Zum Konzert am 21. September 1970 in München

Süddeutsche Zeitung, 23. September 1970

Kühnheit und Macht Haydns

Das Juilliard-String-Quartett mit Fischer-Dieskau im Münchner Herkulessaal

[...]

Im dritten Punkt des Programms, Othmar Schoecks "Notturno für Bariton und Streichquartett" op. 47 [...]. Diese Stückreihe ist ein Liederzyklus mit Texten von Lenau (und einem wenig passend hinzugefügten Gedicht Gottfried Kellers). Daß Othmar Schoeck vor allem Liederkomponist war, ist kein Zufall. Sein Werk wird bestimmt von der spätromantisch-angleichungsfähigen Passivität der Musik.

Schoecks noble Melodien, seine kultivierte Rhythmik und Harmonik passen sich ohne Widerstände den vertonten Texten an, sie oft entfaltend und steigernd, kaum je eigentlich erhellend. Dieser 1886 geborene, 1957 gestorbene deutsch-schweizerische Spätromantiker war ein kluger und gemütvoller Leser von schönen Gedichten am stillen Herd in Winterszeit, und blieb das auch als Komponist. Es brauchte schon den besten Leser von Gedichten, den die deutsche Musik heute hat, Dietrich Fischer-Dieskau, um an diesem Abend aus Schoecks allzu demütigem Dienst an der Sprache gelegentlich einen Verdienst zu machen: die frappierenden Stellen hervorzukehren, an denen sich der Gesang zu sprachähnlichem Rezitieren reduziert, als wollte er, an sich zweifelnd, der Musik entsagen. Die trauervoll-fahle Resignation, mit der Fischer-Dieskau manches verschattete Naturbild Lenaus der jambischen Rede wiedergab, die explosiv zischende Wut, mit der er dessen Angstausbrüche aus der Schwermut in eine transmusikalische Deklamation wandte, waren von höchster Virtuosität und Disziplin.

Um Fischer-Dieskau gruppiert, der die Einfachheit, Direktheit, unmanierierte Überzeugungskraft seiner jüngeren Jahre zurückzugewinnen scheint (und ihnen alles Können seiner neueren Laufbahn hinzuzufügen hat), begnügte sich hier das Juilliard-Quartett mit der Rolle des treuen Koloristen, vorgebildete Linien zu schattieren, gegebene Umrisse auszufüllen. Daß es dies - an einem nicht ganz lohnenden Objekt - vortrefflich tat, zeugt nicht nur von seinem technischen und musikalischen Rang, sondern auch von der Tadellosigkeit seines künstlerischen Ethos. Das Publikum dankte ihm wohl auch dafür, zu Recht.

Ivan Nagel


     Münchner Merkur, 23. September 1970     

Fischer-Dieskau auf spätromantischen Seitenwegen

Der Bariton mit Othmar Schoecks "Notturno" / Das Juilliard Quartet spielt Haydn und Bartok

    

Zu Othmar Schoecks "Notturno" mußte Fischer-Dieskau, immer auf der Suche nach Wagnis und Auseinandersetzung, zwangsläufig kommen. Hier galt es, das technische Problem, Stimme und Streichquartett zu verschmelzen, hier lockte aber auch die Auseinandersetzung mit einem problematischen Dichter, Nikolaus Lenau, und dem Versuch Schoecks, ihm eine durch Musik fixierte Deutung zu geben.

Das ungewöhnliche Format Fischer-Dieskaus läßt auch dieses Werk wie durch ein Vergrößerungsglas sehen. Seine Qualitäten werden bis zur letzten Nuance aufgedeckt, aber auch das Halbgelungene, unklar Gewollte und daher nicht deutlich Erreichte kommen in der Brüchigkeit seiner zu großen Geste peinlich heraus.

Schoeck (1886 bis 1957) ist auf die in ihrer lyrischen Substanz verschiedenartigen Gedichte Lenaus pauschal hereingefallen, hängt sich mit dem ganzen Apparat des Spätromantikers an jede Schwebung. Jede Einzelheit, jeder geglückte Vers, aber auch jede Nichtigkeit werden durch seine Musik vergrößert und beschwert.

Fischer-Dieskaus Partner, das Juilliard String Quartet, komplettierte das Programm (Herkulessaal) mit zwei Streichquartetten. [...]

Helmut Schmidt-Garre


     Abendzeitung, München, 23. September 1970     

Juilliard-Quartett und Fischer-Dieskau in München

Wie Papierdrachen schwebten die Seelen

    

Juilliard-Quartett und Dietrich Fischer-Dieskau mit Werken von Haydn, Bartok und Schoeck. Herkulessaal.

