Zum Liederabend am 19. Juli 1971 in München

Süddeutsche Zeitung, 21. Juli 1971 

Suggestiv gesungenes Fin de siècle

Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann mit Liedern von Schönberg, Webern, Berg und Fortner

Man weiß es, ein Liederabend von Fischer-Dieskau bewegt sich auf den höchsten Höhen der Gesangskunst, und man dankt es ihm mit einem ausverkauften Herkulessaal, selbst wenn er mit einem so streng komponierten und anspruchsvollen Programm kommt wie jenem, das in den Vorankündigungen der Münchner Festspiele als "Lieder des 20. Jahrhunderts" bezeichnet worden war: Die Zugkraft des Namens Fischer-Dieskau überwand das Mißtrauen gegen "moderne Musik".

[...]

Wahrscheinlich gibt es heute keinen zweiten Sänger, der die lyrische Sprache dieser Zeit in Wort und Ton so suggestiv zurückzurufen vermag wie Dietrich Fischer-Dieskau, der es wagen kann, sie allein mit Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg vernehmlich zu machen und auf die zu verzichten, die sich in ihr weit eingängiger (wenn auch keineswegs läßlicher im künstlerischen Anspruch) auszudrücken wußten, wie Strauss und Pfitzner, Reger und Mahler. Und, um es vorweg zu sagen, es gibt auch kaum einen zweiten Begleiter wie Aribert Reimann, der, selbst eines der hervorstechendsten kompositorischen Talente unserer Tage, die geistig wie technisch gleichermaßen souveräne vokale Deklamation Fischer-Dieskaus pianistisch so sensibel, mit einem solchen Reichtum an Klangfarben und Anschlagsvaleurs zu reflektieren versteht. Ähnlich vollendetes Korrespondieren zwischen Sänger und Begleiter hörte man nur noch, wenn Gerald Moore am Flügel saß.

Wer würde bei der debussystisch-skrjabinisch glitzernden "Erwartung" (Dehmel), bei den mit Strauss’schem Schwung anhebenden "Aufgeregten" (Gottfried Keller), die Fischer-Dieskau sogleich in parodistische Emphase versetzte, auf Schönberg (op. 2 und 3 ) kommen? Eher profiliert er sich schon in der weiträumigen Melodik, in der verästelten Chromatik der Lieder aus op. 12 "Der verlorene Haufen" - wieviel eigentümlich Ahnungsvoll-Selbstbekennerisches steckt in diesem der Gattung des "Trutzlieds" angehörenden Gedicht von Viktor Klemperer (dem verstorbenen älteren Bruder Otto Klemperers) und in seiner Vertonung! - und op. 14 "Ich darf nicht dankend an dir niedersinken" von Stefan George. Aber selbst noch die erst 1933, nach dem Abbruch der Arbeit an "Moses und Aron", entstandenen Haringer-Lieder "Sommermüd" und "Tod" bezeugen Schönbergs nie ganz abgerissene Rückverbindung zur Liedtradition von Brahms. Da ist die zwischen 1907 und 1909 entstandene Gruppe der George-Lieder von Anton Webern, darunter das geisterhaft entrückte "Ihr tratet zu dem Herde" mit der unbegleiteten, von Fischer-Dieskau wie ein magisches Siegel gesungenen Schlußzeile "Es ist worden spät", schon viel weiter in vorexpressionistische Bereiche vorgestoßen, da ist die Deklamation schon ganz "essentiell", die lyrische Subjektivität gleichsam versprengt in den Formpartikeln des sich nun schon miniaturhaft zu verdichten beginnenden Klaviersatzes. Alban Berg, mit dem Fischer-Dieskau seinen Gang durch das Lied-Terrain der "Wiener Schule" beendete, basiert seine vier Lieder op. 2 nach Gedichten von Friedrich Hebbel und dem "Kosmiker" Alfred Mombert auf einer Quartenharmonik, die dem auch in der poetischen Stimmung ein-thematischen Zyklus - es geht darin um den Schlaf - das vereinheitlichende musikalische Signum gibt. Auch hier kam, dank Fischer-Dieskaus (nur gelegentlich das Manierierte streifende) Kunst der Vokalfärbung eine irrationale Schlußzeile wie die Verkündigung eines Mysteriums aus seinem Mund: "Der eine stirbt, daneben der andere lebt - das macht die Welt so tiefschön."

