Zum Konzert am 21. Juni 1974 in Nürnberg


    

     Bayern-Kurier, München, 6. Juli 1974     

Viel Festival und nicht sehr fromm

Menuhin und Fischer-Dieskau bei der 23. Internationalen Orgelwoche

     

Drei attraktive Eckpfeiler sollten die 23. Internationale Orgelwoche in Nürnberg tragen: Yehudi Menuhin - als Dirigent und Solist seines Festival-Orchesters beim Kammerkonzert in der Meistersingerhalle; Dietrich Fischer-Dieskau - Titelpartie in Franz Liszts Oratorium "Christus" mit Chor und Orchester des Opernhauses unter Ljubomir Romansky; Chorkonzert der Solisten der O.R.T.F. aus Paris unter Marcel Couraud in St. Sebald. Es erwies sich ziemlich deutlich, daß sich das Entscheidende dieser Orgelwoche doch wohl jenseits dieser glanzvollen Pole vollzog, weil diese Woche ja immer noch unter dem Titel "Musica Sacra" steht, der geistliche Ertrag der drei Eckpfeiler aber den beträchtlichen Aufwand schwerlich gelohnt haben dürfte.

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Dieskau war ein bißchen zu manieriert bemüht, der Christus-Partie bei Liszt Profil zu geben, ohne daß es ihm gelungen wäre, mit stimmlicher Faszination dem Werk mehr als einen Achtungserfolg zu sichern. Bekenntnismusik gewiß, aber in einer gefühlsüberladenen und von viel Überschwang bedrängten Art, die kaum angetan ist, Hörer in dies Bekenntnis mithineinzuzwingen.

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Klaus Martin Wiese

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     Nürnberger Nachrichten, 24. Juni 1974     

Bombastische Bibelvertonung

Abschluß der Internationalen Orgelwoche Nürnberg:
Liszts "Christus"-Oratorium und der Improvisations-Wettbewerb

   

Durch die Ausgrabung einer musikalischen Monumentalfigur bekam die Orgelwoche gegen Ende einen Schwerpunkt mit historischem Übergewicht. Trotzdem: die Erstaufführung des Liszt-Oratoriums erstarrte nicht zur restaurativen "Schau-heimwärts-Engel"-Pose. Die als Orgelwochenbeitrag der Philharmonischen Konzerte vorgeführte Wandlung des Virtuosen-Saulus Liszt zum Kirchenmusik-Paulus erzeugte fast eine ähnliche Reaktionsmischung wie moderne Musik: Ratlosigkeit, Ablehnung, Begeisterung. Das im Original fast vierstündige Versöhnungsfest eines exzentrischen Genies mit seiner religiösen Innenwelt bringt eine schwer definierbare Mischung aus Klangweihrauch und Stilaskese in die nüchterne Gegenwart. Der Klavierhexer, der in Rom die niederen Weihen nahm, versucht da, auf hoher Künstlerebene katholischen Cäcilianismus und spätromantisches Orchesterraffinement zum heiligen Musikbund zu einen.

Befremden und Faszination begleiten diesen Versuch eines katholischen "Messias". Man möchte über die knallige Bombastik des symphonischen Dichters die Nase rümpfen, wenn er nach bester Klavierlöwen-Manier Klangstürme entfesselt oder Jesus in Jerusalem einziehen läßt wie die Sänger des Schwiegersohnes Wagner in die Wartburg; vor der einfachen Größe aber muß man sich geschlagen geben, mit der ein fromm gewordener Klaviertriumphator die himmlischen Seligkeiten besingt, sich über hymnischen Terzverwandtschaften dem Paradies der reinen Töne nähert. Den Stempel der spätromantischen Gigantomanie, den Liszts Riesenepos durch die bewußt ausgedünnten Strukturen besonders schmerzlich auf der Stirn trägt, brachte die Nürnberger Aufführung fast zum Verschwinden. Das mit einer Unzahl von größeren und kleineren Strichen auf überschaubares Format gebrachte Kolossalgemälde zeichnete der Gastdirigent Ljubomir Romansky zügig nach.

