Zum Liederabend am 3. September 1971 in Luzern


     Luzerner Neueste Nachrichten, 6. September 1971     

    

Ausschliesslich Goethes Lyrik gewidmet

Ein glänzend disponierter Dietrich Fischer-Dieskau

     

Dietrich Fischer-Dieskau ist seit nahezu zwanzig Jahren der berühmteste und beliebteste lyrische Bariton in West und Ost. Will man auf Schallplatte einen Liederzyklus erwerben, so kauft man ihn «unbesehen», wenn er von Dietrich Fischer-Dieskau gesungen wird. In letzter Zeit schleicht zwar von irgendwelchen Liederabenden her das Gerücht herum, Fischer-Dieskau «sei nicht mehr so gut». Doch sein Luzerner Auftreten ist ein schlagendes Dementi. Die Stimme ist die alte geblieben: Im Forte mannhaft, heroisch, dramatisch, drohend, kämpferisch, je nachdem; und dann die reiche Tonpalette vom Mezzopiano zum Pianissimo, diese unendliche Vielfalt von Nuancen und Details, in denen er wie kein anderer den Ton trifft und wo seine Stimme auch im gehauchtesten Pianissimo noch trägt, als wäre dies das Selbstverständlichste. Wahrlich, er macht einen vergessen, dass es eine Gesangstechnik gibt.

Ein Programm mit wenig Ruhepunkten

Im Textheft seines Liederabends vom Freitag im Kunsthaus schreibt Dietrich Fischer-Dieskau: "Der Gedanke, ein Liedprogramm ausschliesslich Goethes Lyrik zu widmen. ist ebenso alt wie naheliegend.....". Gewiss, aber Lieder sind in erster Linie Musik, d.h. Melodie, Instrumentalbegleitung, und erst als drittes Element kommt der Text hinzu. Zudem bildeten die ausgewählten Liedtexte keine Einheit, umfassten sie doch eine Auswahl Gedichte vom jungen Goethe über den Sturm und Drang zum reifen Mannesalter bis hin zur Alterslyrik.

Was ich damit sagen will: zwölf Komponisten standen zu Programm, sieben davon nur mit einem Lied. So gab es wenig Ruhepunkte. Man fühlte sich etwas gehetzt durch das gesamte Liedschaffen von der Klassik bis in unser Jahrhundert. Das Programm erhielt dadurch eine gewisse Anrüchigkeit von instruktivem Querschnitt. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass Dietrich Fischer-Dieskau nicht davor scheute, sich mit unbedeutenden Liedern einzusingen.

Der Abend begann mit «Auf dem Land und in der Stadt» von Anna Amalia von Sachsen-Weimar, der musizierenden Herzogin. Musikgeschichtlich kann das Lied interessieren, kaum mehr, denn auch der Text ist schwach, sogar holprig. Goethe soll die Reichardt'schen Liedvertonungen sehr geschätzt haben, weil dieser es verstand, die reine Wortmelodie aus den Dichtungen herauszuholen. Wir hörten von Johann Friedrich Reichardt «Feiger Gedanken, bängliches Schwanken». Mitzuschwingen als Hörer begann man erst bei Carl Friedrich Zelters neckisch gebotenem «Gleich und Gleich». Hier fanden sich Ansätze der kommenden reifen Form. Die Melodik beginnt zu blühen, die Klavierbegleitung gewinnt an Bedeutung. Die erste Liedgruppe wurde abgeschlossen mit Beethoven: «Mailied» und «Neue Liebe, neues Leben». Dietrich Fischer-Dieskau sang sie mit dem erwarteten leidenschaftlichen Schwung. Auch bei so hochstehenden Interpretationen gibt es Höhepunkte. Ich denke an die Verinnerlichung im zart hingehauchten Pianissimo von Schuberts «Meeresstille». Im «Erlkönig» hätte ich mir den Vater etwas beruhigender, um nicht zu sagen väterlicher vorstellen können. Grossartig war die Partie des Erlkönigs, völlig unübertrefflich der BaIladenschluss, wo es einen fror bei «Dem Vater grauset's», und wie färbte er das letzte Wort «tot»! Das war kalt und bleich, sodass die gleich einsetzenden Bravorufe direkt pietätlos wirkten.

