Zum Liederabend am 22. Juli 1974 in München


     Frankfurter Allgemeine Zeitung,  25. Juli 1974     

Ein Publikum, das hemmungslos und richtig reagiert

Festspielaufführung von "Simon Boccanegra" und ein Konzert mit Fischer-Dieskau in München

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Ernst Krenek, Jahrgang 1900, junges Genie im Sturm und Drang der zwanziger Jahre, von strenger Symphonik und atonaler Kammermusik über Jazz, Neoklassik und Schubert-Romantik zum Zwölftöner gewandelt, repräsentiert wie kein anderer die Schicksale der Neuen Musik. Seit mehr als drei Jahrzehnten in den USA lebend und lehrend, ist dieser Wiener dem mitteleuropäischen Geist verbunden geblieben und nach 1945 als einer der ersten wieder mit unserem Musikleben in Kontakt getreten. Er hat in Darmstadt und am Kölner Elektronischen Studio die neuen seriellen und aleatorischen Satzkünste gemeinsam mit den jungen Komponisten entwickelt und bei dieser Arbeit Impulse sowohl empfangen als auch gegeben. Seine Opern sind in Frankfurt, Hamburg und in anderen Städten aufgeführt worden, und sogar die Heimat Wien hat ihn mit einer konzertanten Wiedergabe von "Karl dem Fünften", seinem bedeutendsten Bühnenstück, geehrt.

Krenek ist obendrein ein Schriftsteller hohen Ranges, dessen Bücher "Unterwegs" und "Zur Sprache gebracht" nur am Rande auch von Musik handeln. Schon früh hat er sich Libretti und Liedertexte wie die des "Reisebuchs aus den österreichischen Alpen" selbst geschrieben. Nun legt er, 73jährig, Gedichte und Musik eines sechsteiligen Zyklus vor, den er "Spätlese" nennt und als Opus 218 beziffert. Dietrich Fischer-Dieskau brachte ihn mit Krenek am Klavier bei seinem Liederabend während der Münchener Festspiele zur Uraufführung.

Die sechs Gedichte sind schwermütige Betrachtungen über Zeit, Jugend, Alter, Vergänglichkeit, Bestand, Gärung, Reife, Weisheit und Nichtwissen. Wortsinn und Sprache spiegeln sich in Varianten, Assonanzen und Spielen. Krenek sieht sich als späten Gast, geehrt doch unbegehrt neben der wilden Jugend allein beim alten Wein. "Ich, ein Vorläufiger, ein Vergänglicher, ein Unvorsichtiger ... Ich lese spät und warte, warte..." endet düster der Liederkreis. Schwer lastet Gedankenfracht auf diesen Versen; vorbei der Optimismus des "Reisebuchs". Und die Musik ist ebenso dicht, komplex und differenziert wie das Wort, dem sie dient.

In den sechs Liedern – Gesamtdauer 27 Minuten – schreibt Krenek eine Synthese moderner satztechnischer Mittel, die mit souveräner Freiheit so behandelt werden, daß sie dem Textausdruck vollendet dienen. Panchromatisch, ohne methodisch zwölftönig zu sein, greift der Klang auf die Epoche der frühen Emanzipierung der Dissonanz zurück, etwa auf den freiatonalen Schönberg. Doch wird das begleitende Klavier gleich zu Beginn mit passioniert aufrauschendem Ton eingesetzt. Akkordische, frei polyphone, bisweilen in Folgen von Einzeltönen reduzierte Formen wechseln miteinander ab. Es herrscht da eine neu gewonnene Freiheit, die alle Musik dem Ausdruck subordiniert. Neben traditionellem Satz erscheinen Klänge, die durch Zupfen und Glissieren auf den Klaviersaiten hergestellt werden. Kurze tonale Episoden sind eingeschaltet, ein Dur-Akkord illustriert die Trübheit und Schalheit des schnell veralteten Neuen. Nach fünf metrisch sehr komplizierten Liedern wird das letzte zunächst von einem munteren daktylischen Rhythmus beherrscht, um dann in müde Ruhe zu sinken.

Die Singstimme wird mit höchstem dramatischem und gesangstechnischem Anspruch behandelt. Melismatische Koloratur steht zwischen gewaltigen Ausbrüchen und resignierender Mezzavoce. Ein prophetisch bekennender Ton liegt über dieser Partie, zu deren Ausführung es nicht nur stimmlicher Meisterschaft bedarf. Fischer-Dieskau gestaltete sie mit einer Hingabe und künstlerischen Intelligenz ohnegleichen, von Krenek ebenbürtig und mit hoher pianistischer Kunst begleitet. Es war beglückend, zwei so große Persönlichkeiten im Dienst an einem bedeutenden Kunstwerk vereint zu erleben. Den Erfolg dieser Uraufführung konnten auch diejenigen nicht mindern, die ihr Unverständnis durch Buhrufe ausdrückten.

Der Novität waren zwei Gruppen mit Liedern von Arnold Schönberg und Anton Webern vorausgegangen, die eine Epoche zunehmend intensivierter Ausdrucksmusik von 1899 bis 1933 verkörperten. Darunter so geniale Ausbrüche wie Schönberg-Dehmels "Warnung" und so sublime Verschweigungen wie Webern-Georges "Trauer I". Fischer-Dieskau hat für diese unkonventionellen Gebilde einen immer reifer und gültiger gewordenen Vortragsstil gefunden. Am Flügel war Wolfgang Sawallisch ihm ein kundiger Partner.

Der ausverkaufte Herkulessaal bewies, daß man auch mit modernen Programmen Publikum findet. Fischer-Dieskau, der sich den Erfolg leichter machen könnte, gebührt für seine Leistung Bewunderung und hohe Achtung.

H. H. Stuckenschmidt


   

     Süddeutsche Zeitung, Datum unbekannt     

Modernes - doch fast wie von Brahms

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schönberg, Webern und eine Krenek-Uraufführung

    

Ganz zu Unrecht wird auf manche "Stars" geschimpft: nur weil die Öffentlichkeit oder die veröffentlichte Meinung halt nicht zur Kenntnis nehmen, daß etwa ein Karajan stunden- und tagelang mit einem (noch) völlig unbekannten Bariton den Papageno studiert, daß ein Michelangeli oder ein Menuhin zwar, als Interpreten, Stargagen verlangen, es jedoch mit diesem Geld jüngeren Musikern möglich machen, umsonst bei ihnen zu studieren.

