Zur Oper am 4. November 1970 in Hamburg


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. November 1970

Kein Abschied von Salome

Everdings Inszenierung der Strauss-Oper unter Karl Böhm in Hamburg

[...]

Mit Jochanaans Predigerrufen aus der Grabestiefe seiner Zisterne, dem amphitheatralisch umrandeten Mittelpunkt im Bühnenbild Toni Busingers, der die jugendstilige Üppigkeit der Londoner Ausstattung Andrzej Majewskis ersetzt durch einen recht prosaischen Doppelstöcker, ein schlichtes Spielgerüst vor der himmelhohen Skyline wechselnd illuminierter Farblichtträger - mit Fischer-Dieskaus mächtig strömendem, konsonantisch scharf akzentuiertem Schöngesang, der die oft kritisierten Schwächen der Jochanaan-Partie aufwertet, wird die entscheidende Begegnung der zunächst nur kindhaft neugierigen Prinzessin mit dem Propheten sinnvoll eingeleitet.

Denn dieser etwas verdächtig stark eifernde Asket am Lotterhof des Tetrarchen ist, in Fischer-Dieskaus statuöser Verkörperung, für die hungrigen Augen der Sechzehnjährigen trotz seiner Lumpen ein verwirrend schöner Mann mit fremdartig attraktiver Ausstrahlung.

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Klaus Wagner


   

     Die Zeit, 13. November 1970     

   

Intensiv halbherzig

Karl Böhm und August Everding mit Strauss’ "Salome" an der Hamburgischen Staatsoper

[...]

Natürlich wird Everding, der die "Salome" schon bei Solti in London inszeniert hat, genau gewußt haben, was er diesmal wollte, nur daß er es nicht zu realisieren vermochte. Zu wenig Proben? Widerstand des Dirigenten, der auf dem Primat des Musikalischen vor dem Szenischen bestand? Ein nicht sonderlich geglücktes Bühnenbild? Das alles mag dazu beigetragen haben, daß die Aufführung unentschieden und halbherzig und oft auch verworren anmutete.

Statt der großen Terrasse, die Strauss haben wollte, entwarf Toni Businger einen zweistöckigen, halbrunden Bau, der die in der Mitte der Bühne befindliche und offenbar sehr geräumige Zisterne umgibt und der mich in seiner Strenge und Kargheit eher an ein Gefängnis als an einen Palast erinnerte. Sollte damit etwa der Kerker der Triebe, in dem die Figuren leiden, symbolisiert werden? Jedenfalls konnte dieses Bühnenbild weder die Stimmung fördern, noch die Arbeit des Regisseurs erleichtern.

Ärgerlich vor allem, daß nicht wenige szenische Arrangements zufällig oder ganz und gar willkürlich schienen. Warum einzelne Figuren oder Gruppen plötzlich das Bedürfnis verspürten, die Bühne zu überqueren, blieb unerfindlich. Dabei fehlt es der Aufführung nicht an hervorragenden Nuancen, an durchdachten und originellen Details; Everding kann mit vielen Einfällen aufwarten, nur einen behält er leider für sich - den zentralen, den tragenden Einfall, der unentbehrlich ist, wenn eine Folge von Auftritten eine geschlossene Inszenierung ergeben soll.

Deutlicher sind Everdings Intentionen in den (freilich sehr unterschiedlichen) Leistungen der Hauptdarsteller sichtbar. Persiflierende und groteske Elemente bleiben weitgehend ausgespart, die Figuren sollen alle sehr ernst genommen werden, auch Herodes, den Strauss - laut eigener Aussage - "reichlich karikiert" hat.

Richard Cassillys würdiger Herodes nähert sich zwar niemals einer Karikatur, wirkt aber mitunter doch etwas komisch, was wohl an begrenzten schauspielerischen Möglichkeiten dieses Sängers liegt.

Aus der in jeder Hinsicht fatalen Rolle des Jochanaan läßt sich beim besten Willen nicht viel machen. "Für mich" - schrieb Strauss in einem Brief - "hat so ein Prediger in der Wüste, der sich noch dazu von Heuschrecken nährt, etwas unbeschreiblich Komisches." Dietrich Fischer-Dieskau bringt immerhin das Wunder fertig, die Figur nicht nur von unfreiwilliger Komik zu befreien, sondern fast schon glaubhaft zu machen.

Die Rolle der Salome ist nach wie vor eine der schwierigsten der Opernliteratur und im Grund ein unlösbares Problem: Noch hat es, soviel ich weiß, keine Darstellerin gegeben, die den außerordentlichen gesanglichen, schauspielerischen und tänzerischen Ansprüchen zugleich gerecht geworden und auch noch jung und schön gewesen wäre. Hier hat Strauss zuviel auf einmal verlangt.

Dank Gwyneth Jones, die in dieser Partie zum erstenmal auftrat, konnte Everding eine zwar nicht ganz überzeugende, aber originelle Konzeption der Rolle vorzeigen. Wenn das Ganze nämlich ein Parabelspiel vom Leiden des Individuums an seiner Sexualität sein soll, dann hört Salome auf, eine höchst anrüchige und perverse Sexbombe zu sein. Sie erscheint vielmehr als unglückliches, frustriertes Mädchen, frühgereift und zart und traurig. Aber in der Hamburger Inszenierung wollte diese Rechnung nicht recht aufgehen.

Salome sei - schrieb schon Wilde, und für die Strauss’sche Fassung gilt das um so mehr - eine "tragische Tochter der Leidenschaft". Gwyneth Jones hingegen verkörperte eher eine vornehm verzweifelte Tochter des Leidens, die nie vergißt, daß sie eine Prinzessin ist - auch nicht in dem wunderbar gesungenen, doch in ihrer Interpretation wohl etwas zu lyrisch geratenen Schlußmonolog, auch nicht in dem sorgfältig disponierten Tanz der sieben Schleier, der hier dankenswerterweise nicht einer choreographischen Einlage ähnelte, sondern durchaus sinnvoll ins Ganze einbezogen wurde.

Gewiß, daß Herodes und Narraboth (Wieslaw Ochman blieb der Rolle nichts schuldig) in diese blendend schöne Salome verliebt sind, leuchtet sofort ein. Nur hätte sie es, glaube ich, niemals gewagt, den Kopf des Jochanaan zu fordern. Mit anderen Worten: der Salome der Gwyneth Jones fehlt das Dämonische und Tragische, also genau jene Dimension, der diese Gestalt ihr extremes Format verdankt.