Musik der unmittelbaren Gegenwart kam mit der Münchner Erstaufführung (nicht Uraufführung, wie das Programmheft fälschlich mitteilte) von Wolfgang Fortners "Terzinen" zu Wort. Dabei fesselte vor allem die Brechung der noch stark im Banne des Symbolismus stehenden frühen Poesie Hugo von Hofmannsthals in einer hochexpressiven musikalischen Diktion mit weiten Intervallräumen, die sich zuweilen bis zur Gegenpoligkeit zu der klangästhetizierenden Wortmusik der Gedichte erstrecken kann. Bewundernswert, wie Fischer-Dieskau dabei die nicht leicht zu treffende Verbindung des Stimmungsmoments in den (fast wie von Maeterlinck inspirierten) Texten und des Ausdrucksmoments der Komposition gelang - auch hier stand ihm Reimann, es im Klavier glasklar artikulierend, mit feinster Einfühlung zur Seite. Fortner wurde mit seinen Interpreten sehr gefeiert, die sich auch durch den Beifallssturm am Schluß nicht zu einer Zugabe bewegen ließen. Mit Recht - nach einem Programm, das nicht aus dem "Füllhorn des Liedes" geschüttet, sondern auf einige geistige Spektrallinien der Musik dieses Jahrhunderts hin konzipiert war, kann man nicht mit einem "Traum durch die Dämmerung" oder "Habe Dank" weitersingen.

K. H. Ruppel


     Abendzeitung, München, 21. Juli 1971     

Fischer-Dieskau im Herkulessaal

Ein Barde mit Gewissen

   

Münchner Festspiele: Dietrich Fischer-Dieskau sang im ausverkauften Herkulessaal Lieder der Wiener Schule.

Dietrich Fischer-Dieskau weiß, wie sehr sein Name zieht, wie leicht er sich folglich das Leben machen könnte. Doch Fi-Di, Europas Barde Nummer eins, hat ein künstlerisches Gewissen. Konsequent wie kaum einer unter seinen berühmten (Dirigier-)Kollegen, nützt er seinen Nimbus und zeigt dem Publikum daß es neben Schubert und Schumann noch einige Liedkomponisten gibt, die zu Unrecht im Konzertbetrieb geächtet sind. Fischer-Dieskau weiß mit seiner Berühmtheit zum Glück etwas anzufangen.

Zu hören waren Lieder von Schönberg, Webern, Berg und Fortner. Am Flügel Aribert Reimann, dem ein Gutteil der dichten Atmosphäre dieses Abends zu danken war. Ein Liedprogramm, das Stoff für eine ganze Reihe von Gedanken bietet, etwa über den differenzierten Umgang von Webern und Schönberg mit Stefan-George-Texten, über die Beziehung Fortners zu Hofmannsthal oder über den Kontrast Webern-Schönberg im Jahre 1908, als der eine schon Avantgardist war und der "Lehrer" Schönberg noch tief im 19. Jahrhundert steckte.

Fischer-Dieskau zeigte in unnachahmlicher Manier, mit welcher Kühnheit der 16jährige Webern modulierte, er zeigte in diesem klug zusammengestellten Programm, wie expressiv sich die Musik jener vordodekaphonischen Zeit gebärdet, eine Expressivität, die dann im strengen Zwölfton weiterlebt.

Fischer-Dieskau bot eine Festspielveranstaltung, wie man sie sich der Idee nach besser nicht wünschen kann: Vom breiten Publikum fälschlich Verfemtes aus erster Hand eben diesem Publikum lächelnd servieren. Es hat angebissen.

Helmut Lesch


     Münchner Merkur, 21. Juli 1971     

Münchner Festspiele: Liederabend und "Capriccio"

Fischer-Dieskaus neue Botschaft

    

Es ist immer noch eine kleine Sensation, wenn während der Münchner (und der meisten anderen) Festspiele ein Liederabend überwiegend der Wiener Schule gewidmet ist. Dietrich Fischer-Dieskau sang im Herkulessaal ein Programm, das der Allgemeinheit kaum bekannt war. Und er erntete intensiven Schlußbeifall.

An den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts führten die jeweils ersten Lieder der Gruppen von Schönberg und Webern zurück, also - übrigens auch noch bei Berg - zur direkten musikalischen Weiterführung des "Tristan"-Erlebnisses. Die Auswahl entsprach ganz dem Intellekt und der untrüglichen Musikalität Fischer-Dieskaus: welch ein Unterschied zwischen der skurrilen Idylle in Gottfried Kellers "Die Aufgeregten" und der merkwürdig abseitig militanten Poesie von Viktor Klemperers "Der verlorene Haufen"; erst in opus 48 (1933 auf Texte des damals noch jungen, in Dresden geborenen Jakob Haringer) ist bei Schönberg die "Atonalität" erreicht.