Und Dietrich Fischer-Dieskau? Er hat mit Wolfgang Sawallisch während der Münchner Festwochen vor zwei Jahren einen wunderbaren, unvergeßlichen Schumann-Abend gegeben: der Sänger und der sehr kundige, pianistisch versierte Begleiter-Dirigent Wolfgang Sawallisch ergänzten sich aufs produktivste. Doch statt nun wieder einen todsicheren Klassiker- oder Romantiker-Abend zusammenzustellen, nützte Fischer-Dieskau die beispiellose Attraktivität seines Namens und Singens dazu aus, zusammen mit Sawallisch eine Schönberg-Folge und Weberns unbekanntere (!) George-Lieder vorzutragen. Nach der Pause stand eine Uraufführung auf dem Programm: "Spätlese, 1973" war sie betitelt. Es handelte sich dabei um eine Art Solo-Kantate in sechs Teilen über die Probleme des Alterns und des Weines. Textdichter, Komponist und authentischer, fesselnder Uraufführungspartner am Klavier war der Komponist Ernst Krenek. Er ist so alt wie das Jahrhundert, nämlich 74 Jahre.

Zum Anfang eine Mängelrüge: Während man sonst in den Programmheften ganz überflüssigerweise über lauter Sachen zum neunundneunzigsten Male informiert wird, die man wissen oder überall nachschlagen könnte, ließ das Programmheft ausgerechnet diesesmal die Zuhörer vollkommen im Stich. Nicht einmal die primitivsten Informationen wurden geboten. Dabei hatte Fischer-Dieskau sein Programm sehr durchdacht aufgebaut: Die acht Schönberg-Lieder waren eine Reise etwa vom Dissonanz.-Grad der Strauss’schen "Elektra" über freie Atonalität bis hin zu Zwölftonkompositionen und schließlich zurück ins Jahr 1907. Bei den vier George-Liedern Anton von Weberns handelt es sich um posthum aufgefundene Manuskripte, die von Hans Moldenhauer betreut und der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht worden sind. Ernst Kreneks Verhältnis zur Oper, zur Singstimme, zur Kantate, sowie auch die poetischen Bemühungen dieses Künstlers hätten dem Publikum auch mitgeteilt werden und einige Mißverständnisse verhindern können.

Bei der Interpretation früher und später Schönberg-Lieder bestach vor allem die musikalische Intelligenz von Fischer-Dieskau und Sawallisch. Die Nuancen und Formzusammenhänge wurden geboten, aber nicht übertrieben. Ein so zartes Lied wie "Erwartung" (Opus 2) - Mischung aus klarstem Symbolismus sowie zartesten Strauss- und Wagner-Anspielungen - entstand vorbildlich, war plötzlich nicht etwa modern oder gewagt oder spätromantisch - sondern schlicht nur: schön. Ähnliches ließe sich auch für die von Fischer-Dieskau stimmlich vielleicht sogar etwas zu neutral gebotene Interpretation des "Traumlebens" (Opus 6 Nr. 1) und für die von Sawallisch vielleicht um eine Spur zu Brahms-ähnlich begleiteten, freilich höchst durchsichtig und souverän disponierten Webern-Lieder sagen.

Daß Wolfgang Sawallisch trotz beträchtlicher technischer Reserven die sehr schwere Begleitung von Schönbergs "Warnung" (wo die Pianissimo-Cantilene nicht hinreichend herauskam, weil ein Begleitakkord der linken Hand die melodische Linie zu zerschneiden schien) und auch das balladeske Gedonner des "Verlorenen Haufens" nur gut, aber nicht vorzüglich ausführte, mag denn doch mit dem Spezialisierungs-Problem zusammenhängen. Selbst tüchtige Pianisten müssen mit solchen Stücken leben. Es genügt nicht, sie gleichsam naiv vorzutragen - aber solche Risiken gingen Sawallisch und Fischer-Dieskau bewußt, und beifallüberschüttet, ein, als sie sich an ein so entlegenes Programm machten. Übrigens dürfte der angebliche Rilke-Text, der nicht nach Rilke klingt, bis zum Beweis des Gegenteils, auch nicht von Rilke sein.

Durchdacht, ohne stimmlichen Glanz, schön und zurückhaltend vorgetragen, wirkten die Lieder von Schönberg und Webern fast so selbstverständlich wie Heikles von Wolf oder Reger. Darüber könnte man froh sein. Andererseits sei hier eine schwer formulierbare leichte Enttäuschung trotz allen Respektes nicht verhehlt: die sozusagen gesunde musikalische, vernünftige, Schönberg und Webern in die Liedtradition eingemeindende Interpretationsweise nahm, für mein Empfinden, den Stücken manchmal ihren Stachel: Nämlich jene Exaltiertheit auch des Leisen, jene hüllenlose Gewagtheit auch des Lyrischen, jene vielleicht exhibitionistische Grellheit des Ausdrucks, die da selbst im versprengtesten Pianissimo noch steckt und sowohl zur Sache wie zu ihrer Schwierigkeit gehört. Hier ging manchmal das Verstörend-Besondere verloren und die Lieder der Wiener Schule klangen wie schwächerer Brahms...

Als nach der Pause Ernst Krenek am Flügel sekundierte, war einiges von jener explosiv-expressionistischen Schroffheit da, die bei Sawallischs Vernunft und Fischer-Dieskaus zwar reicher, aber doch zurückhaltender Farbgebung "irgendwie" gefehlt hatten. Der Zyklus "Spätlese" ist eine ausführlich, schön, wortspielerisch, gelegentlich etwas redselig formulierte Kantate auf die Probleme des Alterns, des "Sich-selbst-Überlebens, des Respektiert-, aber nicht Geliebtseins, des Sterbenmüssens.