Die illustren Gäste, denen das Premierenpublikum so bereitwillig zujubelte, sind mittlerweile wieder abgereist. Everdings unentschlossene und kleinmütige Inszenierung ist geblieben. So sieht eben der Opernalltag aus, auch in Hamburg.

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Marcel Reich-Ranicki


   

     Die Welt, Ausgabe B, Berlin West 6. November 1970     

    

Salome - sehr fern, sehr einsam

Karl Böhm dirigiert die Strauss-Oper in Hamburg - Titelpartie: Gwyneth Jones

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In der Inszenierung August Everdings [...] kommt keine rechte Spannung auf. Obschon nichts falsch gemacht ist, ist oft auch nichts zwingend richtig. Die Sänger agieren häufig, jeder für sich, nebeneinanderher. Dramatische Energien entwickeln sich dadurch nur selten - am ehesten dann noch, wenn das Geschehen ganz in einer Figur zusammenfließt, wie bei Salomes Tanz, der, eigentliches Plus dieser Inszenierung, keine "Nummer" ist, die sich störend und retardierend in den Ablauf einschiebt, sondern integriert wird in das Geschehen und es weiterführt. Everding läßt seine Salome Gwyneth Jones, die bei aller Zurückhaltung viel erotisierender tanzt als etwa die mehr mit ihrem Sex protzende Anja Silja, zunächst vor Herodes sich produzieren und sich später, nicht nur räumlich, immer mehr von ihm entfernen, bis sie sich immer ekstatischer der Zisterne nähert und am Ende auf sie niederfällt - so gelöst, schön und rein, daß man sich fast ein wenig wundert, daß sie immer noch auf dem Kopf des Jochanaan besteht.

Das Tetrarchenpaar läßt Everding, gegen alle Aufführungskonvention, sich erzgesund geben. Keine faulenden, verwesenden Wracks schleppen sich auf den Thron. Ein Trumm von einem Kerl, jeder Zoll ein Herrscher, der sich - zeitweilig etwas verärgert, aber kaum je wirklich irritiert oder gar umnachtet - am Ende wieder gefangen hat: Richard Cassilly, der, ohne der Herodes-Partie etwas zu vergeben, das stimmliche Charakterisieren nicht übertreibt und seinem Heldentenor Kraft gibt, zum richtigen Singen sich entschließt. Eine üppig im Fleisch stehende, ihres Körpers sich bewußte Herodias in ihren besten Jahren, die sich Pagen und Sklaven heranwinkt und sie unverblümt zu befummeln beginnt: Mignon Dunn, deren Stimme es anfangs an Volumen und im ganzen an Ausstrahlung doch ein wenig fehlt.

Jochanaan: Ein zorniger Eiferer

Dietrich Fischer-Dieskau erniedrigt den Jochanaan nicht zum Schönsänger. Ein weltenferner Eiferer, der sich, aus Gebet und Andacht hochgeschreckt, die Augen reibt, wenn er aus der Zisterne ins Licht steigt, postiert sich vor Salome. Ein zorniger Prophet mit manchmal sogar brutalen Tönen, der die schwärmerische Kantilene selbst in dem Moment verabscheut, wo er von dem Manne in einem Nachen auf dem See von Galiläa berichtet. Die Anfangsszenen leben von Wieslaw Ochman, der den Narraboth mit stämmigem, gleichwohl lyrischer Farbe und großen Belkanto-Bögen fähigem Tenor singt. Das übrige Ensemble kann mit den großen Partien besser mithalten, als es in "Salome"-Aufführungen gemeinhin üblich ist. Bis in die Kleinpartien hinein hört man erste Sänger des Hauses: Ursula Boese zum Beispiel als Pagen, Kurt Moll als ersten Soldaten, Hans Sotin als ersten Nazarener, Peter Haage als ersten Juden in einem Quintett, das den Fallstricken, die der Komponist hier auswirft, nicht erliegt.

Zentrum der Szene ist, stets unangefochten, Gwyneth Jones. Manche Zweifel sind gegen sie laut geworden. Der eine beklagt ein Tremolo, der andere Intonationsfehler, der eine Höhenschärfen, der andere die Artikulation. Dies scheint mir reichlich beckmesserisch, denn mag das alles im einzelnen auch richtig sein, so ist es im ganzen doch falsch. Gewiß: Die Jones, die sich ja immer äußerst kühn bis an ihre Grenzen vorwagt und manchmal auch darüber hinaus, muß um die Salome kämpfen. Doch sie ist siegreich. Anfangs ist mehr das Kämpfen zu hören, am Ende nur noch der Sieg. Im Schlußgesang gewinnt ihr Sopran fast instrumentales Ebenmaß, klingt er blütenzart und klar und hat doch die Kraft, gegenüber dem Orchester zu bestehen, dessen Gewicht Böhm nichts nimmt. Über manchen vielleicht nicht ganz gelungenen Ton trägt sie auch vorher schon ihre nie nachlassende, immer präsente darstellerische Intensität hinweg.[...]

Peter Dannenberg


  

     Hamburger Abendblatt, 5. November 1970     

   

Sensationelle "Salome" in der Staatsoper

Verirrte Taube in verderbter Umwelt

Halbstündige Ovationen für Gwyneth Jones und das Ensemble / Unübertroffener Strauss-Dirigent Böhm

    

Die Galapremiere der "Salome" von Richard Strauss – als Festspielattraktion der Hamburgischen Staatsoper angekündigt und entsprechend dotiert – hat sich als künstlerisches Ereignis von Ausnahmerang erwiesen. Was an dieser Aufführung so ungeheuer faszinierte, war die ganz ungewohnte Ausdeutung von Musik und Szene. Was Böhm, was Everding an neuen Farben auf die Beschwörung der Atmosphäre verschwendeten, das hat die pervers makabre Handlung dieser unheiligen Legende schlagartig von aller Peinlichkeit befreit.

Die Geschichte der Salome, die vor dem Hintergrund einer großen Zeitenwende spielt, ist erfüllt von Angst. Etwas Neues zeichnet sich ab, von dem der Prophet kündet, was aber weder erkennbare Gestalt noch Umriß hat. Hier ist der Ansatzpunkt für den Regisseur und seinen Bühnenbildner. Der Tetrarchenpalast wird zum goldenen Gefängnis. Das optische Symbol der Szene ist ein Kegel, dessen Spitze auf dem Grund der Zisterne zu denken wäre. Die Figuren der Handlung leben eingeschlossen im Kerker der Ängste, der Sinnlichkeit, der Dogmen, der Neurosen – ohne Ausweg, denn Natur ist nicht mehr gegenwärtig.