Was der Liszt-Kenner aus Gelsenkirchen dabei vor allem anfangs an intensiver Stimmungsmalerei verschenkte, gewann er durch Konzentrierung der allzu weitschweifigen Verzückungen zurück. In einer diesmal überzeugenden dirigentischen Konsequenz befreite er die zwischen Gregorianik und Trivialität schweifende melodische Substanz von der sentimentalen Penetranz, baute dafür die großen symphonischen Blöcke mit wuchtigen Akzenten zur bombastischen biblischen Szenerie auf. Großartiges Klangmaterial dafür lieferten das mächtig und subtil ausspielende Philharmonische Orchester und Adam Rauhs mehrfach verstärkter Chor, der mit einer Glanzleistung an üppigem Stimmschwelgen auch einige vernebelte A-capella-Stellen überdeckte.

Zwei der 13 Tonbilder aber erschienen wie auf ein Sonderpodest gestellt: Dietrich Fischer-Dieskau sang die Christusworte als überwältigende lyrische Verkündigung. Dem voll engagierten Spitzensängerstar gelangen unentwegt Vorstöße durch die weiche, auch weichliche Klangoberfläche ins religiöse Zentrum des "Christus"-Tryllichons. Imponierend, wie sich daneben das Soloquartett mit Maria de Francesca, Aili Purtonen, Soto Papulkas und Heinz-Klaus Ecker behauptete. Das ohne Text und Nummerntitel ins unbekannte Oratoriengebiet geschickte Publikum mußte sich an den schönen Schein halten oder sich verirren. Einen kleinen Teil der Orientierungshilfe für Zimmermanns "Soldaten" hätte auch der Gottsucher Liszt verdient.

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Willi Wörthmüller

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     Mittelbayerische Zeitung, Regensburg, 24. Juni 1974     

In Nürnberg

Liszts "Christus"

Zwiespältige Eindrücke vom "Messias des 19. Jahrhunderts"

   

Der höchst beträchtliche Aufwand - Solisten-Quintett, großer Chor, Knabenchor, großes Orchester, Orgel - habe verhindert, daß sich das Werk im Musikleben "etabliere"; und eben weil es nicht etabliert sei, hätten sich Stardirigenten des Werks nicht angenommen - dieses Urteil, das sich im 20. Jahrhundert über Liszts zweites Oratorium gebildet hat, konnte durch eine Aufführung in der "Meistersingerhalle" überprüft werden.

Zunächst gab es die vielfältige Architektur des Werkes zu bestaunen. In den drei Teilen - Weihnachtsoratorium, Nach Epiphania, Passion und Auferstehung - hat Liszt Bibel- und Missale-Texte mit Orchesterbegleitung, reine Instrumentalsätze sowie Chorsätze mit Orgel vereint zu einem vielgestaltigen und vielfarbigen Klanggebäude, das vom Leben und der Wirkung Christi Bekenntnis ablegen soll. So wird Material aus der Gregorianik, der Hymnenliteratur, der Neuromantik, aber auch Chromatik und ungarische Melodik verwendet. Tiefes Werkverständnis und breite Kenntnisse sind also zur Interpretation erforderlich. Dem Gelsenkirchener Gastdirigenten Ljubomir Romansky war die verständnisvolle Liebe zum Werk deutlich anzumerken. Eben darum fehlte die Dimension kritischer Neudurchdringung über weite Strecken. Es gab viel ungebrochene, anheimelnd populär klingende Musik mit "süßer" Harmonik und herausgestellter Homophonie zu hören - alles "unaufgerauht". Und den großen Eruptionen, etwa der "Gründung der Kirche", der Gethsemane-"Tonszene" und dem Schlußtableau fehlten Feuer, Überschwang, Inbrunst. Ob im tadellos singenden Chor (Einstudierung: Adam Rauh), im Orchester und im Solistenquartett, von dem nur der runde Baß Heinz-Klaus Eckers überzeugte, die Kräfte für die tags darauf folgende Zweitaufführung geschont wurden?

Dennoch besaß die Aufführung einige überwältigende, bestürzend moderne Teile: Dietrich Fischer-Dieskau sang den Christus - und die Ausdeutungsbesessenheit dieses Intelligenzsängers erschloß einiges, was im Werk zu finden wäre: die "Seligpreisungen" der Bergpredigt gerieten nicht zu beglückender Verheißung, sondern in das verklärte Wissen um Jenseitiges ließ Dieskau tiefe diesseitige Leiderfahrung einfließen, alle Affirmation blieb dem Chor überlassen; die Christus-Klage besaß alle Versenkung und Vereinsamung. Dieskaus Interpretation zeigte den Weg, auf dem Liszts "Christus" zu entdecken wäre.

