Zum Konzert am 24. Juni 1970 in München


Süddeutsche Zeitung, 27./28. Juni 1970 

Gustav Mahlers Botschaft von der ewigen Liebe

Rafael Kubelik dirigiert im Deutschen Museum in München die Achte Symphonie

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Auch "nur" gut 500 Mitwirkende gaben der Aufführung das Klangvolumen der "Symphonie der Tausend". Aufgeboten waren zum verstärkten Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung Josef Schmidhuber) der Chor des Westdeutschen Rundfunks Köln (Herbert Schernus), des Norddeutschen Rundfunks Hamburg (Helmut Franz), die Regensburger Domspatzen (Christoph Lickleder) und Damen des Münchner Motettenchors (Hans Rudolf Zöbeley) - eine Singgemeinschaft von idealer Homogenität, die an Klangpracht, Intonations- und Deklamationssicherheit sowie an Klarheit der Stimmführung auch im dichtesten polyphonen Gewebe ihresgleichen sucht; einziger Einwand: Der Knabenchor hätte stärker besetzt sein, die helle Klangfarbe der Bubenstimmen sich deutlicher vom Sopran und Alt der Frauen abheben sollen. Zwei Höhepunkte von Kubeliks großartiger Chorklangregie müssen hervorgehoben werden: Der in der Tat nicht nur als Klangmasse, sondern als Klangqualität überwältigende Ausbruch des in strahlendem E-Dur aufleuchtenden "Accende lumen sensibus" und die Doppelfuge im ersten Teil, die in einem melodischen Bogen ohnegleichen hinschwebende Steigerung im Adagio des "Werde jeder bess’re Sinn dir zum Dienst erbötig" im Finale. Dazu eine Glanzleistung des von Rudolf Koeckert violinsolistisch angeführten Orchesters auf dem Fundament der Orgel von Eberhard Kraus und ein Solistenoktett, wie es nur eine Produktionsverbindung von Bayerischem Rundfunk und Deutscher Grammophon (die die Aufführung in diesen Tagen, ihren Mahler-Zyklus fortsetzend, aufnimmt) zustande bringt: Martina Arroyo, Edith Mathis (herrlich) und Erna Spoorenberg als die drei Soprane, die Altistinnen Julia Hamari und Norma Procter (leider etwas undeutlich in der Deklamation), Dietrich Fischer-Dieskau und Franz Crass als die beiden des höchsten Espressivo mächtigen Patres der tiefen Region. Besondere Auszeichnung verdient Donald Grobe, der die immens schwere Tenorpartie nicht nur im letzten Augenblick für den plötzlich erkrankten James King übernommen, sondern sie auch, abgesehen von minimalen Schwankungen in dem heiklen Septettsatz des ersten Teils, vortrefflich gesungen hat.

Der Beifall war orkanartig. Ein Werk ist in seiner Bedeutung zurechtgerückt, in seiner Eigenart erkannt worden, das unabhängig von den anderen Monumentalproduktionen seiner Zeit - Schönbergs "Gurreliedern" und Skrjabins "Poème du Feu" - geblieben ist, völlig unabhängig auch, schon im Klangbild, von Richard Strauss und kaum noch beeinflußt von Wagner, und das inmitten allen (zuweilen auch rhetorischen) Jugendstilüberschwangs seine bekennerische Entflammtheit und seine Wahrheit hinübergetragen hat in unsere Zeit.

K. H. Ruppel


   

     Münchner Merkur, 26. Juni 1970    

    

"Botschaft der Liebe in liebloser Zeit"

Rafael Kubelik dirigiert Mahlers achte Symphonie

   

Am Schluß gab es fast halbstündige Ovationen für den Dirigenten Rafael Kubelik, für fünf Chöre (des Norddeutschen, Westdeutschen, Bayerischen Rundfunks, die Regensburger Domspatzen, den Münchner Motettenchor), acht Solisten (Martina Arroyo, Erna Spoorenberg, Edith Mathis, Julia Hamari, Norma Procter, Donald Grobe, Dietrich Fischer-Dieskau, Franz Crass), die Rundfunksymphoniker - insgesamt fünfhundert Mitwirkende, die sich auf dem erweiterten Podium des Kongreßsaals und sogar im Rang (links vier Trompeten, drei Posaunen, rechts Chor) drängten.