Pièce de Résistance dieses instrumental-vokalen Kammermusikabends war die Münchner Erstaufführung von Othmar Schoecks Notturno für Bariton und Streichquartett. Der Liederzyklus nach Gedichten Lenaus, den ein von kosmischen Gefühlen getragenes Gedicht Kellers krönend beschließt, wirkt in unserer desorientiert vorwärtstastenden Zeit als schöner Anachronismus.

Schoecks hohe Künstlerschaft steht außer Frage. Aber er ist ein Spätromantiker und die Tragik der Spätromantik ist dadurch evident, daß sie durch Im- und Expressionismus hindurchgegangen ist, wodurch sie jene Einfachheit der Form einbüßte, die die Ausschweifung der Romantik verhinderte. Schubert oder Schumann hielten die Seelen Lenaus, Eichendorffs oder Mörikes, die über die Lande schwebten, wie Papierdrachen an der simplen Schnur eines Septimenakkords fest. Die Neoromantiker bedienen sich zu diesem Zweck eines wesentlich komplizierteren Haltesystems, wodurch das Wunder der Einfachheit verlorenging. Darin liegt die Tragik der spätromantischen Musik.

Wieder einmal konnte man Fischer-Dieskaus vielfältige Gestaltungskraft, den divinatorischen Gebrauch seiner künstlerischen Mittel bewundern. Den schwierigen instrumentalen Part meisterte das Juilliard-Quartett mit intimer Virtuosität, großer Farbigkeit und feiner Anpassung. [...]

Mingotti


     Tages-Anzeiger, Regensburg, 24. September 1970     

Schwelgerisches Spektakel

"Europäische Kammermusik" - Erster Abend in München

   

Als Mittelpunkt und umjubeltes Ereignis gestalteten Fischer-Dieskau und das ihn kongenial begleitende Juilliard-String-Quartett den ersten Abend "Europäische Kammermusik" im Herkulessaal der Münchner Residenz zu einem schwelgerischen L’art-pour-l’art-Spektakel.

Verständlich, daß sich der Melancholiker Schoeck (1886-1957) neun Lenau-Gedichte und Prosazeilen des späten Gottfried Keller zur Kompositionsvorlage erkor, weniger begreiflich, daß er diesen Zyklus in den Jahren 1931-1933 unberührt vom historischen Geschehen naiv und voller Pathetik vertonen konnte. Aber der Reger-Schüler und gebürtige Schweizer ließ auch beim Komponieren seinem Pessimismus freien Lauf: "Alles in dem Werk ist Einsamkeit, die Problematik der Liebe löst sich dahin auf, daß im Grund jeder allein ist."

Warum sich der renommierte Künstler Dietrich Fischer-Dieskau für dieses spätromantische Kleinod so engagierte, muß unerörtert bleiben. Seine Freundschaft zum Komponisten, sein enormes Können in Ehren, sein unkritisches Verhältnis zu romantischer Lyrik aber muß Widerspruch auslösen. Die Erstaufführung des "Notturno" von Othmar Schoeck zum zentralen Ereignis eines Kammermusikabends zu machen, ist ungerechtfertigt; denn das bedeutet "Kunst als Zweckmäßigkeit ohne Zweck!"

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Walter Schütte


     Oper und Konzert, München, Oktober 1970     

Juilliard String Quartett - Dietrich Fischer-Dieskau

Herkulessaal

    

Während der Festspiele holte Erika Köth Luis Spohrs Lieder für Sopran, Klarinette und Klavier aus der Vergessenheit und präsentierte sie ihrem Publikum als klanglich reizvolle Novität. Dietrich Fischer-Dieskau verließ die eingefahrenen Liederabendgleise noch viel entschiedener, als er sich mit dem renommierten Juilliardquartett zusammentat und Othmar Schoecks Notturno op. 47 für Bariton und Streichquartett aufs Programm setzte. Bessere Interpreten für das 1933 entstandene Werk hätte man wohl kaum finden können und dennoch blieb der Eindruck recht zwiespältig. Vielleicht ist unser Ohr zu sehr an die Partnerschaft von Klavier und Singstimme gewöhnt und empfindet nun das Streichquartett als zu dürftigen und unruhigen Unterbau, wahrscheinlich aber ist die zu sehr ins Einzelne gehende, jede Schwebung der gefühlsträchtigen Lenauschen Texte auskostende Vertonung Schoecks der Grund dafür, daß das Werk an sich eher zerstreut und gelangweilt hätte, wenn, ja wenn eben die ausführenden Künstler nicht so überragend gewesen wären. So fesselte ihre Kunst weit mehr als das Werk selbst. Fischer-Dieskaus vollendete Stimmbeherrschung, die Intelligenz seiner Gestaltung zu preisen, scheint überflüssig, doch die Schönheit seines Baritons, von der man meist weniger spricht als von seiner Gestaltungskraft, fiel mir wieder besonders auf.

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Helga Huber



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