Wolf-Dieter Peter

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     Nordbayerischer Kurier, Bayreuth, 25. Juni 1974    

Der Messias des vergangenen Jahrhunderts

Franz Liszts Oratorium "Christus" bei der Internationalen Orgelwoche in Nürnberg

   

In klösterlichem Exercitium von Rom und voll guten Glaubens, ein für die Kirchenpraxis nützliches Werk zu verrichten, komponierte Franz Liszt sein Oratorium "Christus". Aber die Kirchenpraxis machte keinen Gebrauch davon. Die ihm zugetanen Komponisten, vor allem Berlioz, verstanden Liszt nicht mehr und verbreiteten die Meinung, daß dem Abbé jetzt wohl die schöpferische Potenz ausgegangen sei. Nur Richard Wagner, der bei der Uraufführung in Weimar dabei war, hat genau aufgepaßt, was man an verschiedenen Stellen des "Parsifal" erkennt.

Im Gegensatz zur "Legende von der heiligen Elisabeth" hatte es der "Christus" von Anfang an schwer gehabt. Und heute, wo man den späten Liszt entdeckt hat, seine auf den jungen Bartok einwirkende Harmonik, gehört dieses Oratorium immer noch zu den unbekannten Werken. Bei der Internationalen Orgelwoche Nürnberg war nun dieser vergessene "Christus" ein gewaltiger Kontrapunkt in der Vielstimmigkeit des Gesamtprogramms.

Die Aufführung in der Meistersingerhalle unter Ljubomir Romansky, mit dem Philharmonischen Orchester und Chor sowie Extrachor des Opernhauses, konnte natürlich nicht kaschieren, daß es auch werkimmanente Gründe für das Schattendasein des "Christus" gibt. Liszt saß beim Komponieren zwischen verschiedenen Stühlen, hatte "Romeo und Julia" von Berlioz als Vorbild für die Gesamtanlage vor Augen, entnahm seine Themen oft der Gregorianik und der Hymnenliteratur, stellte reine Instrumentalsätze großen Formats reinen Chorsätzen mit Orgelbegleitung gegenüber und sequenziert in den Durchführungsteilen bis an die Grenze des Erlaubten.

Ljubomir Romansky brachte den Vorteil eines Dirigenten mit, der auch mit Liebe und Sorgfalt Chorarbeit leistet. Er gilt ohnehin als der Wiedererwecker des "Christus", seit er vor vier Jahren dieses Werk mit der Frankfurter Singakademie einstudiert hatte und es bei mehreren attraktiven Anlässen aufführte. Die Chöre waren in Nürnberg deshalb so hervorragend präpariert, weil Dr. Adam Rauh, der Chordirektor des Opernhauses, mit demselben Engagement für dieses Oratorium Liszts zu Werk ging wie Romansky, so daß ein Glücksfall des intentiösen Zusammenklangs unter den musikalisch regulierenden Kräften erreicht wurde.

Das Orchester kann nicht im Furioso brillieren. Das Äußerliche, wie es der Musik Liszts so gern angekreidet wird, ist völlig eliminiert. Die Tonsprache ist erfüllt von echter Gläubigkeit, verlangt nach instrumentaler Schlichtheit, denn nur in seinen Kirchenkompositionen wird es offenbar, daß Franz Liszt im Grund seines Wesens zeitlebens ein Mystiker gewesen ist. Ljubomir Romansky waltete auch dem Orchestralen gegenüber souverän und phantasievoll genug, um an keiner Stelle unangebrachte Pastoral- oder Passionssentimentalität aufkommen zu lassen.

Die Christus-Partie sang Dietrich Fischer-Dieskau: Wie zu erwarten, hochintellektuell, packend expressiv im großen Monolog "Tristis est anima mea", überlegen in der Deklamation und unpathetisch in Ernst und Würde.

Der Eindruck der Nürnberger Aufführung zeigte, daß sich dieser "Christus" in seinen musikalischen und geistigen Dimensionen dem Konzert-Alltag entzieht. Aber für den besonderen Anlaß wäre er öfter hervorzuholen, als es bisher geschah.

-wbr-

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     Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Hamburg, 7. Juli 1974    

Orgel-Spiel

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Heimlicher Gewinner dieser Orgelwoche war [...] Franz Liszt: Die Aufführung seines Oratoriums "Christus" - mit Dietrich Fischer-Dieskau als Interpreten der Titelfigur - wurde zum bejubelten Höhepunkt.

R. W.

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