Wie weit galt der Applaus auch Mahlers Werk? Die achte Symphonie "der Tausend", eine "Botschaft der Liebe in liebloser Zeit", wie er sie nannte, 1910 unter seiner Leitung in München uraufgeführt, offenbart nämlich mehr als anderes seine Schwächen.

Beispiel: wenn er im zweiten Teil, der Schlußszene aus Goethes "Faust", den Text mit vier Harfen plus immensem Streicheraufwand serviert, hemmungslos gefühlig, als seien die Verse ein fatal gesüßtes Tränentraktat. Das wirkt naiv, theatralisch, ergreift nicht.

Kubelik kennt natürlich die fragwürdigen Stellen dieser Musik. Er vermied also jede Bombastik, bemühte sich um einen lichten, nicht baßlastigen Orchesterklang, stellte dem sentimentalischen Gefühlsüberschwang musikantische Herzlichkeit gegenüber.

Dank ihm ein großer Abend. Von den Solisten seien Martina Arroyo und Dieskau, dem ein herrliches "Ewiger Wonnebrand" gelang, hervorgehoben. Dennoch wurde man nicht selten an Aaron Copland erinnert, der einmal sagte: "Der Unterschied zwischen Mahler und Beethoven gleicht dem Unterschied zwischen Männern, von denen der eine tatsächlich ein großer Mann ist, der andere als bedeutender Darsteller die Rolle eines großen Mannes spielt." Aber auch: "Leute die Mahler ablehnen, sind keine Freunde des Theaterspielens."

Volker Boser


   

     Abendzeitung, München, 26. Juni 1970     

   

Sonderkonzert des Rundunk-Symphonie-Orchesters

Funkelnde Pracht

    

Sonderkonzert des Rundfunk-Symphonie-Orchesters mit Mahlers 8. Symphonie unter der Leitung von Rafael Kubelik mit den Solisten Martina Arroyo, Erna Spoorenberg, Edith Mathis (Sopran), Norma Procter, Julia Hamari (Alt), Donald Grobe (Tenor), Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) und Franz Crass (Baß). Kongreßsaal.

München hat ein besonderes Anrecht auf Mahlers "Achte", weil sie hier vor 60 Jahren das Licht des Konzertsaals erblickte. Tausenddreißig Mitwirkende, einschließlich Mahler, der sein Werk dirigierte, beteiligten sich dabei und darum führt sie seither auch den stolzen Namen "Symphonie der Tausend".

Unmittelbar vor der Aufführung und Aufnahme - Kubelik schließt damit seinen Mahler-Zyklus auf Schallplatten ab - traf James King eine Indisposition, und er sagte ab. Die halbe Erde wurde nach einem studierten Mahler-Tenor abgesucht, den man schließlich in Donald Grobe fand. Einen dringend benötigten feurigen Engel wollte die Oper in Frankfurt nicht herausrücken. Gefallene Engel hätte man von dort waggonweise bekommen, aber dafür hatte Mahler nichts komponiert.

Der Eindruck der Aufführung unter Kubelik, der ein bedingungsloses Glaubensbekenntnis für Mahler abgelegt hat, war großartig. Was noch vor zwanzig, dreißig Jahren mit Anstrengung bewältigt klang, wird heute überlegen und darum auch klanglich gelöst gebracht.

Das Werk selbst, eine Verkündung neuer Musik durch den heiligen Geist des Pfingsthymnus an das ewig Weibliche im Faust II, ist eine grandios mißlungene Symphonie und eine tragisch gelungene Kantate. In ihr sucht Mahler das Land Franz Josephs mit der Seele, er huldigt dem schöpferischen Geist und der Liebe, dem Sein und einem romantisch empfundenen Tod mit einem Übermaß an sezessionistischer Pracht. Ein großer Künstler und ein leidender Mensch war hier am Werk.