Weitgezogener Bogen

Nach der Pause wurde der Bogen weitergezogen über Schumann und Brahms zu Strauss, Reger, Schoeck und Busoni. Mit seinem wundersam stimmungsvollen, in Melodie und Begleitung herrlich ausgewogenen Lied «Dämmerung senkte sich von oben» behauptete der Schweizer Othmar Schoeck in dieser hehren Gesellschaft einen ehrenvollen Platz. Einen besonderen Akzent setzte Dietrich Fischer-Dieskau mit dem «Zigeunerlied» von Ferruccio Busoni. Dieser geniale Wurf des «nordeuropäischen» Italieners ist wie für Dietrich Fischer-Dieskau bestimmt. Am Schluss zischte und fauchte er mehr als er sang, und wie er die letzte Silbe von «wito hu» spukhaft und wie aus weiter Ferne «heulte», so etwas kann nur er und darf nur er sich erlauben.

Einen letzten Ruhepunkt bildete Hugo Wolf. In völliger Versenkung in den Text gibt dieser Liedmeister vielleicht in vollkommenster Art in Musik wieder, was der Dichter gedacht und empfunden hat. Die unergründlichen Tiefen von «Wanderers Nachtlied», «Frühling übers Jahr» und «Anakreons Grab» lotete Dietrich Fischer- Dieskau meisterhaft aus. Der «Rattenfänger» gab dem Reigen der Darbietungen einen buffohaften Abschluss.

Der Pianist Irwin Gage

Die Leistung des Pianisten Irwin Gage als Begleiter war unauffällig. Unauffällig sein ist wohl das beste, was man als Begleiter von Dietrich Fischer-Dieskau tun kann. Anfänglich erschien uns der Pianist etwas zu blass. War es Zufall oder Aufregung, dass er am Schluss eines Beethovenliedes zu auffällig daneben griff? Das Nachspiel von Schumanns «Setze mir nicht» wollte er raffiniert gestalten, doch da ihm nicht alle Töne nach Wunsch kamen, wirkte es eher etwas peinlich. Pianistisch hervorragend zeichnete er die Situation im «Erlkönig». In den tiefsinnigen Klaviersätzen von Hugo Wolf überzeugte Irwin Gage sehr, und auch einige neckische Abschlüsse von Trinkliedern gelangen ihm prächtig.

Das Publikum gab seiner Begeisterung lautstarken Ausdruck, und der glänzend disponierte Dietrich Fischer-Dieskau spendete sage und schreibe sechs Zugaben.

Hansburkard Meier

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     Vaterland, Stad Luzern, 6. September 1971     

   

Hohe Gesangskunst - einzigartig dargestellt.

Dietrich Fischer-Dieskau sang am Freitag 29 Goethe-Lieder - Irwin Gage am Flügel als vortrefflicher Partner des grossen Sängers

   

Es ist dem Künstler Fischer-Dieskau hoch anzurechnen, sein Programm mit Liedern nach Gedichten von Goethe so vielseitig gestaltet zu haben, dass der Zuhörer am Liederabend im Kunsthaus in den Genuss einer ganzen Anzahl wenig bekannter Lieder verschiedener Komponisten kam. Dietrich Fischer-Dieskau bekennt denn auch (Textheft): «Der musikalische Niederschlag ist von einem solchen Reichtum, dass sich für den Programmgestalter Qual der Wahl einstellt, sieht man einmal von den beiden wichtigsten Goethe-Vertonern Schubert und Wolf ab. Mich lockte die weite Skala musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, wie sie bis in unser Jahrhundert hinein durch Goethes Sprache gegeben ist».

Was soll man an diesem Sänger mehr bewundern, den grossartigen Klang dieser einzigartigen Stimme, die unerschöpflichen Atemreserven, die dem Künstler erlauben, bezwingende Legati wie Koloraturen, rasches Parlando und Fortissimo- Aussprüche zu meistern oder die packende Ausdruckskraft und die persönliche Ausstrahlung?