Webern löst sich schon früher, in den sehr starken George-Liedern der Jahre 1907 bis 1909, konsequent von der Funktionsharmonik. Aus der gleichen Zeit stammt Alban Bergs Vierer-Zyklus opus 2 auf Texte von Hebbel (übrigens dem ältesten aller in diesem Programm erscheinenden Dichter) und Mombert - geniale, auf sublimste Weise illustrative Gesänge in einer stellenweise an Skrjabin erinnernden latent ekstatischen Harmonik.

Eine sinnvolle Ergänzung bildeten vier Terzinen-Vertonungen nach Hofmannsthal von Wolfgang Fortner, der sich einmal mehr als großer Liedmeister erwies. Die Klangtropfen der strengen Reihentechnik (1963) rücken die Dichtungen in eine andere Wirklichkeit, die besonders in "Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen" einen eigenartigen Zauber bewirken; ob das auch für eine weniger meisterhafte Interpretation zuträfe, läßt sich nicht entscheiden.

Aribert Reimann war ein großartiger Begleiter des Sängers Fischer-Dieskau, dessen Beherrschtheit im Ausdruck, dessen Piano und mezza voce schon lange nicht so zu bewundern waren. Vielleicht beflügelt von der Freude am Übermitteln einer für viele neuen Botschaft.

Karl Robert Brachtel


     tz, München, 21. Juli 1971     

Kürze = Reife & Würze

Dieskau sang

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau im Herkulessaal.

    

Differenzierungsvermögen, Konzentration und musikalische Empfindsamkeit wurden auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Dietrich Fischer-Dieskau "der Große" widmete seinen Liederabend Meistern der gepflegten Moderne - Schönberg, Webern, Fortner, Berg - und tat ganz so, als handle es sich um Schubert und die "Winterreise". Für meinen Geschmack allerdings befanden sich zu viele Haare in der Suppe, gingen Kunst und Schwulst oft zu einträchtig Hand in Hand. Schönbergs "Sommermüd" zum Beispiel hatte vom Text her (Jakob Haringer) fast deutsches Schnulzen-Niveau.

Am eindrucksvollsten, von Fischer-Dieskau mit zwingender Intensität ausgelotet, hoben sich Anton Weberns Liedkompositionen ab. Hier liegen in der Kürze Reife und Würze. Dietrich Fischer-Dieskau machte aus dem Programm einen sängerischen Höhenflug. Man hätte gern gewußt, ob der enorme Beifall nur ihm oder auch den Komponisten galt. Am Flügel schuftete Aribert Reimann mit verständiger Notenkenntnis.

Stephan Kayser


     "Oper und Konzert", München, 8/1971     

Herkulessaal

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

    

Der erste Liederabend im Rahmen der Münchener Festspiele bleibt wegen seines ganz ungewöhnlichen Programms in besonderer Erinnerung: eine Liedauswahl der drei wesentlichen Vertreter der "Wiener Schule". Es ist interessant festzustellen, wie im Schatten und unter dem stilistischen Einfluß der bedeutendsten Liedkomponisten kurz vor der Jahrhundertwende sich das Klavierlied weiterentwickelt hat, und wie dann etwa zwischen 1905 und 1910 die Zwölftontechnik auch im Kunstlied Anwendung gefunden hat. Daß Anton von Webern seinem Lehrer Arnold Schönberg hierin voranzugehen scheint, erwiesen die Lieder "Am Ufer" und die Auswahl aus op. 3 und op. 4, wogegen Schönberg relativ lange noch dem spätromantischen Stil verhaftet bleibt. Es stimmt nachdenklich, wenn man die Lieder dieses Programms in ihrer textlich-musikalischen Bezogenheit betrachtet und feststellt, wie viel entfernter uns die Namen eines R. Dehmel, G. Keller, V. Klemperer und J. Haringer (bei Schönberg), F. Avenarius, M. Greif und Stefan George (bei v. Webern), sowie F. Hebbel und A. Mombert (bei Berg) erscheinen gegenüber diesen drei "klassischen Zwölftönern"; dort noch Worte wie "Heiligtümchen", "Mailüftchen" und "weiße Märchenhand", und hier eine neue Klangsprache, die freilich weitgehend an Traditionen gebunden bleibt. Wenn dann aber ein Komponist unserer Tage Hugo v. Hofmannsthals "Terzinen" musikalisch gestaltet, so scheinen die Vorstellungen eines gewohnten und sinnvollen Wort-Ton-Verhältnisses restlos zerstört; Wolfgang Fortner mag die Ratlosigkeit des Publikums nach der "Uraufführung" (wohl eher "Erstaufführung") seiner 1963 komponierten "Terzinen" deutlich gespürt haben: Der Beifall galt der denkbar besten Interpretation und freundlicherweise dem anwesenden Komponisten, minimal aber seinen vier Liedern.

