Zum Liederabend am 25. August 1974 in Luzern 


 

     Neue Zürcher Zeitung, 28. August 1974     

Internationale Musikfestwochen Luzern

Vom Reiz der Gegensätze

Liederabend und Kabarettabend

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Daß Dietrich Fischer-Dieskau die ursprüngliche Programmfolge umkehrte, die Weberns Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George (1908/09) an den Anfang gesetzt hatte und ihnen acht Lieder Schönbergs, aus verschiedenen Zyklen ausgewählt, hatte folgen lassen, erschien unter dem Aspekte historischer Betrachtung sinnvoll: Man vermochte so den spätromantischen Ansatz, seine Auflösung in schwebender Tonalität und seine Entwicklung zum Konstruktiven der späteren Jahre (etwa in den beiden Liedern "Sommermüd", Nr. 1, und "Tot", Nr. 2, aus dem Opus 48) zu erkennen – womit gleichzeitig auch der Ansatzpunkt Weberns gegeben war.

Kreneks Zyklus "Spätlese", in sechs Teilen, auf eigene Texte (Opus Nr. 218), kurz zuvor, am 22. Juli, in einem Konzert der Münchner Opernfestspiele uraufgeführt, erlebten in Luzern ihre erste Schweizer Aufführung: ein Werk, das merkwürdigerweise vom Text her wesentlich mehr als von der Musik her zu fesseln vermag. Der Text, kraftvoll und poetisch zugleich, originell, in freien Rhythmen von bedeutendem Impetus, besingt Zauber und Würde der Spätlese, des aus späten Trauben gekelterten Weines, und führt die Gedanken weiter in die Tiefen einer späten menschlichen Existenz mit ihren Gefährdungen, Resignationen und Hoffnungen. Es ist ein stark emotionell gefärbter, auch ein philosophisch geprägter Text von seltsamer, seltsam aufwühlender Sprachgewalt. Die Musik vermag ihm aber kaum, höchstens in Augenblicken besonderer Verdichtung, zu folgen:; Ihre ständige Hochspannung ermüdet, verschleiert ihre, unzweifelhaft vorhandenen, lyrischen Qualitäten; verschiedene gestalterische und strukturelle Mittel unserer unmittelbaren Gegenwart (etwa: das direkte Spiel auf den Saiten, Clusters usw.) wirken oft nur aufgesetzt. Von köstlicher Art sind ein paar ironische Glanzlichter ("...die Katzen jammern die ganze lange Nacht / auf dem kalten Dach"). Ganz die Würde, die lyrische Kraft und den poetischen Zauber des Textes erreicht die Musik im allerletzten Abschnitt: ein leises Verklingen von vollendetem Ausdruck, Erlösung nach der nervösen, oft hektischen Spannung des Vorangegangenen ...

Bewundernswert war die Interpretation: der Sänger im vollen Besitze seiner stimmlichen Mittel, die ihm die erstaunlichsten Schattierungen und Nuancierungen erlaubten, über eine gestalterische Präsenz souverän gebietend, die faszinierte. Klugheit verband sich mit Musikalität; die Intensität der Darstellung war vollkommen. Seine beiden Klavierbegleiter hätten verschiedener kaum sein können: Aribert Reimann (Schönberg, Webern) ein handwerklich glänzend sich ausweisender, sehr feinhöriger Pianist, der überall, wo er, etwa in kleinen Vor- und Nachspielen, auf sich allein gestellt war, kleine Wunder an pianistischer Eloquenz vollbrachte (etwa in "Verlassen", Opus 6, Nr. 4), Ernst Krenek als Interpret seiner selbst ungestüm, nicht minder brillant, aber doch eher auf die große Linie denn auf das pianistische Detail achtend.

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df.