Krenek hat, und das will etwas heißen, sein durchaus polemisches Stück ohne jedes Selbstmitleid, ohne Anflüge von Sentimentalität gedichtet und komponiert. Das Werk spricht etwa die Tonsprache von Schönbergs Klavierkonzert Opus 42: also zugleich hochentwickelt, trotzdem verbindlich. An manchen Stellen, und zwar eindringlich beglaubigt vom Kontext, führt Krenek durchaus einleuchtend modernere Techniken ein: Er zupft die Klaviersaiten, er klopft ans Klavierholz. Dies wiederum in einem größeren Zusammenhang, der sich über forcierte Modernität mit Recht lustig macht. Auf die Frage: "War es dann wert, gelebt zu sein?" antwortet ruhig-melancholische Meditation. Und ein suchendes, manchmal auch findendes Parlando macht die Kantate zu einer zarten, empfindsamen, gewiß nicht umwerfend inspirierten Selbstaussage. Zu denken, daß der Komponist dieser Litanei einst mit "Jonny spielt auf" keß angefangen und später in Amerika mit gewagter Kammermusik neben den Allermodernsten sich behauptet hatte!

Da war es dann nicht leicht, sich die Gründe für die deftigen Buhs auszumalen, die dem 74jährigen Komponisten entgegenschlugen. Nahm man ihm den Tenor seines Werkes übel oder ein paar harmlos-modernistische Effekte, die in einem gängigen Liederabend ungewöhnlich sein mögen? Oder, dies die Vermutung eines Wiener Kollegen, ist es in München einfach unpopulär, eine Kantate über Wein statt über Bier vorzuführen? Immerhin: Starker Beifall dürfte die Ausführenden auch wieder entschädigt haben. Und vielleicht war dem Komponisten Krenek eine offene Pro-Kontra-Auseinandersetzung immer noch lieber als jener wegrückende Respekt, über den seine durchaus hörens- und wiederholenswerte Kantate doch gerade klagt.

Joachim Kaiser

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     Münchner Merkur, 24. Juli 1974     

Spätlese Marke Krenek

Dietrich Fischer-Dieskaus Münchner Festspiel-Liederabend

    

Sicherlich hätte sich so mancher im ausverkauften Herkulessaal ein anderes Programm gewünscht als ausschließlich Lieder von Schönberg, Webern und Krenek. Aber wenn Fischer-Dieskau lockt, folgen ihm selbst jene, die auf nähere Bekanntschaft mit neuerer Musik gemeinhin keinen sonderlichen Wert legen. Die Probe aufs Exempel hat der große Sänger oft gemacht, und zwar mit fast selbstverständlichem Erfolg.

Viele zeitgenössische Komponisten schulden Fischer-Dieskau Dank für seinen Einsatz. Ebenso aber auch ein Publikum, das durch ihn aus dem gewohnten Trott des Musiklebens gerissen und mit überraschenden Erlebnissphären konfrontiert wurde, die ihm zumindest zu denken gaben.

Daß Fischer-Dieskau wie kaum ein zweiter unter den Sängerstars zum Interpreten der Moderne berufen ist, bestätigte erneut sein Münchner Festspiel-Liederabend. Abgesehen von seiner souveränen Technik und hochintelligenten Gestaltung, ist es vor allem jene ihm eigene leidenschaftliche Intensität, mit der er jedes Lied nacherlebt und zu zündend spontaner Wirkung bringt.

Arnold Schönbergs frühe Lieder, leicht gebrochen bereits in ihren Reminiszenzen an spätromantische Gefühlsbereiche, wurden plastisch und lebendig im Wechsel sensibler und kraftvoller Artikulation. In Schönbergs Liedern aus dem späten Opus 48 grenzte Fischer-Dieskau die Ausdrucksskala stilgerecht ein auf ruhige Spannung, ebenso auch in Anton Weberns frühen und bereits zu aphoristischer Verdichtung ansetzenden Stefan-George-Vertonungen.

Wolfgang Sawallisch war in diesem ersten Teil des Abends der brillant und scharf pointierende Partner am Flügel, manchmal eine Spur zu vital im virtuosen Zugriff.

Nach der Pause übernahm Ernst Krenek die Begleiterrolle, um sein jüngstes Werk, einen sechsteiligen Liedzyklus unter dem Titel "Spätlese" zur Uraufführung zu bringen. Wie zumeist war Krenek auch diesmal sein eigener Textdichter.

Schwer atmend reihen sich seine Verse aneinander, bewegt von depressiven Regungen eines alten Mannes, der sich überlebt fühlt und von den Jüngeren in die Ecke gestoßen, der aber im Stillen doch auf eine späte Nachlese seiner Lebensernte hofft. Es klingt wie ein Nekrolog, den der heute 74jährige Ernst Krenek auf sich selbst geschrieben hat.

Resignierend auch seine Musik, fast rezitativisch in der Singstimme geführt und oft verzweifelt einzelne Worte stark unterstreichend. Der Klavierpart erinnert an Tendenzen der fünfziger Jahre, ausgerichtet auf schlagkräftige Untermalung, doch zumeist auf stereotype Floskeln beschränkt.

Fischer-Dieskau und der Komponist garantierten eine authentische Wiedergabe, die impulsive Bravorufe auslöste. Allerdings mit dem Effekt, daß sich die vom Werk weniger angesprochenen Besucher zu nicht minder lautstarken Buhrufen herausgefordert fühlten.

Helmut Lohmüller

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     Abendzeitung, München  24. Juli 1974     

Münchner Festspiele: Krenek-Uraufführung mit Fischer-Dieskau

Die Knaben machen kühnen Krach

    

Uraufführungen sind bei Festspielen selten, zumal in München, denn das Publikum möchte gerne an Bewährtem, an Kulinarischem schnuppern und sich nicht durch schlimme Neutönereien irritieren lassen. Eine Uraufführung von dem 74jährigen Ernst Krenek schien den Festspielinitiatoren offensichtlich gefahrlos, zumal Dietrich Fischer-Dieskau dafür einstand. "Spätlese" in sechs Teilen für Bariton und Klavier auf eigenen Text, 1973 komponiert, mit der Nr. 218 von Krenek versehen, der selbst am Klavier saß.

