Zum Liederabend am 24. März 1973 in Darmstadt


     DT – Darmstädter Tagblatt,  26. März 1973     

Brahms vom Lied her gedeutet

Dietrich Fischer-Dieskau sang im Darmstädter Großen Haus

     

Der Liedersänger Dietrich Fischer-Dieskau liebt das Wagnis. Dieses Wagnis besteht einfach darin, dass er die eingefahrenen Wege des üblichen Potpourri-Liederabends meidet und nach neuen Möglichkeiten sucht – von der Liedwahl wie von der Programmzusammenstellung her. Man erinnert sich an Konzerte, die er ganz der Modernen Musik widmete, an die Ausgrabung unbekannter Werke bedeutender Meister, an Schallplattengesamtaufnahmen, wie die mit allen Schubert-Liedern. In solchem Zusammenhang ist auch der Liederabend zu sehen, den Dietrich Fischer-Dieskau, am Flügel begleitet von Günther Weißenborn, im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt gab.

Hier erklangen ausschließlich Lieder von Johannes Brahms, und man hatte sich vorher etwas zweifelnd gefragt, ob es gelingen würde, die gewisse Monochromie, die für das Liedschaffen Brahms’ charakteristisch ist, zu durchbrechen. Denn unzweifelhaft ist die Mehrzahl der Brahms-Lieder auf einen elegisch-melancholischen Grundton gestimmt, steht der ausdruckshaft-melodiös geführten Singstimme ein kompakter, tiefe Lagen bevorzugender und motivisch stark durchstrukturierter Klaviersatz gegenüber.

Aber Fischer-Dieskau fand das Rezept, nach dem Brahms-Lieder zueinander in Spannung zu bringen sind. Er stellte vier Liedgruppen zusammen, die jeweils thematisch lose gebunden und durch Binnenkontraste gesteigert waren, frühe, mittlere und späte Gesänge kamen nebeneinander zu stehen; das sich über die Jahre von 1850 bis etwa 1890 erstreckende Liedschaffen war durch typische Beispiele repräsentiert, es fehlten die allzu gängigen Lieder. So kam eine sehr nuancenreiche Folge zustande, die von Text und Musik her die für Brahms bezeichnende Thematik in vielfältiger Spiegelung und Brechung zeigte.

Romantisches Naturgefühl ist, selbst wenn die Texte es anscheinend ungebrochen vermitteln, in leisen Zweifel gehüllt – "Wie rafft ich mich auf", "Meerfahrt", "Herbstgefühl"; das Motiv des Traums taucht immer wieder auf, doch vor dem Hintergrund des möglichen Erwachens – "Nachtwandler", "Es träumte mir", "Regenlied"; Liebesgedanken werden verhalten geäußert – "Geheimnis", "Wir wandelten", "Botschaft"; hier und da, wenn auch der letzten Liedgruppe vorbehalten, deutet sich Ironie an – "Ständchen", "Unüberwindlich". Die Interpretation begann also schon mit der Programmwahl, hier konnte Fischer-Dieskau sein Wissen um Liedschöpfer und seine Erfahrung als Liedsänger insgeheim bereits ausspielen.

Wer den Sänger während der Klaviervor- und –nachspiele beobachtete, sein mimisch-gestisches Mitgehen wahrnahm, muß gespürt haben, wie sehr die Einheit, der musikalisch-geistige Zusammenhang für ihn im Vordergrund stand. Die Frage ist müßig, welchen Grad der Bewusstheit solche Gestaltungsimpulse besitzen, jedenfalls deuten sie äußerste Anspannung und Konzentration auf das Wesentliche an. Und dieses Wesentliche ist – bei Brahms ganz sicher – die melodische Linie und ihre Einhaltung in den strukturellen Kontext, sie trägt entscheidend den künstlerischen Ausdruck, erst in zweiter Linie interessiert der Text selber.

Dietrich Fischer-Dieskau trug dem Rechnung, wenn er beispielsweise zart-differenzierte, weit-gespannte Melodiebögen im Piano und Pianissimo sang, ohne die Linie durch allzu deutliche Deklamation zu unterbrechen – es sei nur das wunderbar schwebende "Es träumte mir" genannt. Bei großangelegten Steigerungen nahm er die Sprache zu Hilfe, Explosivlaute gaben rhythmische und dynamische Impulse, verstärkten die Stimmwirkung, doch war auch hier nicht Präsentation des Textes oberstes Gebot. Solche "Musikalisierung" der Lieder wirkte wohltuend, zumal manche der von Brahms gewählten Gedichte in ihrer Qualität anzuzweifeln sind; für ihn war das ausdrucksmäßig-stimulierende Element wichtiger als das inhaltlich-leitende.

Erfüllte Ruhe und temperamentvoller Ausbruch waren die Extreme, zwischen die Fischer-Dieskau seine Brahms-Auffassung spannte; diese Extreme waren dank überwiegender Disposition vermittelt, wenn sie sich innerhalb eines Liedes begegneten, wie in "Wie rafft ich mich auf" oder "Verzagen". Erst gegen Ende des anspruchsvollen Programms blickte herber Brahmsscher Humor durch, vor allem in der Vertonung von Goethes epigrammatischem Gedicht "Unüberwindlich" mit dem koketten Wortspiel von der "Flasche" und der "Falschen". In diesem Lied, das Fischer-Dieskau für die Schlusswirkung aufgespart hatte, löste sich die lyrische Hochspannung zugunsten einer Lockerheit, durch die das schauspielerische Geschick des Sängers von ferne blickte.

