Zur Oper am 30. September 1971 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 2. Oktober 1971 

Elektronik und Violetta

Großkopf-Uraufführung in der Philharmonie - "La Traviata" umbesetzt

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Schwaches Vorspiel, keine Poesie, erdenschwerer Geigenklang, "Traviata"-Stimmung wollte sich kaum einstellen, auch die Gesellschaft bei Violetta Valéry wirkte zunächst eher bemüht als schwungvoll. Bald aber staunte man nicht schlecht über einen jungen italienischen Tenor namens Giuseppe Baratti, der, Einspringer für den plötzlich erkrankten Franco Tagliavini in der Rolle des Alfredo, von den ersten Takten seines Trinkliedes an in bester Übereinstimmung mit Lorin Maazels Taktstock musikalische Initiative entwickelte. Die Augen immer brav auf den Dirigenten gerichtet, wie es sich bei so kurzfristigem Einstieg in eine fremde Aufführung empfiehlt, war der Sänger ohne viel Aufhebens "da", mit baritonal gefärbtem Tenor ein vollwertiger Partner für die beiden Stars der Aufführung: Teresa Zylis-Gara und Dietrich Fischer-Dieskau.

In der großen Arie der Violetta klangen Koloraturen noch verängstigt und, auch vorher, Phrasierungen durch Nachdrücker ein bißchen sehr gefühlig: die individuelle Ausdruckskunst Teresa Zylis-Garas und der schöne runde Klang ihres Soprans kamen erst vom zweiten Akt an richtig zum Tragen, in der Auseinandersetzung mit dem Père Germont, im erzwungenen Abschied von Alfredo.

Die Tragödie des Père Germont, der seine bürgerlichen Vorurteile erst überwindet, als es zu spät ist, kann eigentlich nur ein Fischer-Dieskau glaubhaft machen: ein Verbündeter der Violetta fast von Anfang an, was die seelische Übereinstimmung angeht, ringt sich diese soignierte Vaterfigur immerhin auch zu offizieller Verneigung vor einer Dirne durch. In der Vielschichtigkeit dieser Rolle konzentriert sich der gesellschaftskritische Ansatz des Werkes, den eine moderne Inszenierung deutlicher machen könnte, als es die Sellners tut.

Eine Festwochen-Aufführung im ganzen, die sich hören lassen konnte - wie ja überhaupt gegen das Verdi-Repertoire der Ära Sellner-Maazel, das jetzt als Zyklus in der Deutschen Oper Revue passiert, wenig einzuwenden ist. Der Beifall war groß.

S. M.


    

     Berliner Morgenpost, 2. Oktober 1971     

    

Verdi - nur teilweise "festwochenreif"

    

Wenn Maazel nicht am Pult gestanden hätte, wäre die 68. "La Traviata"-Aufführung (und die siebte des für die Festwochen arrangierten Verdi-Zyklus) nicht über den Repertoire-Durchschnitt hinausgekommen. Maazel war - soweit es von ihm allein abhing - der Garant für einen musikalisch befeuerten und melodisch schwelgenden Verdi.

Teresa Zylis-Gara brachte in Berlin ihre erste Violetta an den Mann. Ihr müßte eine Spezialfassung der "Traviata" geschrieben werden, in der das erste Bild fehlt, denn der Koloraturteil der großen Arie geht über ihr Vermögen. Die schön klingende Mittellage und die butterweichen Legatobögen charakterisieren nur die halbe Violetta.

Außerdem wirkte Frau Zylis-Gara als Tempobremse; Maazel mußte ihr manche Töne förmlich aus der Kehle ziehen. Im zweiten und vierten Bild durfte sie uneingeschränkter Zustimmung sicher sein, weil sie aus den gefühlsmäßig stark betonten Szenen darstellerisch und stimmlich Kapital zu schlagen versteht.

Wer von Dietrich Fischer-Dieskaus Vater Germont puren gesanglichen Wohlklang erwartet hatte, sah sich enttäuscht. Seit der Premiere (1965) weiß man, daß dieser hochintelligente Sänger, der stets abseits der gängigen Opernklischees forscht, auf den Ausdruck mehr Wert legt als auf den Schöngesang. Sein markiger Auftritt im zweiten Bild erinnerte denn auch eher an Wagners Wotan oder an Mozarts Komtur, was Fischer-Dieskaus Vorstellung als Beherrscher der Szene keinen Abbruch tat.

Den plötzlich erkrankten Franco Tagliavini mußte der flugs herangeschaffte Giuseppe Baratti vertreten, ein Tenor, der anderweitig vielleicht auf Erfolge verweisen kann, für Berlin jedoch nicht reif ist.

H. F.

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