Buh-Rufe haben Krenek sein Leben lang begleitet, deshalb wird ihn der Lärm am Ende des Konzerts im Herkulessaal kaum beleidigt haben. Bitterer war schon, daß er, ein großer Mann der Musikgeschichte dieses Jahrhunderts, ausgerechnet von den Jungen abgekanzelt wurde. Bitter, weil man Zeuge eines Altersdramas wurde: Krenek stülpt in "Spätlese" sein Innerstes nach außen, bringt seine Erfolglosigkeit, seine Einsamkeit, das Gefühl sich überlebt zu haben, zur Sprache. Krenek, der "späte Gast", der zu den Jungen tritt, die "wild beim neuen Wein" hocken, der schließlich vom "zornigen Wein" vertrieben wird und den musikpolitischen Bannstrahl loszischen läßt: "Die Knaben machen kühnen Krach."

Krenek fragt sich hier in schlechten, weil penetranten Texten, ob nicht besser der "Vater sich doch bei den Huren verspritzt" und die Mutter einen "gierigen Krebs" gehabt hätte, als daß man geboren wäre. Zeile für Zeile ist sein Altersbekenntnis zu spüren: "Ich lese spät, und warte, warte ...".

Das hat etwas Rührendes an sich, und ich halte es auch für ziemlich sinnlos, einem 74-Jährigen reaktionäre Gesinnung vorzuhalten. Das ist alles nicht mehr von Wichtigkeit. Zumindest bei Krenek. Er saß versteinert am Klavier, spielte die sechs Teile seines Abgesangs mit Würde, führte über Dreiviertelstunden eine Musik vor, die von Akkord zu Akkord hüpft, dazwischen eingestreut viele unkontrollierte Arabesken, viel Illustratives.

Und Fischer-Dieskau, der vermutlich nicht mehr Nein sagen konnte, als er einmal Ja gesagt hatte, sang drohend, wenn von Unmut die Rede war, wie ein Einsamer, wenn Einsamkeit gemeint war – er färbte die Sache mit seinem unverwechselbaren Timbre, seiner meisterlichen Gestaltungskunst, die mitunter auch darin besteht, Ausdrucksarten wie Versatzstücke über die Takte zu legen.

Zum Glück blieb es nicht bei Krenek und den einleitend gesungenen Schönberg-Liedern: Die vier Stefan-George-Lieder von Webern, von Wolfgang Sawallisch sehr empfindsam begleitet, wogen alles auf.

Helmut Lesch

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     Bayerische Staatszeitung, 9. August 1974     

Glückliches Vergessen - Imagination "heile Welt"

Resümee eines Münchner Festspielsommers

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In andere Regionen führte der Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus (mit W. Sawallisch am Flügel). Was anderen mit einem halbleeren Saal schlecht bedankt würde: ein Programm mit Gesängen von Schönberg, Webern und Krenek - er durfte es bedenkenlos wagen. Ihm gelingt es auch, dem Spröden kantable Biegsamkeit, dem Bleichen Leuchtkraft zu geben und schwer Faßliches begreiflich zu machen. So wurde es nicht nur "interessant", von ihm eine Reihe meist früher, also keineswegs schwerverständlicher, aber in ihrer expressiven Intensität sehr bezeichnenden Gesänge von Schönberg zu hören sowie eine Gruppe von Stefan-George-Liedern Anton Weberns - melancholisch verdunkelte Beispiele einer allem Gewohnten entrückten lyrischen Eigenwelt. Deprimierend als Musik aus unzugänglichen Zonen freilich - trotz Fischer-Dieskau - der sechsteilige Zyklus "Spätlese" (1973) von Ernst Krenek: eine in Sprechgesang gefaßte, von Klavierklängen glossierend durchzuckte und umgaukelte Folge von resignierten und zornig-zweifelnden Betrachtungen aus den Erkenntnis-(Un-)Tiefen des Alters, verknüpft mit Worten über den zum Gleichnis gewordenen Wein (darum auch: "Spätlese"). Bewundernder Beifall für den großartigen Sänger, rauhe Buhs für den selbst begleitenden 74jährigen Dichter-Komponisten.

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Anton Würz

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     Mittelbayerische Zeitung, Regensburg, 25. Juli 1974     

M ü n c h n e r   F e s t s p i e l e

Orpheus ’74

Liederabende von Hermann Prey und Dietrich Fischer-Dieskau

    

Fans behaupten, zwischen den beiden deutschen Starbaritonen lägen Welten. Kunstwelten lagen diesmal zumindest zwischen ihren Liederabenden im Herkulessaal.

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Diametrales hatte Dietrich Fischer-Dieskau ausgewählt. Mit Wolfgang Sawallisch am Flügel gab er dem Festspielpublikum eine "Nachholstunde" über die "Wiener Schule": Acht Lieder von Arnold Schönberg, vier von Anton Webern. Bei Schönberg gab es den Weg von der Spättonalität zur freien Tonalität zu verfolgen, doch blieb unüberhörbar, daß außer deklamatorischer Intensität durch die neue Kompositionsart für das Liedschaffen nichts gewonnen wurde. Meist überwog eine Diskrepanz zwischen Text und Musik, nur gelegentlich kommt es zu einem musikalischen Gestus entsprechend dem Inhalt. Herb konsequenter sind Weberns Vertonungen von Stefan George-Gedichten: Hier wird die Künstlichkeit des Textes durch eine ebenso eigenwillige Tonsprache aufgegriffen.

Bei der Uraufführung von Ernst Kreneks "Spätlese"-Zyklus, mit dem Komponisten am Flügel, versuchte Dieskau mit der ihm eigenen Intensität, die Meditationen über Alter, Einsamkeit und den Trost des Weins zwingend zu gestalten; doch der sehr künstlich "modern" wirkende Klavierpart und Textkünstlichkeiten ließen den Eindruck aufkommen, daß dieser "Kunst-Wein" schon "umgeschlagen" ist. Buh für Krenek, Bravos für Dieskau.

Prey oder Dieskau? Nach den beiden Liederabenden muß es heißen: Schön, daß wir beide haben.

