Zum Liederabend am 28. März 1973 in Stuttgart


     Stuttgarter Zeitung, 30. März 1973         

Angespannte Lyrik

Dietrich Fischer-Dieskau mit Brahms-Liedern im Stuttgarter Beethovensaal.

      

Im ausverkauften Beethovensaal und vor einem Publikum, das außerordentliche Offenbarungen großer musikalischer Kunst erwartet, sang Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Günther Weissenborn, eine sorgsam aufgebaute Auswahl aus dem reichen Schatz der Lieder von Brahms. Fischer-Dieskau scheint für deren Interpretation prädestiniert, denn er hat ja schon früher viele Beweise für eine der Seelenlandschaft herber Verhaltenheit und keuscher Introvertiertheit adäquate Ausdeutung gegeben.

Das ist die eine Seite der Lieder, die uns der Sänger immer noch in vollendeter Anschmiegsamkeit an Text und die Brahmssche musikalische Ordo vortrug, getragen von der ausgezeichneten pianistischen und musikalischen Durchdringung des, Klavierpartes durch Günther Weissenborn. Die Lieder wurden mit allen Fischer-Dieskau eigenen Mitteln einer sehr durchdachten und wirkungssicheren Kunst gesangstechnischer und rezitatorischer Vollendung interpretiert, wobei zu deutliche und unvermittelte Kontraste von Piano und Forte im Gesamtaspekt der Wiedergabe nicht die geringste Rolle spielten.

Blieben diese Lieder so, wie man sie vom Brahms-Sänger Fischer-Dieskau gewohnt ist - darunter Liedperlen wie "Es träumte mir" aus op. 57 oder "Nachtwandler" aus op. 86 -, so fiel ein anderer Komplex von Liedern auf, die zwar dramatische Akzente besitzen, aber von Brahms in der seelischen Gesamthaltung nie zum dramatischen Lied im Sinne Wolfs gesteigert werden. Hier gab Fischer-Dieskau eindeutig leidenschaftliche Ausbrüche und verschob die Gesänge in eine Atmosphäre angespannter Lyrik. Auch Fischer-Dieskaus Gabe der plastischen Gestaltung konnte über eine Verfremdung dieser Lieder nicht hinwegtäuschen.

Daß ein Kabinettstück wie "Ständchen" op. 106, zumal in der glänzenden Vortragskunst mit leicht ironischem Unterton, viel mehr die Domäne Fischer-Dieskaus ist als die innige volksliedhafte Schlichtheit der Zugabe "Sonntag", bewies auch das Daumersche "Wir wandelten", in dem wir die Kontinuität der Liedlinie, aber auch die Einfachheit echter Liedlyrik vermißten, die durch eine noch so gekonnte und durchdachte Vortragskunst nicht ersetzt werden kann. Brausender Beifall für Sänger und Begleiter.

Willy Fröhlich

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     Stuttgarter Nachrichten, 29. oder 30. (?) März 1973     

Er denkt sich immer etwas

Dietrich Fischer-Dieskau begeistert mit Liedern des stillen Brahms

    

Von Raffael sagte man, er wäre auch ohne Hände ein großer Maler geworden. Das Paradoxon läßt sich auf Dietrich Fischer-Dieskau abwandeln: ganz sicher gibt es rundere, fülligere, sinnlichere, blühendere Baritonstimmen, aber ebenso sicher in unserer Zeit keinen bedeutenderen Liedgestalter. Das bestätigte sein jüngster Liederabend im vollbesetzten Beethovensaal.

Fischer-Dieskau kann es sich leisten, den wichtigsten Brahms - die Vier ernsten Gesänge - ganz zu umgehen und auch sonst mehr erlesene als populäre Brahms-Lieder zu bringen, und dennoch füllte er den riesigen (für Liedintimitäten eigentlich viel zu großen) Beethovensaal, selbst auf der Bühne waren noch Sesselreihen aufgestellt. Die vom Sänger gewählte Vortragsfolge war ultrakurz, beschränkte sich - mit einer Ausnahme - auf Lieder aus Brahmsens Reifezeit, die aus ihren zyklischen Sammlungen gerissen und bunt durcheinandergewürfelt schienen. Aber nicht ohne Plan.

Fischer-Dieskau denkt sich ja immer etwas beim Singen; und er war sich gewiß seines heutigen Wirkungsoptimums bewußt, wenn er Gesänge vorzog, in denen es nicht auf die Entfaltung von stimmlichem Material (im Forte klingt sein Bariton manchmal flach), sondern auf die Kunst der Nuance, auf Zwischenwerte, auf das Erspüren von Andeutungen geht - gerade bei Brahms ein überreiches Feld, und eben darum ist der reife Fischer-Dieskau von heute ein so eminenter Brahms-Sänger, wie er früher, ein begnadeter Künder romantischer Jünglings-Lyrik war.

Allbekannte Weisen, wie das Ständchen, op.106, das Regenlied, "untersingt" er eher im belcantistischen Effekt. Weniger gängige stattet er mit den überraschendsten Glanzlichtern aus, so daß man sie als verborgene, endlich gehobene Pretiosen empfindet. Die Gefahren von Manieriertheit und Larmoyanz, von denen Fischer-Dieskaus Hochespressivo immer etwas bedroht ist, werden durch Brahmsens Verhaltenheit gemildert; und so einfühlend nahe bleibt der Sänger beim überragenden Schöpferpartner der Wort-Ton-Gebilde, daß einem die poetische Belanglosigkeit, ja Minderwertigkeit vieler Brahms-Lieder (nach Daumer, Candidus, Schack !) gar nicht zu Bewußtsein kommt.

Die Zuhörer, die Zugabe auf Zugabe erklatschten, schienen sagen zu wollen: bin von soviel Finesse charmiert. Günther Weissenborns Kunst des musikalischen Mitgestaltens am Klavier inbegriffen.

Kurt Honolka

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