Zum Liederabend am 25. Oktober1974 in Berlin


  

     Frankfurter Allgemeine  Zeitung, 28. Oktober 1974     

Fischer-Dieskau

     

In den sechs Gedichten von Paul Celan, die Aribert Reimann für seinen "Zyklus" aus dem Band "Atemwende" auswählte, kommt das Wort Tod nicht vor. Dennoch handeln die sechs dunklen, auch sprachlich in schöne Labyrinthe führenden Texte von nichts anderem. Es sind Visionen des Welkens, des Vergehens, der "grauschwarzen Ödnis", die "jenseits der Menschen" wartet und die der Dichter 1970 aus freiem Willen aufsuchte.

Der "Zyklus für Bariton und Orchester", anläßlich des Dürerjahres für Nürnberg geschrieben und dort 1971 uraufgeführt, wandert ruhelos durch die Klänge eines Orchesters, dem die hellen Geigenfarben fehlen, das die Flötengruppe vierfach spaltet, den übrigen Bläsern oft solistische Aufgaben zuteilt. Pausenlos gehen die sechs Teile ineinander über, gegliedert nur durch Wechsel von Tempo, Farbe und Dynamik. Reimanns Eingebung scheint aus einem wie somnambul wirkenden Lauschen hinter die Wortklänge und Sinnfolgen zu stammen. Man begegnet unablässig Visionen von überwiegend leisem, oft wie in einer Lesung raunendem Ton, der dem hellen orchestralen Licht entflieht: schon der Beginn, wenn dem solo einsetzenden Bariton ein Tamtam begegnet und eine Baßflöte erwidert, der Altflöte, Flöte und Piccolo folgen, ist von solcher düster beschwörenden Art. Doch gibt es Steigerungen. So im dritten Gedicht "Am weißen Gebetsriemen", wo die Blechgruppe herrscht, unheimliche Posaunenglissandos zu Tongeweben zwanzigfach geteilter Streicher überleiten, die Singstimme in tenorale Höhen steigt.

Wieder hat sich Reimann mit diesem "Zyklus" als inspirierter, in romantisch-expressiven Welten beheimateter Musiker ausgewiesen: ein Schaffender mit neuen Klängen und Melodien.

Fischer-Dieskau, dem die 22 Minuten lange Komposition gewidmet ist, singt sie mit einer nur ihm eigenen Intensität und Fähigkeit zur Nuance. Der Eindruck war überwältigend, die Hörerschaft in der ausverkauften Philharmonie spürbar ergriffen.

Nur noch ein Werk stand auf dem Programm des so begonnenen philharmonischen Konzerts: Bruckners neunte Symphonie. Daniel Barenboim dirigierte, auch er ein Musiker der Zwischentöne und Schattierungen, der das vielstimmige Reimannsche Gewebe bald verschmelzen, bald in seinen Fäden durchsichtig werden ließ.

Seine Bruckner-Deutung war anderer Art. Anders als Karajan verhärtete er den Klang, ließ er die Stakkatos zu Martellatos werden, machte er Kontrapunkte überdeutlich. Ernst, Hingabe und technische Zuständigkeit sind bei Barenboim, diesem wunderbar hörenden und erlebenden Musiker, unbezweifelbar. Mit dem Erlebnis Bruckner wird er noch zu schaffen haben.

H. H. Stuckenschmidt

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     Der Tagesspiegel, Berlin,  25.  (?) Oktober 1974     

   

Es sind noch Lieder zu singen

Fischer-Dieskau und Barenboim mit den Berliner Philharmonikern

  

Aribert Reimanns Paul-Celan-Affinität hat zu immer neuer kompositorischer Auseinandersetzung mit dem Sprachschöpfer aus der Bukowina geführt. Nach den "Fünf Gedichten von Paul Celan" (1959) und "Engführung" (1967), beide mit Klavierbegleitung, uraufgeführt von Fischer-Dieskau und Haefliger, entstand 1971, wiederum für Fischer-Dieskau, nach sechs Gedichten aus "Atemwende" der "Zyklus für Bariton und Orchester".

Die Musik sucht Extreme auf: den grellen, schneidenden Reibungseffekt ("es wuchs ein Gebirg / weit hinaus in die Schlucht") und das Umkreisen weniger Töne durch die Kontrabaßgruppe und die Singstimme ("Fadensonne / über der grauschwarzen Ödnis"). Zarte ostinate Streicherakkorde tragen die visionäre Stimmung des Gedichts

"Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten", ein lapidarer Blech-Kontrapunkt die Zeilen "Niemand zeugt für den Zeugen". Am eindringlichsten vielleicht der Hoffnungshorizont, den ein von der Baßflöte stimulierend angeführtes Flöten-Quartett der unbegleitet gleichsam im Finstern daherwandernden Solostimme – "vernichtet, lichten" – entgegenbringt; so korrespondieren "Licht war. Rettung" und "es sind noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen".

Ob Celans Wortmusik der Vertonung zusagt oder durch sie ihrer assoziationsreichen Schallqualitäten verlustig geht – beides scheint gegeben: Reimanns Musik trifft eher das Schwermütig-Atmosphärische der Poesie als ihre abstrakten Kühnheiten "jenseits der Spaltworte". Zweifellos ist die Komposition auch eine Hommage à Fischer-Dieskau, der sie mit einer Palette von fahler bis kompakter Farbigkeit seines Baritons präzisierte.