Wolf-Dieter Peter

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     Stuttgart Zeitung,  27. Juli 1974

Selbstmitleid und Selbstkritik

Die Münchner Uraufführung der Kantate "Spätlese" von Ernst Krenek

     

Das Ende war deprimierend. Das Publikum im ausverkauften Herkulessaal der Münchner Residenz kannte kein Erbarmen. Lautstark machte sich der aufgestaute Unmut Luft, und nicht einmal Dietrich Fischer-Dieskau , dem gefeierten Heros des deutschen Liedgesangs, gelang es, seine verärgerten Fans zu besänftigen. Ihm zur Seite das "Ärgernis": Ernst Krenek, dessen neuer, an diesem Abend uraufgeführter Zyklus "Spätlese", eine Art Kantate in sechs Teilen, das Echo ausgelöst hatte. Krenek, als Komponist der Oper "Jonny spielt auf" zu frühem Weltruhm gelangt, aber zeitlebens gewöhnt an derlei Resonanz, trug es mit Fassung. Mag sein, daß ihm in diesem Augenblick nachträglich doch gewisse Zweifel an der dramaturgischen Unfehlbarkeit seines Interpreten kamen. Ob es wirklich so klug war, ausgerechnet in der Bierstadt vom Wein zu singen?

Aber vielleicht steckte auch ein wenig Trost in dieser bitteren, nach enttäuschter Erwartung klingenden Abfuhr, denn Ernst Krenek, an diesem Abend auch als Klavierbegleiter in eigener Sache tätig, durfte sich wenigstens in der Gewißheit wiegen, am Ende nicht den Beifall der falschen Leute gefunden zu haben. Allzu leicht hätte es nämlich dahin kommen können, denn seine 1973 gekelterte "Spätlese" ist nicht zuletzt die zutiefst persönliche "Warnung" eines bedeutenden Zeitgenossen, nicht den kompositorischen Moden des Tages aufzusitzen. Krenek ironisiert die Avantgarde ("Die Knaben machen kühnen Krach"), aber er tut es beileibe nicht aus dem Blickwinkel konservativer Verstocktheit. Krenek bleibt sich selbst auch mit seiner "Spätlese" treu.

Insgesamt rund eine halbe Stunde lang, kennt sie, übersetzt in die Metaphorik der Weinlese, nur ein einziges, zyklisch umkreistes Thema: das Altern, das Sich-selbst-Überleben, das Vergessenwerden. Der "Späte Gast" und der "alte Wein", das ist Krenek selbst, hier der Mensch, dort das Werk, und jede Zeile des Textes, den er in seiner klaren, einprägsamen, oft suggestiven, an ihrer Gedankenfracht aber auch leidenden, manchmal bis hart an die Grenze der Banalität bildhaften Sprache geschrieben hat, ist gleichsam getränkt von der Enttäuschung und Resignation eines Musikers, der sich, von allen ungeliebt, abgeschoben wähnt ins Ausgedinge.

Einige wenige Stunden sind einfach nicht Distanz genug. Wert oder Unwert dieser schonungslos offenen, über alle Stadien des Verletztseins und der Vereinsamung (aber auch der Selbstgewißheit) schließlich in eine sehr schlichte Ergebung ("Ich lese spät, und warte, warte ...") mündende Autobiographie klar zu benennen. Vielleicht ist Kreneks Klage zu direkt, vielleicht steht einfach zu viel in, zu wenig zwischen seinen Zeilen, und diesen Zwiespalt vermag auch das rein Musikalische nicht ganz zu verscheuchen. Dabei ist Kreneks Musik durchaus nicht spröde, und gerade im Widerspiel mit den Liedern von Schönberg und Webern, die Fischer-Dieskau voranstellte, wird doppelt deutlich, daß die Stilwelt der "Wiener Schule" für ihn zeitlebens Ursprung und Ende geblieben ist.

Der Vokalsatz, auf maximale Wortdeutlichkeit hin ausgehört, ist plastisch und prägnant, aber auch gut singbar, die pianistische Begleitung ungemein vielschichtig, manchmal sogar ausgesprochen witzig, wenn Krenek ("Die Jungen hocken wild beim neuen Wein") den kühnen Krach der Knaben augenzwinkernd parodiert. Aber derselbe Witz schlägt unversehens um ins unfreiwillig Komische, wenn Krenek selbst sich des Neuen bedient, also munter in die Saiten greift, um die eine oder andere Stelle durch ein hübsches Glissando zu kolorieren.

Ernst Krenek, Jahrgang 1900, hat den Klavierpart – bei den fast durchwegs frühen Schönberg- und Webern-Liedern war Wolfgang Sawallisch der Begleiter gewesen – höchst kompetent gespielt, und Dietrich Fischer-Dieskau interpretierte die nicht ganz zur Auslese gediehene "Spätlese" mit seiner ganzen Vortragsintelligenz und mit seinem nach wie vor vergleichslosen Differenzierungsvermögen. Wenn ans Ende trotzdem ein Fragezeichen rückt, dann wohl darum, weil Krenek in diesem Opus 218 das Selbstmitleid ein wenig zu groß, die Selbstkritik dagegen ein bißchen zu klein geschrieben hat.

Gerhard Brunner

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     Weser-Kurier, Bremen 26. Juli 1974     

Meditation über Alter und Wein

Fischer-Dieskau verhalf Gesängen von Ernst Krenek zur Uraufführung

    

Schon seit längerer Zeit begnügt sich Dietrich Fischer-Dieskau nicht mehr mit den leicht zu erringenden Erfolgen romantischer Liedkunst. Die Attraktivität des großen Baritons sichert Neuschöpfungen oder auch Raritäten der Musikliteratur von vornherein die Aufmerksamkeit eines Publikums, das einfach den populären Sänger hören will, gleichgültig, wie sein Programm aussieht.

Im Rahmen der Münchner Opernfestspiele engagierte sich Dietrich Fischer-Dieskau jetzt für eine Uraufführung des 74jährigen Ernst Krenek, den Schöpfer dereinst sensationeller Opernerfolge wie "Jonny spielt auf" (1927) und radikalster Moderne aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Die Münchner Uraufführung galt seinem Liederzyklus "Spätlese", den Krenek 1973 nach eigenen Texten komponiert hat; ein sechsteiliger Gesang für Bariton und Klavier, resigniertes Resümee des Alternden über die Isolierung der späten Jahre, symbolische Wortspiele um Alter und Wein. Umständlich und gespreizt im Wortrhythmus der gebundenen Sprache, übte sich Krenek musikalisch überwiegend in lautmalerischer Deklamation, rezitatorisch, oft über einem Wort betont innehaltend.

