Zum Konzert am 1. August 1972 in Salzburg


    

     Süddeutsche Zeitung, 3. August 1972     

Salzburger Festspiele

Im steinernen Seziersaal für Partituren

Musik des 20. Jahrhunderts in der Felsenreitschule

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Zwei Orchesterkonzerte mit neuer Musik wurden in die Felsenreitschule gelegt, Diese Steinbühne, halb Krypta und halb Hörsaal, erwies sich als ein Seziersaal für Partituren: die Zersplitterung des Klanges, wie sie Nono sich vorgenommen hat, wird in der Felsenarena vollends überschaubar.

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In den repräsentativen Orchesterkonzerten hat man kein Risiko auf sich genommen. Die Programme sind retrospektiv, klassisch, ohne Stein des Anstoßes. Jeder Musikkonsument, der einigermaßen guten Willens ist, könnte sie erschwingen. Am zweiten Abend, wo denn auch Smoking und Abendkleid überwogen, herrschte echt salzburgisch der Wohllaut. Henzes Oratorium "Novae de infinito laudes" mag manchem, der mangels Opernkarten auf die Gegenwartsmusik auswich, das angenehme Gefühl verschafft haben, daß es mit den wüsten Neutönern nur halb so schlimm sei. Das Kurzoratorium auf Worte von Giordano Bruno, die weit mehr hymnische Glaubenssätze als philosophische Traktate sind, pflegt einen bestechenden Manierismus des Wohlklangs, ist in seinem verschleierten Rückgriff auf die Musikgeschichte nicht selten Musik über Musik und hat einen Zug ins Luxuriöse, Mondäne und damit ins Unverbindliche. Allein schon das von Dietrich Fischer-Dieskaus Kunst beherrschte Vokalquartett – Edda Moser, Ingrid Mayer, Werner Krenn – entsprach den Salzburger Bemühungen, zeitgenössische Musik auf dem Silbertablett zu reichen und durch Stars legitimieren zu lassen.

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Der Musikchef des Österreichischen Rundfunks, Milan Horvat, hatte den zweiten Abend übernommen. Nach dem Anatomen Gielen wirkte er wie ein Rattenfänger, der durch Charme, weiche Nuancen und Raffinement zu verführen trachtet. Henzes Partitur ist ihm aus der Kapellmeisterseele instrumentiert;

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Der erste Abend versammelte fast nur die Profis, am zweiten Abend war das Publikum in der beinahe ausverkauften Felsenreitschule kaum von dem eines Karajan- oder Böhm-Konzerts zu unterscheiden Freilich hatte sich die Möglichkeit geboten, Fischer-Dieskau zu hören, ohne sich um eine Karte balgen zu müssen.[...]

Karl Schumann

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     Salzburger Nachrichten, 3. August 1972     

Nichts ist unser, das sich nicht entfremdet

Kantate von Henze und "Psalmensymphonie" von Strawinsky;
ORF-Symphonieorchester unter Horvat in der Felsenreitschule

    

Die österreichische Erstaufführung der weltlichen Kantate "Novae de infinito laudes" für vier Soli, gemischten Chor und Orchester, die am Dienstag in der Felsenreitschule unter Milan Horvat stattfand, darf als ein Höhepunkt der heurigen Festspielsaison bezeichnet werden. Das Werk entstand 1961, also zu einer Zeit, in der sich der Komponist um Einfachheit und Verständlichkeit der Klangsprache bemühte. Es fehlen ihm daher die experimentellen Züge der modernen Musik. Die melodische und motivische Erfindung bewegt sich in Bahnen, die von Strawinsky, Hindemith, Nono und gelegentlich auch von Orff vorgezeichnet wurden. Aus kleinformigen Urzellen werden einfache Mutationen und umfangreichere Variationskomplexe entwickelt, die manchmal reizvoll, manchmal freilich auch stereotyp und konventionell wirken. Der strahlende Schluß ist von beinahe peinlicher Vulgarität.

Als Textgrundlage wählte Henze Stellen aus den Dialogen von Giordano Bruno. Wir müssen annehmen, daß weniger der etwas verwaschene neuplatonische Pantheismus dieses Philosophen den Komponisten begeisterte, als vielmehr sein Lebensschicksal, das 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen endete. Henze sieht in dem bedauernswerten Dominikaner ein Opfer absolutistischer Willkür, dem er offenbar aktuelle Bezüge zuordnet. Im übrigen mag die Textwahl auch auf den verzweifelten Versuch zurückzuführen sein, Ersatz für den liturgischen Text zu bieten, der sich bisher als die sicherste Stütze des Oratoriums erwiesen hat.

Die Bemühung, Stimmungslage und Klangwelt der manieristischen Epoche zu beschwören, geht bis zur Zusammensetzung des Orchesters. Es fehlen – wie in der "Psalmensymphonie" von Strawinsky – Violinen, Bratschen und Klarinetten; Englischhorn und Baßtuba sind doppelt besetzt; verstärkte Lauten, Harfen und das Blech haben wichtige Funktionen. Die "Rhythmusgruppe" wird durch zwei Klaviere ergänzt. Das Orchester bildet nur Fundament und Farbkontrast für die menschlichen Stimmen, die fast niemals schweigen. Die verschiedenartigen Formen der Begegnung von Soli und Chor sind das erregende Element in dieser raffiniert strukturierten Partitur, die den Versuch unternimmt, spekulative "Concetti" in kontrapunktische Gefüge umzusetzen.

Daß dabei die Sinnlichkeit der Klangwelt etwas zu kurz kommt, mag die Beziehung zu Strawinsky rechtfertigen, der ja in seiner "Psalmensymphonie" bewußt auf das "Element der musikalisch-sinnlichen Schönheit" Verzicht geleistet hat. Mit vollem Recht hatte man daher das Lob Gottes des großen Russen dem mediterranen Lob der Welt vorangestellt.

Die Aufführung beider Werke war festspielwürdig. Im Solistenquartett der Laudes dominierten die tiefen Stimmen. Ingrid Mayr und Dietrich Fischer-Dieskau ließen keinen Wunsch offen. Edda Moser hatte Schwierigkeiten in der extremen Höhe zu überwinden. Der kultiviert geführte, nicht sehr große Tenor von Werner Krenn konnte sich in der Felsenreitschule nur mit Mühe behaupten. Die ORF-Chöre Salzburg und Wien – hingebungsvoll einstudiert von Ernst Hinreiner und Gottfried Preinfalk – erfüllten ihre oft schwierigen Aufgaben mit großer Sicherheit. Das ORF-Symphonieorchester war in guter Verfassung, wenn es sich auch an die besonderen akustischen Verhältnisse der Felsenreitschule erst allmählich gewöhnte. Der Dirigent Milan Horvat hatte seine besten Momente bei Henze, während die rhythmische Auffächerung bei Strawinsky zu weich und zu wenig präzise wirkte. Viel Beifall!

Ruediger Engerth

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