Zum Liederabend am 24. September 1973 in Berlin


     Der Tagesspiegel, Berlin,  26. September 1973     

Immer wieder Schubert

Dietrich Fischer-Dieskau in der Philharmonie

     

Nach oder neben Hertha Klust, Gerald Moore, Aribert Reimann, Jörg Demus, Svjatoslav Richter, Daniel Barenboim und anderen hat sich Dietrich Fischer-Dieskau als Lied-Interpret nun Christoph Eschenbach zum Klavierpartner gewählt: der kammermusikalisch anregende Reiz solchen Wechsels gehört zum geistigen Programm des Sängers.

Der junge Pianist Eschenbach, der sich zumal als Henze-Interpret glücklich eingeführt hat, geht auch hier von der Macht des Steinway aus. Das bedeutet zunächst klangliche Sensibilität, jedoch ohne die klare, spezifisch Schubertsche Anmut: etwa Pedalnebel beim "Atlas", eher Zufallhaftes im Kontakt mit dem Sänger bei den Unisono-Punktierungen des Heine-Liedes "Ihr Bild". Merkwürdig aber, wie sich beide Musiker im Verlauf des Abends aneinander orientierten, wie schön sich zum Beispiel in dem Goethe-Lied "An den Mond" die Begleitung der Gesangslinie anschmiegte; Eschenbach gab dem gemeinsamen Musizieren insgesamt weniger Prägnanz als Farbe.

Immer wieder Schubert: ein Terrain wie kein anderer zu beherrschen, heißt für Fischer-Dieskau nicht damit fertig sein. Von den Heine-Liedern aus dem "Schwanengesang" (vor denen die Rellstab-Lieder aus dem gleichen pluralistischen Zyklus ohnehin verblassen) spannte er den Bogen zu einer Gruppe von Goethe-Liedern über ein halbes Dutzend Vertonungen jener romantischen Kleindichter, deren Verbreitung dem Autor eines umfänglichen Schubert-Buches seit je am Herzen liegt. "Der Wanderer"", "Über Wildemann", "Das Zügenglöcklein", "Der Einsame": die Vortragsfolge brachte ein allmähliches Aufhellen der Nachtseite der Natur bis zum liebevoll und gleichzeitig höchst artifiziell ausgepinselten Genrebild von dem Zufriedenen in seiner "Klause eng und klein".

Gelassenheit fällt auf: Fischer-Dieskaus Schubert-Interpretation scheint sich zum rein Musikalischen hin zu objektivieren. "Der Doppelgänger" ist weniger als früher das Drama eines gespaltenen Ichs, der Ausbruch sublimierter, auch im Lied "Die Stadt"; die Heinesche Ironie beim "Fischermädchen" in der letzten Strophe – "...und manche schöne Perle in seiner Tiefe ruht" – wird nur leise angedeutet. Stimmliche Probleme müssen nun schon mitbedacht werden, ohne dass sie die Gestaltung diktierten. Das Timbre besticht im Piano wie je durch seine Individualität. Mit der Atemführung darf noch immer ein interpretatorischer Kult getrieben werden, der fasziniert, weil er im Dienst der Sinnzusammenhänge steht.

Auf "Prometheus", den Skeptiker und Rebellen gegen Zeus, folgte zum Schluss der beschwingte "Musensohn": zwei Charaktere aus Goethe-Schubertschem Geist, die Fischer-Dieskau so keiner nachsingt. Das Auditorium in der ausverkauften Philharmonie lag dem Sänger sozusagen zu Füßen und wurde reichlich mit Zugaben beschenkt.

S. M.

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     Die Welt, Berlin-West,  26. September 1973     

Spontaneität mit Bremswirkung

Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Christoph Eschenbach, sang Schubert-Lieder in der Philharmonie

   

Manchmal mag sich Dietrich Fischer-Dieskau wie der Atlas fühlen, der eine Welt, die ganze Welt des Liedes, zu tragen hat. Mit Heinrich Heines "Der Atlas" eröffnete der Sänger denn auch seinen einzig Schubert gewidmeten Liederabend in der bis auf wenige Plätze randvollen Philharmonie.

Als Begleiter am Klavier hatte sich ihm diesmal Christoph Eschenbach zugesellt – zur Feier des Ereignisses sogar heimgekehrt in den sonst doch vom jungen Deutschland verpönten Frack. Wie um dennoch dem gemeinsamen Musizieren Intimität zu bewahren, verzichtete Eschenbach jedoch auf den sonst bei Liederabenden üblichen Dritten im Bunde: den Notenumblätterer. Dessen Geschäft übernahm mit fliegender Hand Eschenbach selbst.