Der Komponist saß selbst am Flügel, griff nicht nur in die Tasten, sondern schlug gelegentlich auch die Saiten im Inneren an, klopfte ans Holz und erinnerte dennoch im ganzen nur schwach an den extremen Künstler der zwanziger und dreißiger Jahre. Daß ihm am Schluß gellende Buhs entgegenschlugen, hatte er wohl nicht erwartet, da Fischer-Dieskau wie gewohnt am Ende seines Vortrags lautstarken Beifall erhielt. So massive Ablehnung einer Novität während der Münchner Opernfestspiele, wie jetzt im Herkulessaal bei Krenek, war bisher selten zu hören.

Vorher, bei frühen Liedern von Arnold Schönberg und Stefan-George-Liedern Anton Weberns, die Münchens Generalmusikdirektor Wolfgang Sawallisch am Flügel begleitete, hatte es dagegen starken Beifall gegeben.

Hans Lehmann

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     Wiesbadener Kurier, 1. August 1974     

Buhs für Krenek-Uraufführung

    

Schon seit längerer Zeit begnügt sich Dietrich Fischer-Dieskau nicht mehr mit den leicht zu erringenden Erfolgen romantischer Liedkunst. Nicht nur sein häufiger Begleiter am Klavier, Aribert Reimann, erhielt durch ihn die bestmöglichen Interpretationen seiner Lieder. Die Attraktivität des großen Baritons sichert Neuschöpfungen oder auch Raritäten der Musikliteratur von vornherein die Aufmerksamkeit eines Publikums, das einfach den populären Sänger hören will, gleichgültig, wie sein Programm aussieht.

Im Rahmen der Münchner Opernfestspiele setzte sich Dietrich Fischer-Dieskau jetzt für eine Uraufführung des 74jährigen Ernst Krenek ein, den Schöpfer dereinst sensationeller Opernerfolge wie "Jonny spielt auf" (1927) und radikalster Moderne aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Der Wiener Komponist und Schreker-Schüler Krenek emigrierte 1937 in die USA und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten, ein unglaublich produktiver Komponist aller Musiksparten. Er versuchte sich in den verschiedensten Stilen, vom tonalen Lied bis zu Jazz und Zwölftontechnik. Der Komponist war immer auch sein eigener Textdichter.

Die Münchner Uraufführung galt einem Lieder-Zyklus "Spätlese", den Krenek 1973, auch über eigenen Texten, komponiert hat; ein sechsteiliger Gesang für Bariton und Klavier, resigniertes Resümee des Alternden über die Isolierung der späten Jahre, symbolische Wortspiele um Alter und Wein. Umständlich und gespreizt im Wortrhythmus der gebundenen Sprache, übte sich Krenek musikalisch überwiegend in lautmalerischer Deklamation, rezitatorisch, oft über einem Wort betont innehaltend.

Der Komponist saß selbst am Flügel, griff nicht nur in die Tasten, sondern schlug gelegentlich auch die Saiten im Inneren an, klopfte ans Holz und erinnerte dennoch im ganzen nur schwach an den extremen Künstler der zwanziger und dreißiger Jahre. Daß ihm am Schluß gellende Buhs entgegenschlugen, hatte er wohl nicht erwartet, da Fischer-Dieskau wie gewohnt am Ende seines Vortrags lautstarken Beifall erhielt. So massive Ablehnung einer Novität während der Münchner Opernfestspiele wie jetzt im Herkulessaal bei Krenek war bisher selten zu hören.

Vorher bei frühen Liedern von Arnold Schönberg und Stefan-George-Liedern Anton Weberns, die Münchens Generalmusikdirektor Wolfgang Sawallisch am Flügel begleitete, hatte es dagegen starken Beifall gegeben.

Hans Lehmann

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     Schwäbische Zeitung, Leutkirch, 25. Juli 1974     

Buhs – bei Fischer-Dieskau

Die Liederabende der Münchner Opernfestspiele

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Dietrich Fischer-Dieskau, in den Münchner Opernfestspielen dieses Jahres vielseitig präsent (Falstaff, Don Fernando im "Fidelio" und im Vokalquartett der "Petite Messe Solennelle" von Rossini), setzte seine Gestaltungskunst ausschließlich für Lieder der großen Avantgardisten ein. Mit Wolfgang Sawallisch am Flügel sang er acht Lieder von Arnold Schönberg, fünf davon aus der frühen, noch tonalen Schaffensperiode des Komponisten, melodisch schöne, eingängige Gesänge nach Texten von Richard Dehmel, Julius Hart und Viktor Klemperer. Darauf drei der späten, gänzlich anders gearteten atonalen Tondichtungen nach Texten von Jakob Haringer und R.M. Rilke, die, wie die folgenden, im Stil ähnlichen vier Lieder von Anton Webern nach Gedichten von Stefan George, an das Publikum kaum zu bewältigende Anforderungen des musikalischen und geistigen Verständnisses stellten. Fischer-Dieskau zog dabei alle Register seiner mächtigen, umfangreichen und im Lyrischen so überaus weichen Wunderstimme, und es ist ihm besonders zu danken, daß er seine Attraktivität als Interpret auf dem Konzertpodium für so undankbare Werke der Moderne einsetzte, um das Verständnis in der Breite dadurch zu fördern.

Im zweiten Teil des Konzerts wurde ein Werk von Ernst Krenek uraufgeführt, mit dem Komponisten am Flügel; der Titel im Programm: "Spätlese" 1973 (auf eigene Texte) für Bariton und Klavier. Es ist eine sehr zwiespältige Komposition, epische, sich ins Philosophische verlierende Lieder in sechs Folgen von der Weinlese – Stimmungsbilder, Impressionen, dazwischen auch höchst unappetitliche, obszöne Sätze in realistischster Formulierung, wirres Zeug, das man entfernt mit Beckmessers entstelltem Preislied aus den "Meistersingern" vergleichen könnte. Ähnlich dem Text ist die Musik dazu unklar und wirkt manchmal fast etwas senil. Dem Sänger und seiner großen Vortragskunst zuliebe blieb das Publikum während der Darbietung gefaßt und gutwillig. Danach jedoch teilten sich die Gemüter, viele Besucher kamen ins Feixen, man wurde lustig und fidel wie den ganzen Abend vorher nicht, und in den Schlußapplaus mischte sich ein kräftig-gesundes Buhkonzert, dem Fischer-Dieskau gütig und belustigt, der betagte Komponist jedoch verstört begegnete.

