Zum Konzert am 4., 5., und 6. Januar 1973 in München


    

     Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 1973     

Guerillamusik und Restauration

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter Rieger Werke von Reger und Hindemith

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Wenn Regers Musik nach dem Urteil der Zeitgenossen einerseits "artistisch" ist und ihr zugleich "der wärmende Strahl echter großer und einfacher Kunst fehlt" (Walter Niemann), wenn ihr der Mangel einer "gesunden Entfaltung" im Melodischen, "das absichtliche Verneinen der schlichten Natürlichkeit" (Riemann) vorgeworfen wird, so bot Riegers Konzert im Herkulessaal nach der Pause "Natürlichkeit", "Schlichtheit", "handwerkliche Meisterschaft", "Schönheit", "edle Würde" und derlei mehr im Überfluß: Paul Hindemiths Requiem "Denen, die wir lieben" mit dem Titel "When Lilacs Last in the Door-Yard Bloom’d" (Als Flieder jüngst mir im Garten blüht’). Den 16teiligen Gedichtzyklus Walt Whitmans (zum Gedenken an den ermordeten Abraham Lincoln) vertonte Hindemith 1946, in dem Jahr, da er amerikanischer Staatsbürger wurde. Egon Voss hat in seiner bemerkenswerten Werkeinführung den Zusammenhang des Stücks mit aktuellen Ereignissen (dem Tod Roosevelts) und der plötzlichen Liebe des Komponisten zum neuentdeckten Vaterland dargestellt, nicht ohne kritischen Unterton über die Diskrepanz zwischen dithyrambischer Dichtung und "spröder" Komposition. Bei der Uraufführung in New York, schreibt er, habe man "Optimismus und die dazu gehörende ausladende kompositorische Geste" vermißt. Ich finde: zu Unrecht. Im lyrischen Schöngesang von Anna Reynolds, in der stets selbstsicher, markig, auftrumpfend geführten, mühelos ansprechenden Stimme Dietrich Fischer-Dieskaus ist Sieghaftes genug. Die ohne unklaren Rest aufgehende Polyphonie, die ernsthafte Biederkeit, ohne daß ihr ein Befremden über sich zurück bleibe, die penetrant gloriosen Durschlüsse, das ausgezirkelt züchtige Stocken der Melancholie im Zeitmaß langsamer bis sehr langsamer Märsche ist über die Maßen positiv und aufbauend - hinwegbeschworen jegliche Beunruhigung, ungetrübt die noble Ruhe der Restauration. Nein, nicht ganz: schüchtern sind in die Feierlichkeit ein paar respektlose Amerikanismen eingebettet, ein paar Blues-Terzen, ein paar Motive im Folk-Ton - etwa in der ersten und der vierten Nummer für Baritonsolo und Chor, oder in den Mezzosopran-Arien der Nummern zwei und acht. Aber die deutsche Gründlichkeit des Rundfunkchors (präzise einstudiert von Josef Schmidhuber) verbannte diese spontaneren Regungen wieder. Und nach einer Stunde und drei Minuten war (auf dem Ton Cis) der Boden der Tonalität wieder fest gekittet, dessen Fundamente zuvor in nur 26 Minuten Regers Musik nachhaltig erschüttert hatte.

Dietmar Polaczek

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     Abendzeitung, München, 8. Januar 1973     

Rundfunkorchester

Ruin, Rauch und Nebel

    

5. Konzert des Bayerischen Rundfunkorchesters: Werke von Reger und Hindemith. Dirigent: Fritz Rieger. Gäste: Anna Reynolds, Dietrich Fischer-Dieskau (Herkulessaal).

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Paul Hindemiths "Requiem", eine Ode auf Abraham Lincoln, nach einer Dichtung von Walt Whitman wurde durch den Rundfunkchor und die beiden Solisten zu einem Triumph der Interpretation. Anna Reynolds als fröhlich-strahlender, lebensbejahender Antipol zu Fischer-Dieskaus Schicksals-Bariton, Ethos und durchdachter Gesangsdramaturgie - eine vortreffliche Charaktererfüllung des Hindemith-Whitmanschen Lobliedes auf das Leben und die Huldigung des Todes.

Thomas Veszelits

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     "Oper und Konzert", München, 3/1973     

Herkulessaal

5. Konzert des Rundfunk-Symphonieorchesters

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Als zweite Rarität und als zweiter "schwerer Brocken" stand Paul Hindemiths Requiem "When lilacs last in the door-yard bloom’d", das meines Wissens in München noch nicht erklungen war, auf dem ungewöhnlichen Programm. [...]

Fritz Rieger sorgte für eine klare, den Grundton "leiser Melancholie" ebenso genau wie das prunkende Maestoso der kunstvoll polyphonen Huldigung an Amerika treffende Wiedergabe, bei der man sich vom transparent singenden Rundfunkchor (Einstudierung: Joseph Schmidhuber) und von den Solisten allerdings mehr Textverständlichkeit gewünscht hätte. Anna Reynolds sang die Mezzosopran-Soli kultiviert, nobel und stimmschön. Sehr sensibel und mit herrlich schwebender Phrasierung brachte Dietrich Fischer-Dieskau die Lyrismen der Bariton-Partie zur Geltung, während seine Stimme im Forte und in den höheren Lagen diesmal nicht ihren sonst so einzigartigen Schmelz aufwies.

-nn.

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