Toni Businger, der architektonisch auf herkömmliche historisierende Exotik verzichtet, läßt auch die Illusion einer gleißenden orientalischen Mondnacht kaum mehr aufkommen. Ein fahles Blau dringt von außen herein, aber der übliche plakative Mond fehlt, so oft er auch im Text zitiert wird. Der Wandel der Stimmungen in dieser unheilschwangeren Atmosphäre wird durch Licht und Farbkompositionen hinter Glas suggeriert, synchron zur Partitur und ihren alles überflutenden Reizfarben. Gerade diese sparsame Stilisierung der in zwei Ebenen und durch terrassenförmig ansteigende Stufen gegliederten Szene unterscheidet sich deutlich von der traditionellen Ausstattung des dekadenten Milieus.

Everding macht aus dem Stoff mehr als eine sexualpathologische Studie. Nach der konventionellen Opernschablone wurde uns die Salome stets als exaltiertes Ungeheuer vorgeführt: perverses Luxusgeschöpf und beutegieriges Raubtier, bis Wieland Wagner auf Freud umschaltete und die Prinzessin zur nymphomanen Exhibitionistin machte.

Mit Gwyneth Jones, die diese Rolle in Hamburg zum ersten Male sang, hat der Regisseur eine ganz neue Interpretation erarbeitet. Das verwöhnte eigensinnige Kind Salome, die "verirrte Taube" in einer verderbten Umwelt, das unwissende, unberührte Geschöpf, lebt in seiner Phantasiewelt isoliert, bis die zufällige Begegnung mit Jochanaan ein unbegreifliches Liebesverlangen weckt.

Wie jedes junge Mädchen identifiziert sie das vage Traumbild des "Geliebten" mit dem ersten Mann, der ihr imponiert. Von der abweisenden Haltung, von dem Fluch des Propheten gleichermaßen verstört, gekränkt und herausgefordert, reagiert sie mit einem Übermaß an Emotion. Der Schleiertanz wird zum unbewußten Liebesakt. Die absurde Wunschvorstellung, in der Vereinigung mit dem Toten das Mysterium der Liebe zu erleben, ist die Flamme der Leidenschaft, an der sie verbrennt. Die Dolche kommandierter Mörder treffen nur noch den entseelten Körper. Die kindlich romantische Seele der Salome ist es, die Everding mit dieser Interpretation entdeckt hat, weil er die Figur vom Typ der Darstellerin her entwickelte.

Die Stimme von Gwyneth Jones, die nichts von dämonischer Sinnlichkeit hat, aber sich in lyrischer Inbrunst und erregendem hochgesteigertem Espressivo verschwendet, vibriert von unbändiger Energie. Der naive Ton ihrer Auftrittsszene wirkt noch etwas zu absichtsvoll und wird auch vom Dirigenten kaum respektiert. Aber ihre konsequente und unglaublich "natürlich" erlebte Gestaltung, die wunderbare Anmut ihres erotisierenden Tanzes, die Wandlungsfähigkeit ihrer Mimik, ihr schonungsloser Einsatz bis zum überwältigenden, fast schon entrückten Schlußmonolog (welche Salome singt schon von Anfang an voll aus!) – das alles war aufrichtig zu bewundern, sosehr man auch anfangs gebangt hatte, weil in den ersten Szenen eine gewisse Nervosität spürbar wurde.

Das Bemerkenswerte an dieser Inszenierung und Personencharakterisierung ist die Tatsache, daß Everding jegliche Hysterie gebannt und alles Lächerliche oder Karikierende ausgeschaltet hat. Das Judenquintett zum Beispiel (Haage, Förster, Marschner, Kruse, Blankenburg) ist kein groteskes Intermezzo wild gestikulierender Narren, sondern wird als ernsthafter theologischer Disput zwischen Fanatikern dargestellt. Herodes und Herodias sind keine widerlich verkommenen Charaktere oder menschliche Wracks. Richard Cassilly stellt trotz seiner neurotischen Verstörung immer noch einen Supermann, einen faszinierenden Nero-Typ dar. Mignon Dunn verkörpert statt einer schlecht gelaunten Xanthippe die liebestolle Verführerin, stets von Verehrern umringt, dem Dolce Vita hingegeben.

Mit erfinderischen Details hat der Regisseur die Verhältnisse über Kreuz verdeutlicht, die sich in den unerfüllten Liebesbeziehungen zwischen Narraboth-Salome-Jochanaan-Page-Herodias abzeichnen. Daß auch die Nebenrollen mit ersten Kräften besetzt waren – nennen wir nur Narraboth (Wieslaw Ochman), Page (Ursula Boese), die zwei Soldaten (Kurt Moll, Carl Schultz) und die zwei Nazarener (Hans Sotin, Horst Wilhelm) - , entsprach dem Festspielrang.

Der unvergleichliche Dietrich Fischer-Dieskau als Jochanaan faszinierte unter- und überirdisch mit der zornigen Ekstatik seiner machtvollen Prophetenstimme. Wie ein Grünewald-Johannes aus der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars stand er am Rande der Zisterne, deren aufgeklappter Deckel mit dem ornamentalen Gitterwerk einer gotischen Rosette glich.

Karl Böhm, der große Strauss-Experte, führte das Philharmonische Staatsorchester mit unwahrscheinlichem Elan zu triumphalem Erfolg. Er verlangte das Höchstmaß an Volumen und Glanz, und das nicht nur in den sinfonischen Zwischenspielen. Selten wurde die differenzierte Partitur so farbintensiv und mit allen schillernden Nuancen und genialen Tonmalereien ausgehört! Das rauschhafte schwelgerische Erlebnis dieser expressiv aufgeladenen Musik, die enorme Intensität und Spannung der Aufführung überwältigte das Premierenpublikum derartig, daß sich nach dem Fallen des Vorhangs lähmende Stille der Erschütterung ausbreitete. Zögernd nur setzte der Beifall ein, der sich jedoch zu halbstündigen jubelnden Ovationen steigerte.

Sabine Tomzig


    

     Münchner Merkur, November 1970     

    

Hamburg: Everding inszeniert Strauss

Eine Bonbonniere für Salome

   

Berauscht durch ein paar große Namen, spendete in der Hamburgischen Staatsoper ein international gesprenkeltes Publikum haltlos einen bisweilen in den Ohren schmerzenden Beifall für eine fragwürdige Neuinszenierung der "Salome" von Richard Strauss.