Daniel Barenboim stimmte am Pult des Philharmonischen Orchesters nach der Berliner Erstaufführung in den Beifall für den Sänger und den Komponisten ein. Als leidenschaftlicher Bruckner-Dirigent hatte er sich diesmal die neunte Sinfonie vorgenommen, die er hell, hart, ungeschönt, offen im Klang mit den Philharmonikern musizierte. Barenboims Bruckner-Interpretationen schwelgen nicht, geben dem Sehnen der Celli nicht nach, tragen ihren aufgerauhten, der Deutlichkeit der Harmonik dienenden Charakter auch ins scharfe, niemals dick verschmelzende Fortissimo. Anschwellender Beifall nach dem leisen Adagio-Ausklang.

S. M.

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     Berliner Morgenpost, Berlin-West, 26. Oktober 1974     

   

Aribert Reimann, der junge Berliner Komponist, konnte sich glücklich schätzen; für seinen "Zyklus für Bariton und Orchester nach Gedichten von Paul Celan" hatte sich in einem Abonnementskonzert das Philharmonische Orchester Berlin eingesetzt sowie der Solist, für den der Zyklus geschrieben wurde: Dietrich Fischer-Dieskau.

Hinzu kam, daß Daniel Barenboim, einer der interessantesten Dirigenten unserer Zeit, die Leitung übernommen hatte. Und offensichtlich hatte er die Suite der fünf Celan-Vertonungen wünschenswert genau einstudiert.

Der Gesamteindruck dürfte selbst für Hörer, die mit zeitgenössischer Musik auf nicht allzu vertrautem Fuße stehen, sehr bewegend gewesen sein. Denn Celans hintersinnige Gedichte in Reimanns musikalischer Deutung, intensiviert durch Fischer-Dieskaus hochdifferenzierte Gestaltungskraft, machten unmittelbar betroffen. So konnte die Frage, ob hier moderne Musik oder überhaupt Musik geboten wurde, nur am Rande aktuell werden.

-w-

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     Spandauer Volksblatt, Berlin-West,  26. Oktober 1974     

Von Klängen umgeben

Celan-Lyrik von Aribert Reimann – adäquat vertont

   

Tiefsinn und Trauer prägen die Lyrik von Paul Celan (1920-1970). "Wir leben unter finsteren Himmeln, und es gibt wenig Menschen. Die Hoffnungen, die ich noch habe, sind nicht groß" schrieb er in einem Brief. Fünfzigjährig ging er freiwillig aus dem Leben.

Besucher des letzten philharmonischen Konzerts, die im Programmheft Verse Celans vielleicht nur flüchtig als Textgrundlage überlasen, mögen (abgesehen von zwei entstellenden Druckfehlern) nur einen Teil davon verstanden haben: der kühnen Bildhaftigkeit mußten sie doch inne werden, mit der Celan beispielsweise eine Liebesnacht schildert, "wo uns der Traumkamm schwoll, feurig, trotz allem, und ich die Goldnägel trieb in unser nebenher sargschön schwimmendes Morgen".

Die Wendung findet sich im fünften eines Zyklus von sechs Gedichten aus dem Bändchen "Atemwende", den Aribert Reimann – der schon mehrfach Celan vertonte – für Bariton und Orchester mit Musik versehen hat. Vier davon sind schwermütige Liebesgedichte, den Rahmen bilden knappe metaphysische Ausblicke. Reimanns Musik zeigt, daß Surreales durch Klänge durchaus zu verdeutlichen ist. A cappella beginnend und mit einem aus Stolz und Verzweiflung gemischten Ausdruck, von der Baßflöte begleitet, endend, zeichnet die menschliche Stimme anhand der Texte eine Kurve der Empfindungen, die trotz apokalyptischer Posaunenglissandi, angstvoller Koloraturen, Tamtamdröhnen und einem sirenenartigen Heulen der Streichinstrumente auf dem Höhepunkt nie ihre lyrische Verhaltenheit verliert. Klänge reiben sich am Wort, behaupten sich neben ihm, umgeben es wie ein Gespinst. Sie suchen die Lyrik nicht zu interpretieren, aber sie unterstreichen deren Assoziationsreichtum.

Für derlei, das weiß man, ist Dietrich Fischer-Dieskau – dem das zwanzigminütige Werk gewidmet ist – der richtige Mann. Der Ausdrucksgewalt und dem Samt des Organs gesellt sich eine geistige Konzentration, die der Musik und dem Text in gleicher Weise gerecht wird. Für den teils abwartenden, teils (hoffentlich!) betroffenen Beifall bedankte sich auch der Komponist.

Dirigent des Abends war Daniel Barenboim. Er leitete nach der Pause eine klar disponierte Aufführung der 9. Symphonie von Anton Bruckner.

Hans-Jörg von Jena

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     Petrusblatt, Berlin-West,  10. November 1974     

Mit Barenboim und Fischer-Dieskau

  

Der Pianist Daniel Barenboim, der sich auch als Dirigent rühmlich durchgesetzt hat, bewältigte am Pult der Philharmoniker Bruckners Neunte, indem er das symphonische Riesenmonument der Gottpreisung mit Hilfe des ihm flexibel folgenden Orchesters auf eine mittlere Linie zwischen wogendem Musikantentum und Sachlichkeit einpendelte. Weniger ließ er die gewaltigen Klangblöcke, die ausufernden Tonfluten ausmusizieren, als daß er dem orchestralen Gewebe nachspürte. Bruckners letztes künstlerisches Glaubensbekenntnis erhielt gerade dadurch um so stärkere Leuchtkraft.

Zuvor sang Dietrich Fischer-Dieskau Aribert Reimanns ihm gewidmeten Liederzyklus für Bariton und Orchester nach Gedichten von Paul Celan. Fischer-Dieskaus meisterliche Perfektion des Vortrags, mit der er den so wenig eingängigen, komplizierten Gesangspart bewältigte, ebnete die hoch aufschäumende Exaltiertheit der Vorlage auf wohltuende Erträglichkeit ein.

-er-

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