Klangschönheit und vorzügliche Diktion fielen schon beim ersten Lied in gar wohltuender Weise auf. Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar war die Schöpferin von «Auf dem Land und in der Stadt» (aus Erwin und Elmire). Musikalisch höchst ansprechend ist auch das Lied von Johann Friedrich Reichardt «Feiger Gedanke». Der Sänger jagte dem Hörer mit gewaltigen Steigerungen wahre Schauer über den Rücken. - Ein Kleinod der Liedkunst war darauf «Gleich und Gleich» von Carl Friedrich Zelter; ein reizendes, schalkhaftes Lied, mit unendlichem Feingefühl geboten, und die viermal variierten Koloraturen bezauberten durch ihr Piano wie durch ausserordentliche Geschmeidigkeit. - Souverän in jeder Beziehung vermittelte der Künstler gleich zwei Beethoven-Lieder «Mailied und Neue Liebe, neues Leben». Der junge, ausgezeichnete Pianist 1939 in Cleveland geboren der bereits grosse Erfolge errang bestach durch einzigartige Partnerschaft. Auch die Einleitung, wie das Zwischenspiel beim Mailied verdienen besondere Erwähnung.

Unvergesslich gestaltete der Sänger «Herz, mein Herz, was soll das geben», wie das ergreifende «Ach, wie kamst du nur dazu» im zweiten Beethoven-Lied. Intensität und Ausdruckskraft steigerten sich hier in begeisterndem Masse.

Vier Schubert-Lieder beschlossen den ersten Teil des Liederabends. «An den Mond» liess erneut erkennen, wie sehr prächtige Legati und Uebergänge sowie nachhaltiges Ausklingenlassen der Stimme den Zauber und die Stimmung eines Liedes intensivieren können. Auch dass der Lauscher im Saal das geschilderte Rauschen eines Flusses wirklich mitzuhören glaubt, zeugt von seltenen grosser Gestaltungskraft eines Sängers. Grandioses Volumen der Stimme und fesselnde, unermüdliche Spannung war im Lied «An Schwager Kronos» zu bemerken. Als grosser Gegensatz hierzu erklang danach «Meeres Stille» und schliesslich der «Erlkönig», der die Wirkung nicht verfehlte.

Bedeutenden Anteil daran hatte aber auch Irwin Gage am Flügel, der seinen Part nicht nur mit Präzision und geradezu federndem Anschlag meisterte, sondern in vollendeter Partnerschaft und gegenseitigen Impulsen wirklich alles miterlebte.

Von den drei Liedern von Robert Schumann (aus dem West-Oestlichen Divan) erntete vor allem das zweite dank köstlichster Interpretation Schmunzeln und Heiterkeit. Ebenso delikate Gestaltung erfuhren die zwei Brahms-Lieder «Serenate» und «Unüberwindlich». Das Strauss-Lied «Gefunden» vermochte durch schlichte Darstellung sehr zu gewinnen. - Wunderbar, mit angemessener Verhaltenheit, konnten Sänger und Pianist die melancholische Stimmung von Othmar Schoecks «Dämmerung senkte sich von oben» deuten. - Max Regers «Einsamkeit» gewann dank der sängerisch wunderschön gezeigten Modulation am Schluss viel Gehalt, und lrwin Gage liess das Lied mit viel Feingefühl ausklingen.

Grossen Zauber strahlte das Zigeunerlied von Busoni aus, das einmal mehr die unglaublich geschmeidige Stimmführung, wie die Behendigkeit der Diktion von Fischer-Dieskau aufzeigte, und der Partner am Flügel verstand dem Meister des Gesanges mit raffiniertem Tongeriesel und bestechenden Staccati zu folgen.

Fünf Lieder von Hugo Wolf beschlossen offiziell den grossen Liederabend. «Wanderers Nachtlied» und «Frühling übers Jahr» wurden ohne jegliche spürbare Anstrengung übermittelt. Es folgte das in sich gekehrte, von herrlicher Melodie durchpulste «Anakreons Grab». Strahlende Interpretation erfuhr «Kophtisches Lied». Dass der Sänger hier das Klaviernachspiel (wie es hin und wieder bereits vorher geschah), taktmässig mit Kopfnicken unterstrich, mutete etwas ungewohnt an. Der grosse Künstler scheint sich auch in Haltung, Mimik und Gestik ziemlich gewandelt zu haben. Sein Vortrag der Lieder verrät den vielbeschäftigten Opern-Interpreten. Doch bei Hugo Wolf vor allem ist ja bühnenmässiger Ausdruck absolut am Platz. Jedenfalls steigerte sich der Beifall des Auditoriums nach dem mit Bravour übermittelten «Rattenfänger» zu wahren Ovationen. Dietrich Fischer-Dieskau spendete sehr spontan sechs Zugaben (Beethoven, Schubert, Wolf u. a.) und schloss seinen jugendlichen, feinfühligen Partner Irwin Gage in den enthusiastischen Applaus mit ein.