Der prominenteste Mitwirkende: Karl Böhm. Er wurde zu Recht gefeiert, nicht nur, weil er in Hamburg ein seltener Gast ist, sondern weil er das Orchester so gut wie selten, wenn auch oft stimmentötend laut musizieren ließ. Weiter Richard Cassilly (Herodes) und Mignon Dunn (Herodias), zwei hervorragende Sänger und Spieler fast ohne Makel.

Und dann natürlich Dietrich Fischer-Dieskau als den Propheten Jochanaan: schön, wunderschön und mit der faszinierendsten Gebärde dieses Abends, wenn er bei leicht eingeknicktem Arm mit zwei Fingern seitwärts zeigt - eine Mathias-Grünewald-Pose - und dann den Arm zur Heilsgebärde emporhebt.

Gwyneth Jones sang die Salome. Anfangs eine Art Fanny Hill, naiv und neckisch Lüsternheit probierend, dann eine hochdramatische Isolde (hier musikalisch ihre fesselndsten Augenblicke), dann hilflose Mutter, die Zwiesprache mit ihrem ertrunkenen Baby auf der Silberschale hält und nicht in perverser Lust das abgeschlagene Haupt Jochanaans zu küssen vor hat.

Ihr Schleiertanz war eine Striptease-Posse von so gefährlicher Einfalt, daß künftigen Salomes wohl nur noch zwei Alternativen bleiben: sich doubeln zu lassen oder sich in die Schule einer perfekten Stripperin von der Großen Freiheit zu begeben. Alles andere wirkt heute, 65 Jahre nach der Uraufführung, nur noch lächerlich.

Keine Frage, daß diese Salome - Person wie Oper - nicht zuletzt ein Geschöpf des Regisseurs ist. August Everding betätigte sich im wesentlichen als ein etwas hilflos lenkender Arrangeur. Zwar ließ er keinen Mond mehr aufgehen, gleichwohl übte er Regie wie Vorgestern, ließ Gruppen wie Protagonisten mit einer entnervenden Unlogik hin- und herhuschen.

So mußte Salome manchmal wie eine Hausfrau auf der Laienbühne wirken, so mußte sich die Gruppe der Juden wie eine nervöse Versammlung dümmlicher Plappermäuler geben - eine peinliche Karikatur -, so stand irgendwo irgendwer herum, tänzelten halbnackte Pagen auf geheime Signale herbei.

Großen Anteil an dieser phantasiearmen Inszenierung hatte der Bühnenbildner Toni Businger, der sich eine zuckerbunte, kunstgewerbliche Bonbonniere in der Form eines angeschnittenen Nofretetehutes ausgedacht hatte. Die Architektur mußte jede Regiebemühung hemmen: keine Terrasse, sondern ein Balkon mit zwei Treppen, und unten in der Mitte ein riesiger, leicht gewölbter Gullydeckel, der mit einer grotesken Mechanik gehoben wird. Er war gläsern und wie ein Blatt geädert, eine hübsche Zisterne, ein Verlies sozusagen erster Klasse.

Es ist ärgerlich, wenn Situationen, Ereignisse, Spannungsverhältnisse und Stimmungen nicht auf der Bühne sich selber erklären, sondern nur im Textbuch erkennbar sind.

Manfred Sack


   

     Süddeutsche Zeitung, 6. November 1970     

   

Salome - mehr konfus als pervers

Everding inszenierte, Böhm dirigierte an der Hamburgischen Staatsoper

     

Nicht, daß die Vorfreude das beste gewesen wäre ... Aber gefährlich kann es schon sein, wenn die Erwartungen allzu hoch gespannt werden: sei es durch Publicity, sei es durch das, was man selbst sich erhofft. Salome in Hamburg. Karl Böhm nach 35 Jahren zum erstenmal wieder am Pult der Hamburger Philharmoniker. Gwyneth Jones singt die Titelrolle, Fischer-Dieskau den Jochanaan, Richard Cassilly den Herodes, Mignon Dunn die Herodias, Wieslaw Ochman den Narraboth, Ursula Boese den Pagen. August Everding führt Regie. Toni Businger baut das Bild ... Das muß doch ein Fest des Musiktheaters werden, war außerdem im vorhinein in den Ruch des medienfreundlichen Experiments geraten.

Denn die Deutsche Grammophon-Gesellschaft schnitt mit. Von der ersten Orchesterprobe an bis zur Aufführung, also eine ganze Woche lang, haben die Techniker jeden Ton aufgenommen, auf dem Band festgehalten und sich daraus eine Ideal-Fassung zusammengeschnitten. Dabei kann man sich natürlich fragen, in welches Rom dieser Mittelweg nun führt: Gewiß nicht in das der zündenden Reportage, die um der Spontaneität des Ganzen willen gern ein paar Patzer in Kauf nimmt oder in das der hochperfektionierten Studioaufnahme. Nichtsdestotrotz, Glück breitete sich aus in den Reihen der Schallplattenbosse. "Die sind sehr froh über das, was sie auf dem Band haben", sagte Liebermann am Tag vor der Aufführung.

Auf der Bühne, die ja - Verzeihung - auch immer noch ein Medium ist, sah man’s anders. Auch wenn aus den Mauern der Staatsoper keine Gerüchte nach außen gedrungen wären, daß die Forderungen der Akustik, von Böhm autokratisch raunzend verteidigt, und die Konzeption des Regisseurs hart aufeinandergeprallt waren, hätte sich vermittelt, daß Everdings Inszenierung seltsam unentschlossen, oft gar konfus war. Businger hatte für ihn ein Bühnenbild entworfen, dessen Aufriß das Spiel fördern mußte: In der Mitte, raumbeherrschend, die riesige Zisterne, dessen Deckelrund, aufgeklappt den ganzen Hintergrund verdeckte: darum herum der eher enge Halbkreis eines Innenhofes, von einer Art Balkon noch einmal in zwei Spielflächen aufgeteilt: Herodes und Herodias oben in Voyeurhaltung, unten die Aktion: dazwischen zwei sich schlängelnde Treppen. Unbegreiflich, warum sich Businger diese einleuchtende Konzeption durch eine modernistische Ausführung verdarb. Daß ihm vor dem Folklore-Orient mit Jugendstil-Touch graute, daß er auch von Wieland Wagners kultischer Monumentalität abrücken wollte, sei ihm nicht verdacht. Aber was man nun auf der Bühne sah, wirkte wie Cocktail-Party im Weltraumschiff, beschwor keine mondbeherrschte Welt, sondern das lunare Imperium des Perry Rhodan.