Um es vorwegzunehmen: Eschenbach spielte großartig. Gleich mit den ersten Takten des ersten Liedes, der beinahe symphonischen Wucht, die Schuberts "Der Atlas" eröffnet, warf sich Eschenbach in eine elektrisierende Exegese hinein. Sein Spiel hielt bis zum Schluss die Spannungen durch, die Schuberts Lieder wechselnd türmen und abbauen. Der augenzwinkernden Begleitung zu "Der Einsame" mit ihrem vergnüglichen, insistierenden Rhythmus gewann er entzückende Grazie ab, die düsteren Energien des "Erlkönigs" rollten beinahe schon erbittert hervor. Kraft und Größe gewann sich Eschenbachs Spiel, eine Bildhaftigkeit, die hinter der des singenden Interpreten keinen Augenblick zurückstand, im Gegenteil sie zu inspirieren, zu steigern, zu verlebendigen suchte.

Es war von jeher Fischer-Dieskaus Lust, mit wechselnden Partnern zu musizieren, sich also nicht auf einen einzigen Begleiter zu stützen und dies bis zur inneren Ermattung. Wahrscheinlich hat dieser häufige Austausch, der schließlich ja auch ein geistig-künstlerischer ist, Fischer-Dieskaus Interpretationen frisch erhalten, sie durch immer neue Auseinandersetzungen getrieben, den tödlichen Zubiss der Routine abgewehrt.

Dabei nahm Fischer-Dieskau sicherlich willig in Kauf, dass es mit der Kongenialität seiner Partner dennoch nicht immer zum besten stand. Nicht jeder erwies sich beim Begleiten als ein anderer Svjatoslav Richter, Tamas Vasaris Spiel neigte zur Blässlichkeit, Barenboim mischte Grandioses immer wieder mit einer musikalischen Verständnislosigkeit, die auswies, dass er vielen Liedern und vielen Liedmeistern eigentlich innerlich fernstand. In Eschenbach aber hat Fischer-Dieskau nun einen echten Mitspieler gefunden: einen gestaltungsmächtigen und gestaltungsfreudigen Partner, dessen Phantasie sich der des Sängers als ebenbürtig erwies.

Eschenbach reizt das Miniaturhafte des Klavierparts der Schubert-Lieder voll aus. Die merkwürdig impressionistischen Nebelklänge, die Schuberts "Die Stadt" durchstreichen, erhalten geisterhafte Irrealität. Das betont ruhige Tempo, das Eschenbach für die ersten Zeilen des Liedes "Ihr Bild" wählt, im selben Liede die Kunst, mit wenigen Akkorden das Klavier gewissermaßen dem Sänger nachhorchen zu lassen, den Aufbau des Selbstquälerischen und der Bitternisse in den späten Heine-Liedern Schuberts: das alles geht Eschenbach mit außerordentlicher Intensität von der Hand. Er spielt glänzend, eindringlich, poetisch, mit selbstverständlicher, großer Technik. Aber er spielt sich nicht aufsässig und ichbezogen in den Vordergrund. Er sprengt nie die Partnerschaft.

Etwas überrascht freilich durfte man sein, Fischer-Dieskau weniger als erwartet von ihr profitieren zu sehen. Von Schuld kann dabei keine Rede sein, weder auf Fischer-Dieskaus noch auf Eschenbachs Seite. Es stellte sich nur leider sehr bald heraus, dass Fischer-Dieskau stimmlich nicht disponiert war, jene unvergleichlichen und nur ihm zugänglichen Wirkungen zu ersingen, die er oft und oft geradezu mit spielerischer Leichtigkeit ausgebreitet hat. Diesmal entzogen sie sich ihm, vor allem im ersten Teil des Konzerts, wiederholt.

Es blieb bei großartigen Anläufen. Aber den Abschwung in diese beklemmenden Schwebezustände der Interpretation, da die von Fischer-Dieskau regierten Lieder im Raum stehen zu bleiben scheinen, an ihren Nachklang, an ihre Vollkommenheit verloren, fand der Sänger diesmal nur selten. Die Leichtigkeit des Mezza voce in "Am Meer" trat nicht unangefochten zutage, wiederholt meldete sich eine gewisse Rissigkeit der Stimme in der hohen Lage – alles Dinge, die Fischer-Dieskau natürlich zu übersingen weiß, die aber seine Aufmerksamkeit doch auf stimmtechnische Probleme abziehen und damit Bremswirkung auf seine Spontaneität üben. Es setzte viel bedachtsames Singen statt interpretatorischen Feuers.

Erst mit den Goethe-Liedern des Schlussteils, den großen, gewitternden Liedergüssen Schuberts hatte sich Fischer-Dieskau die Freiheit ersungen, über die er sonst von Anfang verfügt. Das kam der "Meeres Stille" ebenso zugute wie dem "Musensohn" und dem ganz und gar entzückenden, vom Sänger und seinem Pianisten in idealer Gemeinschaft erstellten Stück "An Silvia" – der Verklärung des Liedes durch höchst einträchtigen Charme. Eine Wundertat. Köstlichste Minuten. Das Publikum, allerdings nicht erst hier vor Glück aus dem Häuschen, feierte beide Künstler mit vereinter Kraft.

Klaus Geitel

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     B. Z., Berlin-West,  26. September 1973     

Halten Sie den Begleiter fest !