Eckart Fricke

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     Die Welt, Hamburg, 24. Juli 1974     

Dieser Spätlese fehlt die Blume

Uraufführung von Ernst Kreneks Liederzyklus mit Dietrich Fischer-Dieskau in München

     

Man mag denken über diesen neuen Liederzyklus, was man will. Seinen Schöpfer, den 73jährigen Ernst Krenek, mit tumultuarischem Gebuhe abzuservieren, bleibt gleichwohl eine Ungezogenheit ohnegleichen, denn jeder im Saale musste spüren, dass hier ein großer alter Mann sein Innerstes bloßlegt und ohne Selbstschonung preisgibt; dass hier Werk und Autor gar nicht mehr zu trennen sind, persönlichste Probleme sich mitnichten zu objektivieren trachten. Ort des traurigen Geschehens der Herkulessaal der Residenz, Anlass die Münchner Festspiele, ein Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus, die Uraufführung der sechsteiligen "Spätlese", bei der der Komponist selbst am Klavier gesessen hat.

Bruchstücke einer großen Konfession, durchaus im goetheschen Sinne, sind viele Werke Kreneks – nicht zuletzt sein "Reisetagebuch aus den österreichischen Alpen" von 1929, mit dem er Schuberts "Winterreise" nachzuempfinden versuchte. Dieser Zyklus wird einer der großen Beiträge zum Lied in unserem Jahrhundert bleiben, der neue hingegen wird es kaum werden. "Lyrisch diskutieren" hat Krenek die Methode seines Reisetagebuches genannt. Es ist auch die der "Spätlese" von 1973.

Diskutiert wird in ihr über die Position des Künstlers Krenek in dieser Welt, die den Namen dieses Komponisten seit längerem höher schätzt als seine Werke: "Er ist geehrt, doch unbegehrt"; "abgeschafft ins Pantheon, degradiert zur Unperson". Diskutiert wird, vom quellenden, verquollenen Symbol, von Weinlese und Weingenuss ausschreitend, über das Generationsproblem, den Gegensatz zwischen den (natürlich jungen) Alten und den (natürlich alten) Jungen, diskutiert wird vom Leben angesichts des Todes.

Doch das Gegenteil von Altersweisheit, von sublimierter Lebenserfahrung tönt aus diesen Versen, nimmt man ein paar versöhnliche Wendungen am Schluss einmal aus. Die Gewalt und die Ohnmacht des Zorns brechen aus diesen Texten heraus; der Gehetzte drang, sich wenigstens selbst zu bestätigen, wenn die Bestätigung der anderen schon ausbleibt; grimmiger, verhärteter Humor; sentimentalisches Selbstmitleid; die schiere Verzweiflung; der rasende Aufruhr dessen, der am liebsten nicht geboren wäre. Vermutlich ist die seelische Verfassung, in der Krenek dies niederschrieb, so fern gar nicht der Bernd Alois Zimmermanns, als er sein letztes Werk "Ich wandte mich..." komponierte. Doch wie sehr ist da ins Allgemeine, ins Gültige gewendet, was hier so sehr privat bleibt. Krenek prüfe sich in einer ruhigen Stunde: Hat er diese "Spätlese" wirklich für ein Publikum, hat er sie nicht vielmehr allein für sich selbst geschrieben?

Wie die Worte, so kochen auch die Noten über. Wilde Akkordierungen des präludierenden Klaviers künden schon einleitend die ausladende, aufgeregte Gestik dieser langwierigen Lieder. Die Singstimme, oft aus dem Sprechgesang sich konstituierend, hat kühne Sprünge zu wagen, unversehens Töne zu halten, zum Text seltsam querstehende, scheinbar sinnwidrige Betonungen zu setzen, gelegentlich genüsslich illustrierende Lautmalereien auszukosten. Abrupte Tempobeschleunigungen oft zum Ende eines Textsatzes haben den Charakter des Verbissenen, Insistierenden. Der Pianist muss gelegentlich ins Instrument hineingreifen, die Saiten anreißen. Außer der Attitüde des Modernen führt dies der Komposition nichts, aber auch gar nichts zu.

Kreneks Gesänge auf George-Lieder von Webern folgen zu lassen ist ein riskantes Unterfangen, zeigt solche unmittelbare Nachbarschaft zu knappster, dichtester Formulierung doch nur zu genau, wie wenig äußere Aufwendigkeit und substantieller Ertrag sich bei Kreneks spätem Opus auf einen Nenner bringen lassen. Immerhin, für seine Uraufführung Fischer-Dieskau gewonnen zu haben bedeutet den Glücksfall nicht allein der werkgerechten, sondern der idealen, die Vorlage noch stärkenden Interpretation.

Fischer-Dieskau nämlich gibt den Gesängen jene Größe und Würde, die man an ihren Seelenoffenbarungen so sehr vermisst, lotet dabei Gedanke für Gedanke, Wendung für Wendung, Brechung für Brechung genau aus, weiß aus seiner Stimme die verschiedensten Stimmcharaktere zu entbinden. Das Wunder Fischer-Dieskau übrigens manifestiert sich in diesem Konzert der Festspiele zu München, dessen ersten Programmblock Wolfgang Sawallisch begleitete, doch in einem ganz äußerlichen Sinne. Er kann es heute wagen, einen Liederabend anzusetzen, in dem Schönberg als der Klassiker, der Altvater des Programms figuriert, und dennoch ist der Saal bis auf den letzten Notplatz verkauft, sobald die Kassen sich öffnen. Kein Liedersänger neben ihm vermöchte das heute.

Peter Dannenberg

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     tz, München, 24. Juli 1974     

Dieskaus Liederabend

    

Wem noch – ausgenommen Dietrich Fischer-Dieskau – kann es gelingen, einen Liederabend ausschließlich mit Werken Schönbergs, Weberns und Kreneks während der Festspiele zu geben und dabei einen bis zum letzten Steh- und Podiumsplatz ausverkauften Herkulessaal zu haben? Der erste Programmteil rechtfertigte den Andrang. Fischer-Dieskau konnte mit Wolfgang Sawallisch am Flügel auf gleicher Ebene musizieren.