(-rt.)

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     Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 413   
     vom Mo., 6. September 1971     

   

Internationale Musikfestwochen Luzern 1971

Liederabend Fischer-Dieskau

  

Der Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau (am 3. September im Kunsthaus) zeichnete sich vor allem durch dreierlei aus. Einmal hatte das Programm einen mustergültigen Aufbau: einheitlich durch die Beschränkung auf Vertonungen von Goethe- Texten; interessant durch den Einbezug von Unbekanntem oder nur selten Gehörtem: neben Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Strauss. Schoeck und Hugo Wolf auch Anna Amalia von Sachsen-Weimar, Reichardt, Zelter, Reger und Busoni; klug in der quantitativen Beschränkung und der Ausgewogenheit der Liedergruppen.

Zum anderen hat Fischer-Dieskau in Irwin Gage einen Begleiter gefunden, der offensichtlich die Nachfolge GeraId Moores anzutreten imstande ist. Sein pianistisches Können und die Kongruenz in der Gestaltung der Lieder mit dem Sänger, ohne je in blasse Unterordnung abzusinken. dürften gerade in diesem Fall, das heißt angesichts der geistigen Auslotung der Texte, um die es Fischer-Dieskau primär geht, einen seltenen Glücksfall bedeuten.

Vor allem aber stehen die sängerische Gestaltungskunst, die Intensität der Ausdeutung und die Unmittelbarkeit der Vermittlung, über die Fischer-Dieskau verfügt, heute auf einem Stand, der in mehrerlei Hinsicht unüberbietbar erscheint. So paradox es sich als Lob ausnehmen mag: man vergißt als Zuhörer immer wieder, daß er ein Sänger ist. So sehr verschmelzen bei ihm Melodik und Text, Gesang und Klavierpart, Charakterisierungskunst und Stimmtimbre, Strophe und Liedform, Sprache und Musik zu einer Einheit, die den poetischen und gedanklichen Gehalt der Gesänge zur Evidenz gelangen läßt.

Aus der Fülle der Eindrücke seien hervorgehoben: das überraschend undilettantische Lied der Anna Amalia «Auf dem Land und in der Stadt» aus «Erwin und Elmire»), die an Intensität unübertreffliche Gestaltung von Schuberts «Erlkönig» und «An Schwager Kronos», die Originalität der Schumanschen Divanvertonungen, die bei Strauss («Gefunden») erreichte kompositorische Talsohle, die Hugo Wolf-Nachfolge bei Busoni (ZigeunerIied). - Stürmischer Applaus, sechs Zugaben.

dpb

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     Luzerner Tagblatt, Datum unbekannt.   

    

Im Mittelpunkt stand Goethe

Der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, am von Flügel Irwin Gage begleitet, sang Lieder nach Gedichten von Johann Wolfgang Goethe

   

Die Begegnung mit dem grossartigen Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, sei es auf der Bühne oder im Konzertsaal, erweist sich stets als faszinierendes künstlerisches Ereignis. Zahlreiche Schallplatten haben die unverwechselbare, Massstäbe setzende Liedinterpretation des heute im Zenit seines Ruhmes stehenden Künstlers weltweit bekannt gemacht. Die Behauptung ist kaum übertrieben, dass er einen neuen Stil geschaffen hat. Dieser Bariton, der sich erst nach einem erfolgreich beendeten Universitätsstudium dem Gesange verschrieb, dürfte so ziemlich dem Ideal vom «wissendenSänger" entsprechen, wie ihn Franziska Martienssen-Lohmann in ihrem be- kannten gesangspädagogischen Werke geschildert hat. Bei ihm verschwistern sich Verstand und Gefühl in einzigartiger Weise. Die Gestaltung überlässt nichts dem Zufall oder dem Augenblick. Ein untrüglich und scharf sezierender Intellekt durchleuchtet den Text. Die hierfür notwendige Technik der überdeutlich artikulierten Konsonanten in seine ureigene Leistung. Dieses Neue hat auch Kritiker auf den Plan gerufen, die ihm vorwerfen, dass das angeblich übertriebene Martellato den strömenden Melodienfluss unnötig hemme.