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     Tages-Anzeiger, Zürich, 2. September 1974     

Archaisches, dem Aktuellen gegenübergestellt

Die zweite Woche der Internationalen Musikfestwochen Luzern

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Ein Liederabend

In mancher Hinsicht einzigartig war das Programm des Liederabends mit Dietrich Fischer-Dieskau, der (von Aribert Reimann und Ernst Krenek kompetent begleitet) seine vollendete Vortragskunst in den Dienst von teilweise außergewöhnlichen Kompositionen stellte. Von Arnold Schönberg hörte man Lieder und Balladen aus der Zeit zwischen 1899 (als es für ihn noch eine Chromatik und eine Tonika gab) und 1933 (als die Strenge der Kompositionstechnik schon längst die Unsingbarkeit der Intervallsprünge zur Folge hatte). Von Webern erklangen dann die "Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George" (1908/1909).

Der zweite Teil des Abends galt einem neuen Werk des Seniors der Zweiten Wiener Schule, Ernst Krenek, der sich hier in der dreifachen Eigenschaft als starker Textdichter, als bemerkenswerter Klavierbegleiter und als ein betagter Komponist vorstellte, der bereit ist, auch ausgesprochen Modisches (wie Glissandi auf den Flügelsaiten) willig mitzumachen. Kreneks "Spätlese" 1973 - so heißt das Werk - empfanden wir weniger als eine musikalische denn als eine konditionelle Sensation, die der bald 75jährige Meister mit seinem sicheren Auftreten vollbrachte.

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sl.

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     Basler Nachrichten, 27. August 1974     

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

     

Was auch immer Dietrich Fischer-Dieskau in die Finger, respektive in die Kehle nimmt, empfängt den Stempel seiner unverwechselbaren, starken Persönlichkeit, seiner hohen Gesangskultur und seiner faszinierenden Gestaltungskraft, die auch weit auseinander liegenden Stilen gerecht zu werden vermag. Er ist im Konzertsaal wie auf der Bühne gleich überragend. Für seinen Luzerner Liederabend hatte er sich ganz auf die Zweite Wiener Schule (mit Einschluss Kreneks) konzentriert und damit auch schon gleich den Zuhörerkreis limitiert. So war der Kunsthaussaal am Sonntagabend nicht vollbesetzt, denn es war ein anspruchsvolles Programm, das aber sehr starke Eindrücke hinterließ. Besondere Akzente erhielt das Konzert durch die Mitwirkung zweier Komponisten: Aribert Reimann, der Fischer-Dieskau häufig begleitet und ihm diesmal in den Werken von Schönberg und Webern sekundierte, und Ernst Krenek, der seinen eigenen Klavierpart in der "Spätlese" ausführte. Das war ein ganz besonderes Erlebnis.

In Umstellung der ursprünglichen Programmfolge wurden zuerst Lieder und Balladen von Schönberg vorgetragen. Sie waren alle – mit Ausnahme von op. 48 - Liederzyklen entnommen, die zwischen 1899 und 1908 entstanden sind. Es handelte sich um op. 2 (1899), op. 3 (1899), op. 6 (1903), op. 12 (1907) und um ein ohne Opuszahl 1908 veröffentlichtes Rilke-Lied. Sie zeichnen sich alle durch spätromantische Expressivität und starke Stimmungshaftigkeit aus, die in den wichtigen Nachspielen des Klaviers ausschwingt. Hervorgehoben seien die kriegerische Ballade "Der verlorene Haufen" aus op. 12, das verhalten lyrische "Traumleben" und das dramatische "Verlassen" aus op. 6 und die beiden Proben aus op. 48 ("Sommermüd" und "Tot"). Es sind die letzten Kompositionen, die Schönberg 1933 in Berlin vollendet hat, die aber erst 1952 (unter der hohen Opuszahl) in den USA veröffentlicht worden sind. Sie sind von zarter, ausdrucksvoller Melodik und transparenter Begleitung und erinnern – trotz Formung nach der Zwölftonmethode – öfters an Vokalwerke der Frühzeit.