Schönberg wurde in "Erwartung" op.2 Nr.1 zunächst als Spätromantiker vorgestellt. Im "Traumleben" op.6 Nr.1 konnte Fischer-Dieskau in besonderer Weise durch die phänomenale Beherrschung stimmlicher Schattierungen der musikalischen und poetischen Substanz gerecht werden. In "Sommermüd" op.48 Nr.1 begegnen wir dann einem Schönberg der Übergangszeit, der Klavierpart wird objektiviert, der Versuch der Abstraktion führt zu einer Diskrepanz zwischen Textinhalt und musikalischer Aussage.

Erst bei Anton Weberns vier Liedern nach Gedichten von Stefan George stimmte wieder alles zusammen. Ich glaube, dass man das Lied "Kunfttag I" heute nicht vollkommener hören kann als in der Wiedergabe von Fischer-Dieskau plus Sawallisch.

Dann betrat der Komponist Ernst Krenek das Podium, um Fischer-Dieskau bei der Uraufführung seiner "Spätlese" (1973) zu begleiten. Diese "Spätlese" stellte sich schnell als eine Spätlese aus den Fortschritten der "Neuen Wiener Schule" heraus, ohne deren kreative Originalität. Hier suchte ein betagter Mann krampfhaft nach dem Anschluss an die Avantgarde. In den Texten – von eigener Hand – mischt sich philosophisches Einerlei mit Altersresignation. "Spätschreibe, verlacht als schnödes Nachbild schneller Gegenwart ....", wie wahr. Und vor Sätzen wie "Der Schreiber hat sich überlebt" sollte man sich als Autor hüten! Heftige Buhrufe für Krenek mischten sich in den Beifall.

Karl-Robert Danler

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     Basler Nachrichten, 27. August 1974     

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

   

Was auch immer Dietrich Fischer-Dieskau in die Finger, respektive in die Kehle nimmt, empfängt den Stempel seiner unverwechselbaren, starken Persönlichkeit, seiner hohen Gesangskultur und seiner faszinierenden Gestaltungskraft, die auch weit auseinander liegenden Stilen gerecht zu werden vermag. Er ist im Konzertsaal wie auf der Bühne gleich überragend. Für seinen Luzerner Liederabend hatte er sich ganz auf die Zweite Wiener Schule (mit Einschluss Kreneks) konzentriert und damit auch schon gleich den Zuhörerkreis limitiert. So war der Kunsthaussaal am Sonntagabend nicht vollbesetzt, denn es war ein anspruchsvolles Programm, das aber sehr starke Eindrücke hinterliess. Besondere Akzente erhielt das Konzert durch die Mitwirkung zweier Komponisten: Aribert Reimann, der Fischer-Dieskau häufig begleitet und ihm diesmal in den Werken von Schönberg und Webern sekundierte, und Ernst Krenek, der seinen eigenen Klavierpart in der "Spätlese" ausführte. Das war ein ganz besonderes Erlebnis.

In Umstellung der ursprünglichen Programmfolge wurden zuerst Lieder und Balladen von Schönberg vorgetragen. Sie waren alle – mit Ausnahme von op. 48 - Liederzyklen entnommen, die zwischen 1899 und 1908 entstanden sind. Es handelte sich um op. 2 (1899), op. 3 (1899), op. 6 (1903), op. 12 (1907) und um ein ohne Opuszahl 1908 veröffentlichtes Rilke-Lied. Sie zeichnen sich alle durch spätromantische Expressivität und starke Stimmungshaftigkeit aus, die in den wichtigen Nachspielen des Klaviers ausschwingt. Hervorgehoben seien die kriegerische Ballade "Der verlorene Haufen" aus op. 12, das verhalten lyrische "Traumleben" und das dramatische "Verlassen" aus op. 6 und die beiden Proben aus op. 48 ("Sommermüd" und "Tot"). Es sind die letzten Kompositionen, die Schönberg 1933 in Berlin vollendet hat, die aber erst 1952 (unter der hohen Opuszahl) in den USA veröffentlicht worden sind. Sie sind von zarter, ausdrucksvoller Melodik und transparenter Begleitung und erinnern – trotz Formung nach der Zwölftonmethode – öfters an Vokalwerke der Frühzeit.

Viel anspruchsvollere und wesentlichere Texte hat Anton Webern in vier Liedern nach Gedichten von Stefan George 1908/09 vertont. Sie waren ursprünglich für die beiden George-Zyklen op. 3 und 4 bestimmt, sind aber dann lange Zeit ungedruckt geblieben. Sie sind stark in der lyrischen Aussage und unterscheiden sich infolge Fehlens jeglicher Traditionsbezogenheit von den gleichzeitigen Schönberg-Liedern. Eine kantable Singstimme verläuft über einem durchsichtigen, durchaus klaviermässigen Klaviersatz mit Akkordfundament-Funktion. Die Lieder sind formal knapp und verhalten im Ausdruck.

Nach der Pause brachte Dietrich Fischer-Dieskau mit Ernst Krenek am Klavier dessen Zyklus "Spätlese" 1973 (auf eigene Texte) in sechs Teilen für Bariton und Klavier, O. Nr. 218, zur Erstaufführung in der Schweiz. In den wortspielerischen Texten tritt die ganze geistreiche, lebendige und schillernde Persönlichkeit Kreneks in Erscheinung. Ausgehend von der Spätlese des Weins wird ganz allgemein über Charakter und Schicksal der Spätwerke meditiert, trotzig, verzweifelt, resigniert, sarkastisch und noch in vielen anderen Gemütszuständen und zuletzt wieder im Weine Trost gefunden. Der sprachliche Ausdruck ist höchst farbig und bildhaft, teilweise gereimt und nicht selten abstossend drastisch. Der Text wird von der Musik getragen und illustriert, wobei Krenek auch zu Clustern und mit Hand und Plektrum in die Saiten des Flügels greift. Es ist ein Part, der durch ihn lebt und den wohl niemand sonst so auszuführen versteht. Das gilt auch für Fischer-Dieskau, der die wechselnden Stimmungen und Schattierungen vollendet trifft und kein einziges Wort unter den Tisch fallen lässt. Man mag dieses Werk Kreneks goutieren oder geschmacklos finden, der Vortrag durch den Meistersänger und den Komponisten wurde zum Erlebnis. Beiden wurde begeistert und langdauernd applaudiert.

Albert Müry

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