Mehr Naivität, Unbekümmertheit und reine Gesangsfreude würden dem Liedcharakter besser entsprechen. Doch wenn sich Wahrhaftigkeit in der Textausdeutung mit ausdrucksmässiger Breite und wohldurchdachten Einsatz vielfältigster Stimmittel verschwistern, wenn jedes einzelne Lied in seinem besonderen Stimmungsgehalt erfasst und zu vollkommen adäquater musikalischer Wirkung gebracht wird, dann erlebt der vorurteilslose Hörer mit staunender Verwunderung ein in sich ruhendes tönernes Kleinod, das unmittelbar anspricht und keiner Deutung mehr bedarf. Fischer-Dieskaus Bariton - auf dem Gebiete des Liedes sind tiefere Stimmen von besonderer Ausdruckskraft - wirkt gefasst und leuchtend im leidenschaftlichen Ausbruch, leicht und biegsam in den hohen Lagen, warm und mitreissend in der Mittellage und stets durchsichtig und farbig im zartesten Pianissimo, wobei nach dem bereits Erwähnten weder Wohlklang, noch die Entfaltung der nüancenreichen Tonpalette Selbstzweck werden.

Der in mehreren Sprachen beheimatete Künstler verfügt über ein wohl zurzeit einzig dastehendes Repertoire. Das erlaubt ihm jeweils, nebst den bekannten Liederzyklen - vor vier Jahren interpretierte er an den IMF mit dem Pianisten Jörg Demus Schuberts «Winterreise" - recht aparte Programme zusammenzustellen. Diesmal wählte er zwölf Komponisten aus, deren

Vertonung von Goethe-Texten

er in 24 Liedern vorführte. Dass noch sieben Zugaben erfolgten, war eine der angenehmen Ueberraschungen des aussergewöhnlichen Abends. Im Vorwort zum Textheft schrieb der Sänger: "Mich lockte die weite Skala musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, wie sie bis in unser Jahrhundert hinein durch Goethes Sprache gegeben ist. Der Bogen von der komponierenden Herzogin Anna Amalia, der einige Erstvertonungen und Uraufführungen Goethescher Singspiele zu danken sind, darunter «Erwin und Elmire» in Goethes Einstudierung bis zu dem an der Schwelle unserer Moderne stehenden Busoni ist gross. Und doch zeigt sich, wie ich meine, die Bannmeile des einen Zeichens, unter dem unsere Komponisten stehen, von einigender, die musikalischen Deutungen einander annähernder Kraft». Zum grossartigen Gelingen dieses nur in Superlativen zu schildernden Konzerts trug wesentlich das kaum mehr überbietbare

vokal-instrumentale Gleichgewicht

bei. Der 32jährige, in Cleveland geborene, seit 1963 in Wien ansässige Pianist Irwin Gage braucht Vergleiche mit Gerald Moore oder Erik Werba kaum mehr zu scheuen. Dass er ausser feinfühliger Sensibilität, reichen agogischen, dynamischen und klangfarblichen Schattierungen jeweils schon mit wenigen Akkorden den Stimmungsgehalt des Liedes traf und sich auch in der Klangpalette mit der Gesangsstimme, zu verschwistern verstand, prädestiniert ihn zum idealen Mitgestalter.

Einige wenige Hinweise mögen die reiche Fülle des Gebotenen beleuchten. Wie herrlich spross Zelters Humor in «Gleich und gleich» auf, wie beglückend erstand Beethovens «Mailied» mit dem ekstatischen Schluss, wie gut getroffen wurde die unheimliche Dämonie in Schuberts «An Schwager Kronos» oder die verhaltene, ätherische Stimmung in «Meeres Stille»! Zu Kabinettstücken an Ausdeutung wurden «Erlkönig» und Busonis «Zigeunerlied» oder die Gruppe der Wolf-Lieder, besonders ergreifend «Wanderers Nachtlied» und «Anakreons Grab» und stimmungsdicht «Der Rattenfänger» oder «Frühling übers, Jahr». In Schoecks «Dämmrung senkte sich von oben" schufen die Interpreten eine Sphäre der Entrückung. Brahms skurriler Humor in «Unüberwindlich» erstand in urwüchsiger Mischung von Phantastik und Realismus. Die subtile Wortdeutung erreichte in der herrlichen Schumann-Gruppe letzte Feinheiten.

Der frenetische, nicht endenwollende Beifall - ungewöhnlich in diesem Ausmasse für einen Liederabend - bewog die sichtlich erfreuten und glänzend disponierten Künstler zu sieben Beigaben. Dieser unvergessliche Konzertabend war kein Erfolg, er war ein Triumph.

Isabell Frei-Moos

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