Darin entwickelte sich ein Spiel, das an den zentralen Stellen immer Größe hatte. Der Auftritt des Propheten gelang majestätisch, der Tanz der Salome psychologisch glaubwürdig, konnte sie ihn doch zwei Männern vorführen: dem auf der Estrade, den es zu gewinnen gilt, und dem in der Zisterne, dem jeder Schritt gilt. Doch ansonsten kamen Leute oft nur zum Singen nach vorn. Der Page war vor Salomes Tanz höchst eindrucksvoll weggegangen - dies wollte er nun nicht auch noch sehen -, da steht er plötzlich wieder neben der Zisterne, nur weil die Prinzessin ein paar Worte an ihn richtet. Die fünf Juden, dankenswerterweise nicht zerlumpt sondern im emblemgeschmückten Ornat, waren schon im Hintergrund verschwunden, da spielen sie sich wieder nach vorn, nur weil sie dreißig Takte später auf den Satz des Herodes "Ich will dir den Vorhang des Allerheiligsten geben" empört reagieren müssen.

Mignon Dunn als auch stimmlich glitzernde Hure Babylon und Richard Cassilly als interessant unneurotischer, eher bekümmerter Herodes profilierten das Tetrarchenpaar. Fischer-Dieskaus Prophet beeindruckte - wie nicht anders erwartet - durch eine ingrimmige Bühnenpräsenz, die an Hans Hotter erinnerte und die der Figur, der ja auch das unfreiwillig Komische eines ständigen, hochstilisierten Igittigitt-Rufes anhaftet, ernste Glaubwürdigkeit gab. Die Stimme strömte nicht so ausgeglichen, wie erhofft. Gwyneth Jones, in letzter Zeit vielbeschäftigt, ist kein bizarrer Charakter, sondern eine Seele, beinahe ein Seelchen. Jedes Raffinement liegt ihr fern. Für den hochmütig distanzierten Flirt mit Narraboth findet sie weder einen Gestus noch Parlando. Heldenmütig, ja rührend ist die Tapferkeit, mit der sie diese ihr vielleicht doch fremde Partie nicht nur durchsteht - allerdings mit leicht erbitternden Schonstrecken in der langen Mitte -, sondern sich auch anverwandelt, ins Lyrische nimmt. Den Tanz macht sie - recht so - zum Psychostrip, und alle Kraft hat sie sich für den Schlußgesang aufgespart, der blühend und unforciert gelingt. Erst wenn die Salome alles Verderbte, Wilde und Wildesche abgestreift hat, und nur noch die Reinheit der großen Liebe ist, wird sie bei Gwyneth Jones zur Gestalt.

Hier nun, so paradox das klingen mag, steigert sich Karl Böhm zu galantester Diskretion. Erstaunlich ist es in der Tat gewesen, was er dem Orchester an Unmittelbarkeit und Genauigkeit abgewonnen hat. Aber Durchsichtigkeit habe ich doch vermißt, Stufungen blieb er schuldig. Etwas Pauschales haftete Böhms "Salome" an. Schön war es trotzdem, das Orchester unter einem solchen Dirigenten zu hören. Der Beifall nahm ohrenbetäubende Formen an.

Werner Burkhardt


   

     The Times, London, 9. November 1970     

    

August Everding’s eloquent return to Salome

Salome - Hamburg State Opera

[…]

In mid-summer Mr. Everding was responsible for Covent Garden’s new Salome. Last week he staged Strauss’s opera for Hamburg, but in the four months which have separated the two productions the work has been totally rethought. Even more important, the errors of London which often detracted from a brilliant musical performance, have been considered and eliminated. […]

Around Salome Hamburg have gathered a powerful cast. Dietrich Fischer-Dieskau is a bold, aggressive Jochanaan, voice turned up to full volume. The lights of madness and salvation glitter together in his sunken eyes. His own flesh - or what can be seen of it under black tatters - is whitened by the months in the cistern and he cares not for the flesh of others. "Stark" is the first musical direction given to Jochanaan, and Fischer-Dieskau remembers it at all times.

[…]

John Higgins


   

     Frankfurter Rundschau, Datum unbekannt     

    

Fäulnis als Rauschgift

"Salome"-Neuinszenierung an der Hamburger Staatsoper

[...]

Gwyneth Jones als Salome bewies in Tanz und Darstellung ein erstaunliches künstlerisches Vermögen. Weniger befriedigte ihre gesangliche Leistung. Falsche, starr-leblose, rauh tremolierende Töne, unausgeglichene Registerwechsel, zu vieles von unten hoch Schleifen ohne ausdrucksbedingte Motivation - all das trübte den Eindruck, auch wenn die Ausdrucksfähigkeit dieser Sängerin sowie ihr breites Farbspektrum immer wieder faszinierten. Dietrich Fischer-Dieskaus Darstellung des Jochanaan entsprach ideal der symbolhaften Raumgestaltung. Er sang durchweg mit martialischer, erbarmungsloser Schärfe, oft brutal zugespitzt. Sein Jochanaan kennt keinerlei Schwärmerei, keinen Kompromiß mit dieser in ihrer Zersetzung durchschauten Welt. Kein Zweifel: er ist der Wissende, bei dem Salome keinerlei Chance hat. Aus der Härte seiner Artikulation spricht der revolutionäre Drang nach Zerstörung.

Drumherum gab’s durchweg exzellente Leistungen, vor allem von Wieslaw Ochman (Narraboth), Ursula Boese (Page) und Hans Sotin (Nazarener). Etwas schwächlich bei Stimme war Mignon Dunn als Herodias. Eine vorzügliche sängerische Partie bot Richard Cassilly als Herodes. Er verkörperte weniger eine herrscherliche Elendsnatur als ein gutmütig naives Opfer seiner restlos verderbten "Dirne" Gemahlin. Cassilly vermied übertriebene gesangliche Charakterisierung zum Hysterischen hin. Kraftvoll, fast schön sang er. Man konnte glauben, etwas in ihm weigerte sich gegen das Laster. Sein Befehl, Salome zu töten, hatte beinahe menschliche Größe. Es klang nach Einsicht in den Wahnwitz dieser zerrütteten Wirklichkeit, nicht nach angstgepeinigter Hysterie. Fast schien es, als sei die Welt gerade noch mal zur Ordnung gebracht.