Viel anspruchsvollere und wesentlichere Texte hat Anton Webern in vier Liedern nach Gedichten von Stefan George 1908/09 vertont. Sie waren ursprünglich für die beiden George-Zyklen op. 3 und 4 bestimmt, sind aber dann lange Zeit ungedruckt geblieben. Sie sind stark in der lyrischen Aussage und unterscheiden sich infolge Fehlens jeglicher Traditionsbezogenheit von den gleichzeitigen Schönberg-Liedern. Eine kantable Singstimme verläuft über einem durchsichtigen, durchaus klaviermässigen Klaviersatz mit Akkordfundament-Funktion. Die Lieder sind formal knapp und verhalten im Ausdruck.

Nach der Pause brachte Dietrich Fischer-Dieskau mit Ernst Krenek am Klavier dessen Zyklus "Spätlese" 1973 (auf eigene Texte) in sechs Teilen für Bariton und Klavier, O. Nr. 218, zur Erstaufführung in der Schweiz. In den wortspielerischen Texten tritt die ganze geistreiche, lebendige und schillernde Persönlichkeit Kreneks in Erscheinung. Ausgehend von der Spätlese des Weins wird ganz allgemein über Charakter und Schicksal der Spätwerke meditiert, trotzig, verzweifelt, resigniert, sarkastisch und noch in vielen anderen Gemütszuständen und zuletzt wieder im Weine Trost gefunden. Der sprachliche Ausdruck ist höchst farbig und bildhaft, teilweise gereimt und nicht selten abstossend drastisch. Der Text wird von der Musik getragen und illustriert, wobei Krenek auch zu Clustern und mit Hand und Plektrum in die Saiten des Flügels greift. Es ist ein Part, der durch ihn lebt und den wohl niemand sonst so auszuführen versteht. Das gilt auch für Fischer-Dieskau, der die wechselnden Stimmungen und Schattierungen vollendet trifft und kein einziges Wort unter den Tisch fallen lässt. Man mag dieses Werk Kreneks goutieren oder geschmacklos finden, der Vortrag durch den Meistersänger und den Komponisten wurde zum Erlebnis. Beiden wurde begeistert und langdauernd applaudiert.

Albert Müry

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     National-Zeitung, Basel,  27. August 1974     

IMF Luzern: Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau (25.8.1974)

Programm ohne Kompromisse

     

Dietrich Fischer-Dieskau, für viele Musikfreunde Inbegriff vollkommener Gesangskunst, hat mit seinem ausschliesslich den Vertretern der Neuen Wiener Schule gewidmeten Programm sein Stammpublikum wohl etwas vor den Kopf gestossen. Die Stimmung vor seinem Liederabend war denn auch eher eine misstrauische, denn eine freudig erregte. Man wusste – im Gegensatz etwa zu einem Schubert-Abend – ja nicht, ob diese Neutöner nicht etwa dem so wohlklingenden Timbre eines Fischer-Dieskau schaden könnten, und die geheimen Wünsche waren beinahe den Lippen des Publikums abzulesen: ach, hätte er nicht doch noch ein "schönes" Lied wenigstens als Zugabe singen können. Er liess sich nicht verführen. Es ist dem international berühmten Sänger hoch anzurechnen, dass er sich einmal zusammen mit dem phantastisch anpassungsfähig begleitenden Pianisten und Komponisten Aribert Reimann ausschliesslich diesen Neuen Wienern angenommen hat. Von den früher, noch tonal gehaltenen Liedern aus den opera zwei, drei, sechs und zwölf von Arnold Schönberg stach die Vertonung von Richard Dehmels "Warnung" als kennzeichnendes Beispiel für den Schönbergschen Frühstil heraus, ein Ausbruch aus den verhaltenen Lyrismen der Vergangenheit, aggressiv und leidenschaftlich zugleich. Interessant dann die Gegenüberstellung zu den streng seriellen drei Liedern aus op. 48. Ein überraschender Uebergang, der geradezu den Effekt eines Schaltvorganges bewirkt, da man mit einem Schlag spürt, dass ein neues Ziel erreicht worden ist. Von konzentriertester Dichte dann Anton von Weberns Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George. Kein Wort im Programmheft über diese, noch ungedruckten und mit keiner Opus-Zahl bedachten, zwischen den Liederzyklen op. 3 und 4 entstandenen Lieder, was um so unverständlicher ist, als die schwierigen Texte von Stefan George im Klangbild eine ähnlich verschlüsselte Vertonung erfahren haben. Die konzise Schärfe des musikalischen Ausdrucks ist allerdings hier, wie bei allen Werken Weberns, unverkennbar.

