Zum Liederabend am 1. April 1973 in Nürnberg


    

     Nürnberger Zeitung, 3. April 1973     

Vollendete Gestaltung

Dietrich Fischer-Dieskaus Weg zu den Brahms-Liedern

     

Brahms suchte in seinen Liedern die Nähe des Volkstümlichen. Auf seinem grüblerischen Weg zu dem, was er sein Ideal nannte, stand ihm aber die eigene Kunstfertigkeit dazwischen. Gerade das köstliche Hin und Her zwischen strenger Form und Volkston gibt den Liedern von Johannes Brahms ihren eigenen Reiz. Er macht sich’s schwer, und das Ergebnis sieht anders aus als gedacht; nicht so melodienselig, nicht so eingängig. Bei Brahms wird viel mehr gelitten und durchlitten als bei anderen Liedkomponisten. Seine eigene Schwere hindert ihn, im Lied die festgefügte Erde zu verlassen.

Seine Epoche war poesiearm. Er durchlebte die "Jahrzehnte der Prosa"; die deutsche Lyrik lag nach Heine und Mörike im argen, die Daumer, Groth und Geibel, deren Lieder Brahms vertonte, gehörten da noch zu den besten Gedichteschreibern. Der literarische Geschmack des Komponisten ist da durchaus respektabel.

Wie wertet Dietrich Fischer-Dieskau diese schwierigen Lieder auf, wie haucht er ihnen Poesie ein! Er braucht sich nicht einmal auf das Bekannteste und Beliebteste zu stützen, er erreicht seine Wirkung, wie sich bei seinem Abend in der Meistersingerhalle zeigte, auch mit den weniger oft zu hörenden Werken. Seine Zusammenstellung bündelte 18 Gesänge von Liebe, Traum, Nacht und Natur zu einem Zyklus von wunderbarer Geschlossenheit.

Fischer-Dieskau beherrscht, das ist schon oft gesagt worden, die Kunst, eine Atmosphäre zu schaffen, seine Hörer "zu entrücken". Seine Fähigkeit, die Sprache des Dichters und des Komponisten zu erfassen und im Vortrag geistig umzusetzen, bewies er neu an diesem Abend. Die kräftige, aber nie "röhrige" Stimme erlaubt es ihm, auch ins Lied dramatische Akzente einzubringen, ohne daß er allzu direkt wird. Wenn er mit Worten malt, bei der Stelle "trostlos auf weitem Meer" die Unendlichkeit ahnen läßt, in "Wie bist du, meine Königin" das fünfmalige "wonnevoll" auskostet, dann erscheint dies bei ihm nicht als billige Effekt-Pointe, sondern als vollendetes Mittel der Gestaltung.

Nur ein einziges Mal wurde Dietrich Fischer-Dieskau vordergründig und oberflächig, im "Frühlingslied" op. 85,5 mit dem Text von Emanuel Geibel. Daß dieses Lied eine Ausnahme blieb, ist um so erstaunlicher, als sein Begleiter Günther Weißenborn sich nicht in bester Form präsentierte. Weißenborn spielte einen eckigen Brahms, erreichte nicht den satten Klang, und damit fehlte die poetische Übereinstimmung mit dem Sänger, die Voraussetzung jeder Liedgestaltung ist.

br. breithaupt

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     Nürnberger Nachrichten, 3. April 1973     

Nürnberg: Dietrich Fischer-Dieskau

 

Als Dietrich Fischer-Dieskau vor genau zwanzig Jahren seinen ersten Liederabend in Nürnberg gab, rühmten die Kritiker die Reife der jungen Stimme. Heute gilt es, die Jugendlichkeit der reifen Stimme zu bewundern (Meistersingerhalle).

Seit Jahrzehnten also schöpft er aus dem Vollen, ungetrübt, ohne einen Anflug von Manierismus, ohne Nachlassen der Kraft. Die technisch perfektionierte Höchstleistung, die die Schallplatte millionenfach dokumentiert, gibt den Maßstab an. In keinem Takt bleibt er hinter sich selbst, dem Größten, zurück. Das stabilisierte Wunder.

Das Phänomen Fischer-Dieskau hat viele Dimensionen. Von Monteverdi bis Henze, von der Bachkantate bis Wotan und Wozzeck. Zuletzt kreierte er im Nürnberger Dürer-Jahr Aribert Reimanns Celan-Gesänge. Wo andere Lieder singen, macht er eine Epoche, ein Kapitel Kulturgeschichte lebendig.

Sein Brahms-Konzert wurde zu einem Porträt der deutschen Spätromantik. Der literarische Anspruch und Wert der Gedichte wog leicht. Die gereimte Poesie der Herren Kalbeck, Schack, Daumer, Lemcke oder Groth lässt kaum ahnen, welche Mitteilungen aus ihr zu formen sind.

Und wie wird Fischer-Dieskau – ein Inbegriff der Identität von Sänger und Interpret – mit der Fragwürdigkeit, der Sentimentalität der Texte fertig? Indem er sie nicht mit Gefühl und Schöngesang überzuckert, sondern Empfindungen zu schlichter Reinheit sublimiert, Emotionen motiviert und seelische Vorgänge verständlich macht.

Traum und Realität halten sich die Waage, wenn Fischer-Dieskau über den "Nachtwandler" meditiert, flüsternde Intimität verbreitet "Geheimnis", vergoldete Naivität kennzeichnet "Botschaft", Falstaff-Humor blitzt auf in Goethes "Unüberwindlich". Günther Weißenborn am Flügel lag die lyrische Versonnenheit weniger als die balladesken Klavierakzente.

Der Idyllik stellte der Sänger die Nachtseite der Romantik bei Heine und Platen entgegen. Sezierend durchleuchtet er die Verse der "Meerfahrt", deren visionäre Geisterinsel aufsteigt und in Resignation versinkt. Fischer-Dieskau verpasst dem lieblichen Brahms einen Hauch von Mahler. Die Konfrontation mit der Nacht wird zum Dialog mit sich selbst.

Und immer forscht er danach, was hinter den Worten steht. Er trägt nicht Kunstlieder vor, sondern zeigt Menschen, Gedanken, Gefühle, Bilder. Auch das Unausgesprochene gewinnt Gestalt. Wissen und Virtuosität werden transparent.

Fritz Schleicher

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