Dietrich Fischer-Dieskau gebührend würdigen zu wollen hinsichtlich seiner unvergleichlichen Gesangskultur und künstlerischen Ausdrucksfähigkeit, hieße Eulen nach Athen tragen. Mit welchem Feingefühl diese Liedfolge zusammengestellt war, bedarf eines besonderen Lobes. Unnötig zu sagen, daß sogar dieses "ausgefallene" Programm bei den Hörern bestens "ankam". Man empfand es übrigens als geradezu selbstverständlich, daß Fischer-Dieskau dieses Programm nicht auswendig vortrug. - Aribert Reimann vollbrachte als Liedbegleiter und Mitgestalter am Flügel eine großartige Leistung. Sein Anteil am starken Eindruck dieses Liederabends war ganz beträchtlich.

Hans Busch


     Trierische Landeszeitung, 27. Juli 1971     

Botschafter des Unbekannten

Liederabend Fischer-Dieskaus mit Werken der Moderne

    

Daß Liederabende Fischer-Dieskaus seit langem Gipfelpunkte dieser Kunstgattung sind und vor ausverkauften Häusern stattfinden, ist kein Novum mehr. Daß ein Künstler seines Ranges die vorhandene Popularität einsetzt, um dem Publikum musikalisches Neuland, fremde Horizonte der Liedgestaltung zu erschließen, ist ebenso selten wie bemerkenswert und machte diesen Abend zu einem der wichtigsten Ereignisse des diesjährigen Festspielsommers.

Das Programm des Liederstars bot diesmal ausschließlich Liedgut des 20. Jahrhunderts, neben den Komponisten der "Wiener Schule" Schönberg, Webern und Alban Berg war noch Wolfgang Fortner mit einer Vertonung von Hofmannsthals "Terzinen", für München erstaufgeführt, vertreten.

Die Lieder der Wiener Tonschöpfer gehören zwar tonal den Strömungen der Gegenwartsmusik an, entnehmen jedoch ihre Texte vorwiegend der literarischen Bewegung des Fin de siècle, dem Symbolismus, Neuromantizismus, Jugendstil, dem Schaffen eines Stefan George, Richard Dehmel, Alfred Mombert und ihrer Zeitgenossen. Diese Welt in Wort und Ton sichtbar zu machen, erschien die gleichermaßen von Intellekt und Sensibilität geprägte Kunst Fischer-Dieskaus prädestiniert.

Am Flügel begleitete ihn einer der hervorragendsten Gegenwartskomponisten: Aribert Reimann, der unlängst mit seiner Oper "Melusine" Aufsehen erregte. Er erreichte mit seiner ungemein feinnervigen, klangfarbig subtilen und technisch souveränen Begleitung einen Grad der Übereinstimmung mit dem Sänger, der ideal war.

Fischer-Dieskau, als Interpret von geistigem Rang und technisch-gesanglicher Meisterschaft nach wie vor unerreicht, vermochte die lyrische Sprache der Dichtung bis in die letzten Tiefen zu durchleuchten und in Wort und Ton mit suggestivem Leben zu füllen, er faszinierte einmal mehr durch vorbildliche Deklamation, sein kultiviertes Mezza voce und die Kunst subtiler Schattierungen und Ausdrucksvaleurs. Der Meister differenzierter Zwischentöne arbeitete auch den spezifischen Stil der jeweiligen Lieder heraus, zeigte die Kühnheit der Webernschen Modulation, Schönbergs damalige Verhaftung in illustrativer Manier, Alban Bergs expressive Tonsprache und die strenge Reihentechnik der Fortner-Komposition, die als sinnvolle Ergänzung und Weiterführung der Kompositionstechniken der "Wiener Schule" ihren Platz im Programm des Abends behauptete und in der Aussage mit Hofmannsthals neuromantischen Texten den übrigen Dichtungen verwandt schien.

Das Publikum, den großen Herkulessaal bis auf den letzten Platz füllend, folgte dem bedeutenden Liedgestalter willig auf bisher unbekannten musikalischen Pfaden und gab am Schluß seiner Faszination langanhaltenden, stürmischen Ausdruck. Ein Konzert, das den Sinn des Festspielgedankens neu erhellte und glanzvoll legitimierte.

Ingeborg Köhler


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