß", die Glocken schlagen im "Nachtlied", die Mandoline zirpt im "Pagenlied". Mendelssohn ist vielleicht dem volksliedhaften Zug Eichendorffs am nächsten, einfach ist die Melodik, mit sparsamen Strichen, gleichsam als Aquarell ist die Begleitung gemalt - Fischer-Dieskau gelang es, jene Einfachheit mit innerer Spannung zu erfüllen, ein zart-schwebendes Gleichgewicht zwischen Gedicht und Musik zu schaffen; Günther Weißenborn am Klavier traf unaufdringlich die jeweilige Stimmung, hob die wortgezeugten Motive behutsam heraus.

Robert Schumann leuchtet tiefer in romantische Abgründe hinein, er läßt die Beklemmung der Einsamkeit spürbar werden ("In der Fremde"), er schildert das Bedrohliche der Abenddämmerung ("Zwielicht"), das Schauern im Herzensgrunde ("Im Walde"). Fischer-Dieskau machte solche Regungen bis in den Stimmklang hinein deutlich, er vollzog die verschlungenen und überraschenden harmonischen Wendungen Schumanns bewußt mit, so daß man im Zusammenwirken mit Günther Weißenborn nicht Melodie und Begleitung empfand, sondern die Einheit des künstlerischen Gebildes. Von vier Gesängen aus dem frühen Liederkreis hoben sich die eigenartig stockenden Klänge des späten Liedes "Der Einsiedler" bewegend ab: choralhaft und doch vorsichtig tastend ist die Bitte gestaltet "Komm, Trost der Welt", du stille Nacht!".

Hans Pfitzner wendet sich mit Leidenschaft zur Romantik und insbesondere zu Joseph von Eichendorff zurück, ohne daß er die Fesseln des 20. Jahrhunderts ganz abstreifen kann. In manche Lieder mögen aus solcher Rückwendung allzu hochtrabende oder sentimentale Stellen gelangt sein ("Im Herbst", "Nachts"), in anderen aber wird das Dämonische, Gespenstische der nächtlichen Bilder beklemmend gegenwärtig, wie in "Lockung" oder "In Danzig". Es ist Dietrich Fischer-Dieskau nicht nur zu danken, daß er sich der bedeutenden Lieder Pfitzners erinnert, sondern vor allem, daß er sich ihre Rolle zu eigen gemacht hat, ihre Inbrunst und Bitterkeit, ihren Zauber und ihre Schwermut als Sänger erfüllt. Hier gilt in gesteigertem Maß, was zur Mendelssohn-Interpretation gesagt wurde: Fischer-Dieskau geht vom Wort aus, er macht seinen Sinn vernehmlich, doch er gestaltet zugleich musikalische Zusammenhänge, die ihren Sinn in sich tragen; aus solcher inneren Spannung, der übrigens eine erstaunliche äußere Gelöstheit entspricht, erwächst das Eigentümliche seines Liedgesangs.

Der zweite Programmteil, der die Eichendorff-Spiegelungen nun auch ins Humorvoll-Skurrile trieb, begann mit unbekannten Liedern. Bruno Walter, nur sieben Jahre jünger als Pfitzner, diesem als Dirigent eng verbunden, zeigt auch als Komponist stilistische Parallelen zu ihm. Witzig-pointiert wirkt "Der Soldat", nachdenklich-elegisch "Der junge Ehemann". Von Reinhard Schwarz-Schilling, dem in Berlin lebenden, heute siebzigjährigen Komponisten erklangen drei Lieder, die, bei tonaler Orientierung, durch holzschnitthaft-prägnante Zeichnung auffielen. In "Kurze Fahrt" treibt ein Posthorn-Motiv ein quirliges Spiel, in "Bist du manchmal auch verstimmt" wird die "süße, traute Violine" köstlich persifliert, bis in die Verstimmtheit – auch der Nachbarn – hinein.

Hugo Wolf hat sich nicht, wie Pfitzner, ganz der romantischen Leidenschaft hingegeben, er hat Eichendorff aus einer gewissen Distanz betrachtet und seine Gedichte – aus denen er vorzugsweise die nachdenklichen oder übermütigen wählte – psychologisch gedeutet. Dietrich Fischer-Dieskau hatte seine Auswahl etwa im Sinn einer kontrastreichen Suite getroffen, so daß "Der Musikant" den verhaltenen "Nachtzauber" ablöste und daß der draufgängerische "Seemanns Abschied" auf die Totenklage des "Nachrufs" folgte. Es war einfach hin- und mitreißend, wie der Sänger diese Kontraste ausprägte, ohne dabei zu übertreiben, wie er auch bei vollem Einsatz seines Temperaments noch die Feinheiten Wolfscher Rhythmik und Agogik zur Geltung brachte, wie er bei größten dynamischen Gegensätzen nicht die Mitte seines biegsam-klangvollen Baritons verlor.

Diese bestätigte sich noch einmal, als er innerhalb einer langen Zugabekette, die er nach begeistertem Applaus sang, die Wolf-Auswahl um die Lieder "Der verzweifelte Liebhaber" und "Verschwiegene Liebe" erweiterte – dort drastische Situationskomik bis in die Mimik hinein, hier wunderbar-ausgeglichener Gesang, der die Stimme wie ein zartes Instrument über den Klavierharmonien schweben ließ. Günther Weißenborn, der Dietrich Fischer-Dieskau aus langjähriger Zusammenarbeit kennt, war ein Mitgestalter, der eigene Impulse gab, ohne dem Sänger die Initiative zu nehmen. Weißenborns Spiel mag pianistisch nicht bis ins letzte Detail ausgefeilt sein – doch ist entscheidend, daß er Atmosphähre schaffen kann, daß er den Ausdrucksbereich des einzelnen Liedes trifft und mit dem Sänger atmet, ihm die Phrasen zuspielt und sie ihm abnimmt. So war es möglich, diesen künstlerisch bedeutsamen Liederabend als einen Dialog mit gegenseitigem Geben und Nehmen zu empfinden, angeregt durch das "Zauberwort" Joseph von Eichendorffs.

Klaus Trapp

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