Dieter Rexroth


   

     Abendzeitung, München, Datum unbekannt     

   

Everdings "Salome" in Hamburg

Welt im Griff

     

August Everding, Münchens Kammerspielintendant und heißer Favorit in der Liebermann-Nachfolge um die Hamburger Opernintendanz, inszenierte "Salome" von Richard Strauss. Am Pult der stürmisch umjubelte Karl Böhm. Über zwanzig Minuten Beifall für eine glänzend besetzte Aufführung.

Everdings Erfolgsrezept auf der Opernbühne ist von genialer Einfachheit. Er kombiniert ausgefuchste Schauspielerfahrung mit Weltklassebesetzungen. In seiner Londoner "Salome" waren es Grace Bumbry in der Titelrolle, Georg Solti am Pult und Andrzej Majewsky als Ausstatter. In Hamburg: Karl Böhm, der an diesem Haus 37 Jahre nicht dirigierte, Gwyneth Jones, deren Bühnenpräsenz fast beängstigende Intensität aufweist, und Fischer-Dieskau als Jochanaan.

Dritter und schwächster im Hamburger Dreibund war der Ausstatter Toni Businger. Er lieferte einen leidlich bespielbaren Zwei-Ebenen-Raum, der nichts Suggestives an sich hatte, der eine Idee verharmloste, die eigentlich faszinierend erscheint: Die morbide Welt des Herodes, hingeklebt an die Steilwand eines Trichtersegmentes. Bei Businger war diese abrutschgefährdete Balkonsuite solide dünnwandige Bastelarbeit. Bei einem eventuellen Absturz würde man allenfalls Handwerker verantwortlich machen können, aber nicht die historische Situation.

Folglich ist die Faszination am größten, wenn Everding das Bild in Düsternis taucht und sich ganz auf die agierende Einzelfigur konzentriert. Was die Bauten nicht brachten, hatten die Darsteller im Übermaß: Augenblicke werden zur Faszination, wenn Dietrich Fischer-Dieskau vom Tageslicht geblendet in einer eminent musikalischen Geste die Hände vor das Gesicht hebt, wenn er für kurze Momente versucht scheint, Salome doch in seine Arme zu nehmen. Man überhört es beinahe, daß ihm für diese Partie die nötige Baßtiefe fehlt.

Oder Gwyneth Jones, eine Solome mit hundert Gesichtern; ein Mädchen, dem plötzlich ein schwärendes Furunkel voll sexueller Raffgier wächst - eine begehrenswerte, eine häßliche, eine wunderschöne Salome. Mit Sabber vor dem Munde, begafft von einem wahngestörten Herodes (Richard Cassilly) und kalt betrachtet von einer permanent an irgendwelchen Schenkeln fummelnden Vamp-Herodias (Mignon Dunn). Eine Welt, in der Narraboth (Wieslaw Ochman) und der Page (Ursula Boese) noch frei von Viren scheinen.

Everding hat diese Welt im Griff. Er zwängt sie, nimmt ihr nicht das reißerisch Eruptive, Sinnliche, formt ein Psychodram, das ohne Plakat und über weite Strecken ohne Opernklischees auskommt.

Beachtlich, daß ihm dies trotz eines Karl Böhm gelang, für den bekanntlich nur die Musik zählt. Der kleine und jetzt so große Alte seiner Generation muß mit Zauberkräften auf das Philharmonische Staatsorchester eingewirkt haben. Von den bisweilen sängergefährdenden Lautstärken einmal abgesehen, eine Serie von Höhepunkten. Ein Klangeinfärber, der genau zu wissen scheint, wo’s bei Strauss anfängt interessant zu werden. Musik aus der Zisterne, Moderluft mit großer Geste, Seelenzünder, eingehakt bei Organismus und Orgasmus. Böhm kennt die Dinge.

Helmut Lesch


   

     Weser-Kurier, Bremen, 6. November 1970     

   

Drama der unerfüllten Liebe

Karl Böhm leitete die neue "Salome" von Richard Strauss an der Hamburgischen Staatsoper

[...]

Unter der psychologisch formenden Hand Everdings macht Gwyneth Jones die Entwicklung der Prinzessin erregend deutlich. Träumend entflieht sie dem Morast mondäner Verderbnis, immer noch kindlich naiv, bis ihr beim Ertönen der Prophetie des Jochanaan das Andere, das Unbekannte, der Mann begegnet. Neugier wandelt sich in Gier nach Neuem. Nicht Laune bestimmt ihr Verhalten, sondern kreatürliches, existentielles Bedürfnis. Liebe keimt empor, treibt zur Blüte, wirbt um so hartnäckiger, je mehr die bislang Verwöhnte auf Ablehnung stößt. Trotz kommt ins Spiel, das sich immer mehr der Tragödie zuwendet, weil Salome das als unmöglich Geltende negiert und zu überwinden versucht, getrieben nun von der Sehnsucht nach Vereinigung, nach einer Verbindung von Eros und Ethos, wie sie als fernes Ziel vor allem im Schlußmonolog durchschimmert. Und immer paßte der musikalische Ausdruck Gwyneth Jones’ zur seelischen Analyse. Die Lyrik der reinen Mädchenseele, die Schattierungen der Gesangslinien in Leid und Überschwang, der rasche Stakkatoton und der jähe Ausbruch eines ausgereiften Soprans wie auch das berückende Legato im Monolog wirkten stets sinnvoll und begründet.

Dietrich Fischer-Dieskau setzte das Ethos gegen den heftig aufflammenden, außer sich geratenden Eros. Mit gebändigter Macht ließ er gebieterisch und aufgebracht die Stimme des Rufers in der Wüste erschallen, getragen vom Wohllaut eines Ungefährdeten. Und wo der Erwählte seinem Herrn huldigt (wobei die Inspiration des Komponisten etwas nachgelassen hat), da half der Geschmack des Liedsängers Fischer-Dieskau über ein Nachlassen der Faszination hinweg. In Haltung und Gebärde erinnerte dieser Jochanaan an den Heiligen eines Altarbildes von Grünewald, wie Everding überhaupt jedem Darsteller bis hin zu den Nazarenern und dem individuell gezeichneten Judenquintett eine nicht typisierende, sondern vom Charakter her geprägte Aura zuwies: Richard Cassilly, dem bezwingend artikulierenden Herodes, jene eines neurasthenischen, feisten, pervertierten, aber immer noch fürstlichen Nero; Mignon Dunn, der eindrucksvoll deklamierenden Herodias, jene des lasterhaften, ordinären, überreifen und deshalb schon faulenden Weibes; Wieslaw Ochman, dem tenoral schwärmenden Narraboth, jene des ästhetischen Hellenen, der seine Liebe und ihr Objekt poetisch umschreibt, und der pastos singenden Ursula Boese jene des treuen, schlichten Pagen.