Ebenfalls nicht einfach hat es der 74jährige, am Klavier selbst begleitende Ernst Krenek mit seinem neuesten, unlängst in München uraufgeführten Liederzyklus "Spätlese" seinen Zuhörern gemacht. Die von ihm selbst verfassten Texte müsste man zu Hause vorher in Ruhe einmal durchlesen (was man leider nicht kann, da das Textheft erst am Abend selbst verkauft wird). Da ist beinahe ein autobiographisches Bekenntnis, eine Mischung aus Galgenhumor, Resignation und Nostalgie, dazu eine Musik, ebenso vielschichtig, bald humoristisch, bald geschwätzig, grüblerisch, ein Psychogramm eines Mannes, der in seinem Leben trotz der vielen Ehrungen und Erfolge – man denke nur an seine Erfolgsoper "Jonny spielt auf" - viel Ungereimtes besonders nach seiner erzwungenen Emigration nach Amerika erfahren hat. Hier tritt ein Komponist als Pianist noch im hohen Alter öffentlich auf, der alle Strömungen seit dem Expressionismus mitgemacht hat. Das spürt man auch in der "Spätlese", in der eine Vielfalt modern-gemässigter Ausdrucksformen verarbeitet wird. Ob solches "gefällt" ist nach dem ersten Anhören – es handelte sich um eine Schweizerische Erstaufführung – nicht auszumachen. Dazu müsste man Musik und Text vor allem auch den reichen Klavierpart – erst noch gründlich kennen lernen. Es spricht aber für Krenek, dass er sich selbst treu bleibt, und sich nicht an einen modischen Trend anzupassen versucht. Dietrich Fischer-Dieskau versuchte durch eine ungekünstelte, im Detail prononcierte Interpretation, das erstmalige Hören zu erleichtern. Der Applaus war erstaunlich spontan, sicher ein Anzeichen dafür, dass die Bemühungen der Solisten um die Verbreitung auch der neueren Musik honoriert wurden.

Jürg Erni

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     Frankfurter Rundschau, 6. September 1974     

Schönberg in Luzern

Große Festwochen-Retrospektive der "Wiener Schule"

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Die Atmosphäre bildungsbeflissener Toleranz erwies sich in den Luzerner Konzerten vor allem da als bestimmend, wo nicht die Spitzenmatadoren der Interpretationskunst antreten. Deren Konzerte haben dann selbstverständlich wieder leicht das Fluidum von Götzenanbetung. Immerhin konnte selbst Dietrich Fischer-Dieskau diese Fatalität unterlaufen mit einem Webern-, Schönberg- und Krenek-Liedprogramm, das hohe intellektuelle Ansprüche stellte. Höhepunkt dieses Konzerts war zweifellos die Erstaufführung des Liedzyklus "Spätlese" (1973) von Ernst Krenek. Dieses Liedwerk reflektiert klarsichtig die Situation eines gealterten Künstlers, der ein zugleich distanziert-skeptisches und leidenschaftlich "unmittelbares" Verhältnis zur Zeit innehat. Kreneks Texte, an der konservativen Dialektik von Karl Kraus geschult, verbinden sich mit einer esoterisch-strengen Musik dodekaphonischen Charakters, deren eklektizistische Façon auf überaus eindrucksvolle Weise dem autobiographischen literarischen Vorwurf entspricht. Krenek spielte selbst den sehr anspruchsvollen Klavierpart.

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Hans Klaus Jungheinrich

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