Die Vokalsolisten sangen herrlich. Sie alle im einzelnen anzuführen ist räumlich unmöglich, nur Fischer-Dieskaus immense Intensität und die schwarze Fülle des Gesanges von Franz Crass seien neben den herrlichen Sopran- und Altsolistinnen und dem verdienstvollen Einspringer Donald Grobe gerühmt. Die Chöre des Bayerischen Rundfunks, des NDR, des WDR, des Münchner Motettenchors und der Knaben des Regensburger Domchors, klangen seraphisch, das Orchester mit den blühenden Soli Rudolf Koeckerts funkelte in Farbenpracht. Ovationen für Kubelik.

Mingotti


    

     Oper und Konzert, München, Juni 1970     

    

Sonderkonzert des Bayerischen Rundfunks

Deutsches Museum

    

Mahlers 8. Symphonie ist ebenso wenig oder ebensogut ein Oratorium oder eine Kantate wie eine Symphonie; sie ist ein Unikum, um nicht zu sagen ein Monstrum, wenn auch in dieser Aufführung nur etwa halb so viele Mitwirkende beteiligt waren wie die 1030 der Uraufführung unter dem Komponisten vor 60 Jahren in München. Ungeheuerlich ist auch Mahlers Vorhaben, zwei der größten Texte überhaupt, den alten Kirchenhymnus, "Veni creator spiritus" und die Schlußszene aus Goethes Faust, zu verbinden. In einem gescheiten Aufsatz des Programmheftes wird das Werk "ein Monument des Mißlingens" genannt.

[...]

Für die Aufführung war ein auch qualitativ imponierender Apparat aufgeboten: der Mahlerspezialist Rafael Kubelik dirigierte das Rundfunksymphonieorchester, die Chöre des Norddeutschen, des Westdeutschen und des Bayerischen Rundfunks, die Regensburger Domspatzen, die Damen des ausgezeichneten Münchner Motettenchores und eine Schar prominenter Solisten. Der musikalisch wenig ansprechende erste Teil (Veni creator spiritus) wurde vor allem dynamisch wenig differenziert und fast durchweg überlaut dargeboten, die Oberstimmen der Chöre, vor allem die Tenöre, forcierten und opferten damit Fülle und Schönheit ebenso wie die meisten Solisten. Der zweite Teil ist wesentlich reizvoller und abwechslungsreicher, und da Kubelik keine modische Scheu hatte, das vom Geist der Jahrhundertwende geprägte und heute in jeder Weise übertrieben wirkende Werk voll auszukosten, bot er den Ausführenden reichlich Gelegenheit, zu zeigen, was sie können, und auch, was sie nicht können.

Von den Solisten muß an erster Stelle Dietrich Fischer-Dieskau genannt werden, der den "Ewigen Wonnebrand" mit einer Stimmpracht und Fülle ohnegleichen und mit allem Gefühl und Pathos der Komposition einfach vollkommen sang, während sein Baßkollege Franz Crass zwar herrliche Kantilenen sang, aber Dramatik und Überschwang schuldig blieb. Martina Arroyo triumphierte über Orchester- und Chormassierungen mit voluminösem, leuchtenden Sopran, der allerdings in der Höhe stark flackerte, gelegentlich auch schrill oder brüchig wurde. Immerhin war sie die beste der drei Sopranistinnen. Erna Spoorenbergs nicht sehr edle Stimme war besonders in der ihr ständig zugemuteten extremen Höhe keine Freude, und Edith Mathis’ schöner, zarter Sopran war dem riesigen, überfüllten Museumssaal und dem gewaltigen Apparat nicht gewachsen. Die zierliche Julia Hamari ließ einen großen, pastosen Alt hören, ihre Art zu singen, die im Mozartrequiem störte, war hier am Platz. Die zweite Altistin, Norma Procter, enttäuschte dagegen arg. Donald Grobe war für den erkrankten James King eingesprungen und sang die Partie sicher, sein schlanker Tenor war stets zu hören, klang aber arg dünn und angestrengt. Unter den durchaus guten Chören fielen die sicheren, klaren Stimmen der Regensburger Domspatzen besonders angenehm auf.

Hans Huber

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