[...]

Diese Musik zu hören, glich einem seltenen Ereignis. Nach langen Jahren stand wieder einmal Karl Böhm, am Anfang überaus herzlich begrüßt und zum Schluß wie Hauptdarsteller, Regisseur und Bühnenbildner mit Ovationen überschüttet, am Pult der Hamburgischen Staatsoper.

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Simon Neubauer


   

     Bremer Nachrichten, 6. November 1970     

   

Große Premiere mit Strauss’ Oper "Salome" in Hamburg

Triumph des Klanges

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Klangvolle Namen

Natürlich war die Aufführung wieder auch ein Festival der Stimmen. Die Prinzessin Salome als Gegensatz zu den anderen farb- und glanzprächtigen Kostümen ganz in schlichtes Weiß zu kleiden, war unnötig angesichts des jungen und weiten Soprans, den Gwyneth Jones für die Partie der Herodias-Tochter einzusetzen wußte. Da blieb zwischen koketten Capricen und hohem musikalischem Ausdruck keine gesangliche Nuance unerfüllt, und war stets ein aristokratisches Überein mit dem Spiel und der Darstellung gewahrt. Den Jochanaan sang Dietrich Fischer-Dieskau, stimmlich anscheinend unerschöpflich ergiebig und mit unberührbar hoheitsvoller Gestaltung. Prächtig Richard Cassilly als Herodes, anfangs mit schöner herrscherhafter Würde und schließlich auch stimmlich eindrucksvoll im Ausdruck menschlichen Gebrochenseins. Mignon Dunn (Herodias) und Wieslaw Ochman (Narraboth) hielten sich diskret, aber stets gegenwärtig am Rande des Geschehens.

Als der Vorhang fiel, hatte es für einen Augenblick den Anschein, als müsse sich das Publikum erst fangen zum Sichbewußtwerden eines großen Eindruckes und Erlebnisses. Aber dann setzte ein Beifall ein, der sehr lange anhielt und die Mitwirkenden immer wieder enthusiastisch feierte.

Fritz Piersig


   

     Lübecker Nachrichten, 6. November 1970     

   

Stürmischer Erfolg der "Salome"

Eine faszinierende Premiere der Hamburgischen Staatsoper mit Karl Böhm am Pult

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Der Sphäre des Naturhaft-Sinnlichen steht die dogmatische Starre des Propheten Jochanaan gegenüber, dem Dietrich Fischer-Dieskau als zweiter prominenter Gast die oratorischen Vorzüge seiner markanten Stimme verlieh. Im Gegensatz zum Gebot des Evangeliums, Vergebung und Verständnis zu predigen, erscheint dieser Verkündiger hier als ein Moralist, der sich über den Verfall der Sitten am Hofe des Herodes ereifert. Sein Fluch treibt Salome in die Entscheidung, die in ihrem Innern während des eindrucksvollen Zwischenspiels fällt. Alle diese Wandlungen vollzogen sich in Everdings überlegener Regie im Kontakt mit der farbig-leuchtenden Musik in klaren Gruppierungen. Bewundernswert, wie überzeugend sich der ideale Konzertsänger Fischer-Dieskau in gleicher Intensität und künstlerischer Ausstrahlung auf der Bühne einsetzte. Dieser Jochanaan war der ebenbürtige Widerpart der Salome.

[...]

Alle Beteiligten, auch die hier ungenannten Sänger, musizierten in Höchstform. Den verklärten Abgesang der Salome mit dem Haupt des Jochanaan gestaltete Böhm mit der blühenden, nuancierten Stimme der Jones zu einem in höchster Sensibilität verlöschenden Liebestod, der die Tochter der Herodias bereits der Welt entrückt, bevor sie auf Geheiß des Herodes von seinen Soldaten umgebracht wurde.

Langes Schweigen stand nach den harten Schluß-Akkorden im Raum, bevor der allgemeine Jubel losbrach. Begeistert feierte man alle Mitwirkenden und bedachte die namhaften Gäste mit lauten Bravo-Rufen. Als Böhm zwischen seinen Mitarbeitern auf der Bühne erschien, nahmen die Ovationen stürmische Formen an.

Dr. Gerhard Hanschke


   

     Kieler Nachrichten, 6. November 1970     

   

"Salome" mit einem Traumensemble

Hamburger Neuinszenierung erfüllte hochgespannte Erwartungen

   

Er habe das beste "Salome"-Ensemble, das er sich denken könne. Karl Böhm, der 37 Jahre die musikalische Szene der Hansestadt nicht mehr betreten hatte, sagte es sieben Stunden vor der Premiere. Pro domo gesprochen? Möglich. Aber als Böhm am Abend, vom Publikum stürmisch begrüßt, ans Dirigentenpult der Hamburgischen Staatsoper trat, begann eine festspielreife Aufführung, die alle Erwartungen erfüllte und deren Lob noch lange gesungen werden wird.

Um die Begeisterung anschaulich zu erklären, wird man bald die Schallplatte heranziehen können. Die Hamburger "Salome" ist Theater- und Plattenproduktion zugleich, ein Umstand, der bekanntlich bei Besetzungsfragen keine geringe Rolle spielt. Und so standen denn Namen wie Richard Cassilly, Mignon Dunn, Gwyneth Jones, Dietrich Fischer-Dieskau und Wieslaw Ochman obenan im Programmheft - neben Karl Böhm, neben August Everding als Regisseur und Toni Businger als Bühnen- und Kostümbildner.

[...] Vor einem durchbrochenen, in roten und violetten Tönen glühenden Rundhorizont läßt Everding die ganze Skala der Emotionen zwischen dem Nullpunkt lässiger Laszivität und der Siedehitze ins Abstruse wachsender Leidenschaft durchspielen, wobei er freilich nie so weit geht, die ohnehin exzentrischen Figuren und Geschehnisse des Strauss’schen Einakters mit mimischem Ballast zu überladen.