Günther Weißenborn war mehr als ein "Begleiter". Er wuchs im Laufe des Abends immer mehr zum entscheidenden Mitgestalter, er setzte ohne falsche Zurückhaltung pianistische Kontrastpunkte zum Sänger, betonte die thematisch-motivische Arbeit Brahms’, ließ harmonische Reize hervorleuchten, stellte Zusammenhänge her und gab den Liedern ausschwingende Nachspiele. Den vollgriffigen Klaviersatz, der bei einigen notwendigen Transpositionen etwas baßlastig wurde, lichtete er soweit möglich auf, andererseits vertrug es die Stimme Fischer-Dieskaus, dass Weißenborn dynamische Steigerung im Klavierpart auch wirklich ausspielte.

Nicht endenwollender Applaus im ausverkauften Großen Haus erzwang eine ganze Zugabenkette, in der sich besonders hübsch die volkstümlichen Lieder nach Uhland-Texten ausnahmen. Diese beschwingtere Seite des Vokalkomponisten Brahms, dem noch die späten Volksliedbearbeitungen zu danken sind, war im offiziellen Programm ausgespart geblieben. Dietrich Fischer-Dieskau gelang hier wieder jene Balance von Intensität und Leichtigkeit, die zuvor schon der letzten Liedgruppe das ganz unverwechselbare, persönliche Gepräge gegeben hatte.

Klaus Trapp

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     Darmstädter Echo, 26. März 1973     

Im Spiegel der Lieder

Dietrich Fischer-Dieskaus Brahms-Abend in Darmstadt

     

Als ein thematisches Leitmotiv hat Dietrich Fischer-Dieskau seinem Brahms-Abend eine Komposition zu Versen von Karl Simrock vorangestellt. Es ist eines seiner bevorzugten Strophenlieder, in dem "Blauer Himmel, blaue Wogen" sanft schwingende Rhythmen über orgelpunktartigem Klavierfundament ausbreiten, die Leidenschaft des "stürmenden Herzens" die gleichsam statische Ruhe durchbricht, um, ins Anfangsmelos zurückkehrend, all das zu spiegeln, "was die Erde Schönstes hat".

Die Auswahl der achtzehn Gesänge umfaßte den ganzen Kosmos Brahmsscher Empfindungswelt, heitere Lyrik, Gedankengespinste, den sehr norddeutschen Humor, der gar nicht immer nur von dunklen Horizonten umspannt ist, das Keck-Verliebte wie die stillen Träumereien. Darunter gab es erlesene Kostbarkeiten, die selbst dem gewiegten Brahms-Kenner mancherlei Neues und Überraschendes brachten, zumal aus dem dritten und vierten der Liederbände.

Die Folge erhielt ihre Eigenspannung durch die Kontraste der Themen und der Darstellung. So etwa Heines in düsteres Moll getauchte "Meerfahrt" mit der sich in unendliche Weiten verlierenden "Wasserbahn" wenn im Wiederholen der Textzeile der Ausdruck zusammengedrängt wird, das Funkeln der Nacht in Platens "Wie rafft ich mich auf", das in der "Frühlings-Abenddämmerung" zu tastendem "Flüstern" wird.

Die Skala der Deutung, vergleicht man sie mit Fischer-Dieskaus früheren Platten-Einspielungen, ist reicher, vielfältiger geworden, im herrlich schwebenden Piano mit dem leisen Anheben mancher klanglichen Versinnbildlichung, im schier unbegrenzten Timbre der von dem Sänger ausgeprägten mezza voce, aber auch im plötzlichen Umschlagen der Dynamik, in der expressiven, ganz aus der musikalischen Konzeption entwickelten Steigerung.

All das hat stets das Ursprüngliche, das aus dem Augenblick geboren zu sein scheint. Und hier bewährt sich das langjährige Zusammenwirken mit dem Pianisten Günther Weißenborn. Er musiziert atmend mit, profiliert die Konturen aus der Gegenspannung der für Brahms immer bedeutsamen Baßlinie, zu dem das Figurative, das Malerische die Ausdrucksweise abrundet und die spezifische Fülle schafft. Da blühen die musikalischen Linien, die der Sänger bei meisterlicher Wortbehandlung im Melos verströmen läßt, mit jenem Singen auf dem Atem, der so viele Nuancen zuläßt und einbezieht, um Wesenhaftes, wie in einer in sich geschlossenen Szene zu raffen. Dieses Ausformen geschieht aus der ungewöhnlichen Gemeinsamkeit, bei der das gegenseitige Inspirieren für die Interpretation die besondere Atmosphäre schafft.

Der stets beziehungsreiche Wechsel der Kompositionen bedingt zugleich die Kontraste, ihr Voneinander-Abheben auch im Dynamischen. Das Stürmische, Leidenschaftliche entfacht, in den oft überraschenden machtvollen Entladungen gerade bei Brahms weniger bekannte Züge, die hier vornehmlich durch die rhythmische Intensität bestimmt sind. Solche Kontraste erheben sich zu Dramatischem, beleben auch verhaltenere Kompositionen wie das "Regenlied", in dessen gedämpfter Sommerschwüle das verwandelnde D-Dur-Licht mit der hornartigen Akkordik die tautrunkenen Blumen umleuchtet.

Eine gute halbe Stunde dankten die Darmstädter im Großen Haus dem Sänger und dem Pianisten mit begeistertem Applaus und Bravorufen. An Zugaben gab es, souverän und faszinierend dargeboten, noch ein halbes Dutzend Lieder, zwischen "Sonntag" und "Feldeinsamkeit" vier kostbare, weniger vertraute Gesänge. Immer wieder erwuchs aus beglücktem Hören einzigartige Aufmerksamkeit. Ein herrlicher, unvergeßlicher Abend.

G. A. Trumpff

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