  

Wer geglaubt hatte, Dietrich Fischer-Dieskau müsse in rund 25 Jahren sein künstlerisches Reich nach allen Seiten hin abgeschritten haben, der konnte in der Philharmonie mit neuem Staunen erleben, dass seine Grenzen immer noch offen sind und er noch beständig wächst. Der Abend war ein neuer Höhepunkt in der Laufbahn dieses Sängers.

Nach Mahler und Brahms ist er zu Schubert zurückgekehrt (obwohl Schumann, Wolf und Strauss, den er mit Pfitzner kombinieren könnte, noch ausstehen). Mit dem "Schwanengesang" begann er.

Vom wilden Ausbruch des "Atlas" über die süße Versunkenheit von "Ihr Bild", die lockende Galanterie des "Fischermädchen", die Trostlosigkeit der "Stadt", das magisch eindringliche "Am Meer" bis hin zum Entsetzen des "Doppelgänger" hielt er die Hörer mit der aufwühlenden Kraft des Ausdrucks und der Schönheit einer jeder kleinsten Finesse fähigen Baritonstimme im Bann.

Der gern die Partner wechselnde Sänger hatte in Christoph Eschenbach den idealen Begleiter am Flügel, den er für längere Zeit festhalten sollte.

K. W.

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     Der Abend, Berlin-West,  25. September 1973     

Lob der Schönheit

D. Fischer-Dieskau in der Philharmonie

    

Wer vollendeten Liedgesang erleben wollte, fand sich bei Dietrich Fischer-Dieskau in der übervollen Philharmonie wohlgeborgen. Diesem berühmtesten Bariton unserer Tage, der nach wie vor musikalisch und gestalterisch auf voller Leistungshöhe ist, scheint nichts unerreichbar. Die Behandlung des kostbaren Materials, die Kunst edler Phrasierung, die Bindung des Ausdrucks an die Textworte – das lässt sich nicht meisterlicher vorstellen.

Er hatte drei Liedgruppen Franz Schuberts zusammengestellt: die sechs Heine-Lieder aus dem "Schwanengesang", sechs Goethe-Lieder aus verschiedenen Schaffenszeiten und dazwischen eine Liedgruppe nach eigenem Geschmack, die den überwiegend schwermütigen, einsamen, tragischen Ton des Abends mitbestimmte.

Die Mischung sehr bekannter und selten gesungener Lieder fiel diesmal zugunsten der vertrauten Weisen aus. Der "Doppelgänger", "Erlkönig", "An den Mond" oder "Prometheus" waren einige der hinreißend gestalteten Lieder an der Grenze zu balladesken und dramatischen Wirkungen.

Mit ausschlaggebend für den Sonderrang dieses Schubert-Abends war Fischer-Dieskaus neue Verbindung mit dem Pianisten Christoph Eschenbach. Die Sensibilität dieses Juniorpartners führte zu idealer Übereinstimmung in Auffassung, Charakteristik und klanglicher Formung. Diese künstlerische Aktionsgemeinschaft verspricht hoffentlich Dauer.

W. S.

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     Frankfurter Allgemeine Zeitung,  17. Oktober 1973     

Aspekte für Stimmen

Konzerte bei den Berliner Festwochen

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Exemplarischer Liederabend

Dietrich Fischer-Dieskaus Schubert-Abend war ein Erlebnis sublimer Art. Er gehört zu den seltenen Künstlern, die sich mit dem einmal Erreichten nie begnügen. Seit gut 25 Jahren in Berlin an Schubert bewährt, hat er das riesige Liedschaffen des Wiener Genius vom lyrischen Ausdruck, vom dichterischen Wort, von der dramatischen Spannung her gedeutet und dabei ein wachsendes Publikum der ganzen Welt überzeugt. Nun steht er abermals gewandelt da, einfacher und vergeistigter denn je, auch stimmlich in einer Form, die seinen Vortrag vertieft und zugleich erhöht. Drei Gruppen zu je sechs Liedern, die erste nach Heine, die letzte nach Goethe, die mittlere nach verschiedenen Dichtern, ließen ihn alle Bereiche zwischen Intimität, Mystik und hohem Pathos durchmessen. Da gab es kleine Wunder des Pianissimo und der koloraturhaften Auszierung, Wunder des Stimmungswechsels wie in "Die Winde sausen am Tannenhang", den beglückenden Schwung des "Musensohns". Als Begleiter, wie schon in Salzburg, sekundierte ihm Christoph Eschenbach mit vollkommener Technik, zartem Anschlag und visionärem Klang.

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H. H. Stuckenschmidt

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     Neue Osnabrücker Zeitung, 9. Oktober 1973     

Festwochen - gibt’s die?

Zwischenbilanz der Berliner Festwochen

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Die Philharmonie vermochte als einziger Solist nur Fischer-Dieskau zu füllen, der in einem Schubert-Konzert erstmalig den Pianisten Christoph Eschenbach als einen sensiblen Begleiter vorstellte.

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Ingvelde Geleng

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