Zum Konzert am 5. September 1971 in Basel


Basler Nachrichten, 7. September 1971 

Fischer-Dieskau singt Goethe-Lieder

Goethe war nicht nur musikalisch sondern auch musikgebildet und nannte seine Gedichte mit Vorliebe "Lieder", denn eines ihrer Grundelemente ist das Musikalische . Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass er wie kein anderer deutscher Dichter eine starke, unmittelbare Wirkung auf die Musiker ausgeübt hat. Das deutsche Kunstlied wurde denn auch weitgehend durch Goethe bestimmt. Es ist deshalb ebenso naheliegend wie reizvoll, ein ganzes Liedprogramm ausschliesslich Goethes Lyrik zu widmen und die ganze weite Skala musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, wie sie durch die Jahrhunderte hindurch durch Goethes Sprache gegeben sind, aufzuzeigen.

Das hat Fischer-Dieskau bewogen, eine solche Liedfolge zusammenzustellen und in seinem Liederabend unübertrefflich zum Vortrag zu bringen. Er wählte Kompositionen von zwölf Meistern aus und bildete fünf geschlossene Gruppen, die auf seinen Wunsch zum Glück nicht durch Beifall unterbrochen wurden. Sie waren kontrastreich aufgebaut und boten ihm Gelegenheit, abwechselnd lyrisch-verhaltene und dramatisch-kraftvolle Töne anzustimmen. So boten die Lieder nicht nur gesanglich, sondern auch vortraglich hohen Genuß. Höchst bewundernswert war dabei, dass der Sänger das ganze Programm - im Ganzen 24 Lieder - völlig frei vortrug, was eine ungeheure Konzentration verlangt. Er wurde am Klavier von Irwin Gage, einem Künstler, der mit dem Sänger zu atmen versteht, meisterhaft begleitet. In einigen Nachspielen konnte er auch selbständig gestalterisch hervortreten. Die Begeisterung schlug hohe Wellen und nötigte dem Sänger drei Dreingaben ab, nämlich Beethovens "Flohlied" aus "Faust" und von Schubert "Geheimes" und "Der Musensohn".

Der Bogen der Lieder, die hier nicht alle erwähnt werden können, spannte sich von der komponierenden Musikdilettantin am Weimarer Hofe, Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar, bis zu Ferruccio Busoni. Die Herzogin war mit einem hübschen, auf den Gegensatz von Dur und Moll aufgebauten Strophenlied aus dem von ihr vertonten Singspiel "Erwin und Elmire" vertreten. Es folgten zwei musikalische Berater Goethes, Johann Friedrich Reichardt mit dem pathetischen "Feiger Gedanken bängliches Schwanken" und der intime Freund Carl Friedrich Zelter mit dem verzierten, spielerischen "Gleich und gleich". Zum ersten Höhepunkt wurde nach Beethovens Mailied dessen leicht gesungenes, aber dramatisch gesteigertes "Neue Liebe, neues Leben". Wunderbar war die Schubert-Gruppe mit dem ruhevoll vorgetragenen und in einem zauberhaften Pianissimo schließenden "An den Mond", dem markanten und dramatischen "An Schwager Kronos" mit seinem monumentalen Schluss, der von unheimlicher Todesluft durchwehten, ergreifenden "Meeresstille" und dem theatralisch belebten und grossartig charakterisierten "Erlkönig". Hier kehrte Fischer-Dieskau den hinreissenden Bühnenkünstler heraus.

Nach der Pause ging es mit drei Schumann-Liedern aus dem "Westöstlichen Diwan" weiter, von denen das kontrastreiche "Setze mir nicht, du Grobian" wegen des reizenden Nachspiels hervorgehoben sei. Von Brahms entzückte mich besonders das humorvolle, vortraglich meisterhafte "Unüberwindlich". Nach dem schlichten, gemüthaften "Gefunden" von Richard Strauss kam Othmar Schoeck mit dem gesteigerten, farbenreichen Notturno "Dämmrung senkte sich von oben" zu Wort. Wesentlich moderner wirkte hierauf Max Regers stark chromatische "Einsamkeit", worauf Busonis illustratives, bewegtes Zigeunerlied - eine eigentlich theatralische Szene - diese Gruppe effektvoll beschloss. Nochmals eine Steigerung brachte zum Schluss eine Hugo-Wolf-Gruppe. Genannt seien das leicht hingetupfte "Frühling übers Jahr", das weitgespannte, leise "Anakreons Grab", das kraftvolle, marschartig und crescendierte "Kophtische Lied" und der grossartig dramatisch gesteigerte "Rattenfänger". Hier erreichte die Vortragskunst des Sängers ihren Gipfel.

Albert Müry

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