Wo Orchester und Gesang so vielsagend das Drama schüren, genügt der scharfe Umriß von Situation und Charakter, um die Szene lebendig zu halten. Vollendet gelingt es Gwyneth Jones, die Salome zu zeichnen, den ungeheuren Bogen zu spannen von naivem Begehren bis zur exzessiven Haßliebe im Schleiertanz. Die strahlend-schöne Stimme wächst und wächst - und erreicht am Ende eine überwältigende Intensität des Ausdrucks. Fischer-Dieskau, der immer mehr zum Heldenbariton wird, ist ein Jochanaan von strenger Unerschütterlichkeit, mit Gesten, die an mittelalterliche Darstellungen Johannes des Täufers erinnern. Das dekadente Herrscherpaar, Richard Cassilly als Herodes und Mignon Dunn als Herodias, versinnlicht morbiden Luxus. Glänzend Wieslaw Ochmans Narraboth, untadelig die kleineren Partien.

[...] Der Jubel im ausverkauften Haus entsprach dem Rang des kulinarischen Festes.

Rolf Gaska


   

     Mannheimer Morgen, 7. November 1970     

   

Salomes schicksalhafte Begegnung

Galapremiere der Richard-Strauss-Oper mit Gwyneth Jones und Karl Böhm in Hamburg

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August Everdings Regie zeigt weniger eigenwillige Züge. Er führt die Sänger meistens reichlich konventionell. Zusammen mit der gefeierten englischen Sopranistin Gwyneth Jones aber hat er für die Titelfigur eine neue Interpretation erarbeitet. Salome erscheint in weißem Gewand, den Kopf kindlich erwartungsvoll zur Seite geneigt, wie ein unberührtes Geschöpf in einer lüsternen Umwelt. In Jochanaan begegnet sie dem ersten Mann, dessen Erscheinung sie überwältigt, dem sie schicksalhaft in Liebe verfällt, den sie in Haßliebe vernichtet, weil er sie keines Blickes würdigt. Diese Deutung des Liebesdramas wirkt glaubwürdig.

Stimmlich hat die Engländerin, die mit der deutschen Sprache offenbar nicht restlos vertraut ist, anfangs etwas Mühe, zumal das Orchester mit voller Lautstärke musiziert. Auch fehlt ihrem Sopran wie dem Schleiertanz jene Sinnlichkeit, in die sich Salome schließlich hineinsteigert. Aber dann machen die voll aufblühende Stimme, die lyrische Inbrunst und die Entschiedenheit, mit der Gwyneth Jones ihre sängerischen und darstellerischen Mittel bis zum fast entrückten Schluß empfindungsreich einsetzt, ihre Salome außerordentlich sehens- und hörenswert.

Nur Dietrich Fischer-Dieskau mit seinem machtvollen, raumfüllenden Bariton und der überragenden Prophetengestalt des Jochanaan läßt die Partnerin bei seinem Auftritt für einige Zeit in die zweite Position geraten. Richard Cassilly und Mignon Dunn behaupten sich daneben in den Partien von Herodes und Herodias. Aus dem durchweg vorzüglichen Ensemble heben sich der schöne Alt von Ursula Boese (Page) und der lyrische Tenor des Polen Wieslaw Ochman (Narraboth) hervor.

Ovationen bereiteten die Hörer dem Dirigenten Karl Böhm, der seit 37 Jahren zum ersten Mal wieder in Hamburg am Opernpult stand. Anfangs hätte er das Philharmonische Staatsorchester ein wenig dämpfen dürfen. Immer aber weiß der erfahrene Strauss-Interpret die vielen Einzelzüge der Partitur meisterhaft zu differenzieren. Zu Höhepunkten werden die sinfonischen Zwischenspiele. Durch Karl Böhm erhält das Werk den gebührenden Glanz und Vielfalt. [...]

Hans Berndt


   

     Neue Osnabrücker Zeitung, 9. November 1970     

   

Luxusoper: "Salome"

Karl Böhm dirigiert Strauss in Hamburg

[...]

Die Solisten, vor allem das Potentatenpaar, sind nicht irgendwelcher Spieltypologie angepaßt, etwa der dekadenten Groteske, sondern kraftvolle, vitale Figuren, die ihre Herrschaftsform ihren perversen Gelüsten anpassen. Salome selbst bekommt schon dadurch menschlichere Züge. Gwyneth Jones soll offenbar die dritte Generation dieser 16jährigen Isolde begründen, die Baby-Salome, die Halbwüchsige. Nach der Heroinen-, der Lolita-Version nun das Kind, das Jochanaan als erotisches Spielzeug begehrt, zum Ende sich eine neue Gefühlswelt erschließt.

Und musikalisch: Gwyneth Jones mit einem Rollendebüt. Sie geht ihren Weg durch die Partitur wie auf einem gefährlichen Kletterpfad, schleust ihre immer gefährdete Dynamik durch die Rolle, um am Ende zu triumphieren. Dietrich Fischer-Dieskau hat seine Rolle mit einem kräftigen Schuß Rasputin-Charisma ausgestattet. Er singt fast häßlich, brutal. Belkantistisch schön versteht Richard Cassilly seinen Herodes.

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Jens Wendland


   

     Handelsblatt, Düsseldorf, 11. November 1970     

   

Hamburgs Opern-Gala

"Aida" und "Salome" mit Starbesetzung in der Staatsoper

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Als "Salome" debütierte die ehrgeizige englische Sopranistin Gwyneth Jones sowohl in Hamburg als auch in dieser Rolle: eine intelligente Gestalterin, die gut daran täte, ihre nicht genügend gefestigte Technik nicht wie bisher durch eine strapaziöse Karriere zu befrachten. Die Ansatztrübungen, besonders in der von permanenten Verfärbungen gekennzeichneten Mittellage, waren fast schmerzlich, und erst im Schlußgesang bewies die Sängerin, daß ihr Ruhm nicht von ungefähr kommt. Als Jochanaan stand ihr Dietrich Fischer-Dieskau leicht indisponiert gegenüber, ein Sänger, der den Propheten als religiösen Schwärmer und Eiferer interpretiert und durch seinen hohen stimmlichen Einsatz die musikalischen Schwächen dieser Partie verdeckt. Das Tetrarchen-Paar war mit Mignon Dunn und Richard Cassilly beinahe hochdramatisch besetzt, was der Regisseur August Everding [...] in seiner durch Unauffälligkeit am besten charakterisierten Inszenierung (zu der Toni Businger die Ausstattung besorgte) überzeugend nutzte. Auch die anderen Partien waren erstklassig - und zwar aus dem Hamburger Ensemble - besetzt: Wieslaw Ochman als Narraboth, Ursula Boese als Page, Kurt Moll als erster Soldat und Hans Sotin als erster Nazarener seien stellvertretend für ein Ensemble genannt, das sich unter Karl Böhm dem Ideal einer authentischen Wiedergabe näherte.

Ulrich Schreiber

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